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Normandie

Die Normandie ist mehr als nur die Region, aus der der Camembert stammt. Hoch im Norden Frankreichs sind die berühmtesten Städte Rouen, Caen, Cherbourg, Le Havre und Granville. Doch nur sie als stellvertretend anzugeben, würde der Normandie nicht gerecht werden. Die Region wurde in den 1960er Jahren unfreiwillig durch Brigitte Bardot neuerlich ins Bewusstsein der Menschen getragen, als sie den Schauspieler Curd Jürgens als normannischen Schrank bezeichnete.
Das häufigste im Stichwortverzeichnis geführte Wort ist Château. Das verwundert es nicht, dass vom Märchenschloss bis hin zum verzaubernden Schlosspark in der Normandie alles vorhanden ist.
Ein unbestrittenes Highlight ist der Sonnenauf- und untergang am Mont St. Michel im äußersten Westen der Normandie. Auf einem Felsen, nur wenige Meter vor der Küste, erhebt sich eine Abtei, deren Grundsteinlegung vor über tausend Jahren war. Wer einmal den Aufstieg gewagt hat, ist nicht nur wegen der Strapazen außer Atem, sondern wegen der grandiosen Aussicht geplättet.
Ein Besuch einer der zahlreichen Calvados-Destillerien in und um Caen wird schnell zu einer weiteren sportlichen Angelegenheit. Denn der Apfelschnaps hat es in sich. Ebenso die Strände. Und das nicht nru wegen der jüngeren Geschichte. Gepanzerte Bunkeranlagen wurden jedoch von Mutter Natur teilweise zurückerobert, so dass das hässliche Grau dem friedlichen Grün gehorsam gewichen ist.
Wer sich auf das Abenteuer Normandie einlässt und diesen Reiseführer immer fest in der Hand und sich vor Augen hält, wird eine Region erfahren, die voller Überraschungen steckt. Ausgedehnte Autofahrten, vorbei durch weithin blühende Felder, schroffe Felslandschaften, Jahrhunderte alte Bauten, die vom einstigen Ruhm ihrer Bewohner künden und eine abwechslungsreiche, immer sich immer wieder neuentdeckende Küche machen eine Reise durch den Norden Frankreichs zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Ralf Nestmeyer hat 14 Wanderungen und Touren zusammengestellt, die jede auf ihre eigene Art die Normandie erkunden lassen. Die übersichtlichen Karten und Pläne rauben die Angst vor Verirrungen. Durch die dargelegten Hintergründe fühlt man sich hier schnell heimisch.

Geschichte und Geschichten auf allen Wegen. Lukullische Eroberungen – schon mal Camembert probiert? Ja? Schon mal in Camembert gewesen? Nicht viel größer als der Käse selbst, doch das original am Originalschauplatz zu probieren, ist eine ganz andere Welt, die es zu entdecken lohnt.

Madame Roland

Schon beim ersten Durchlesen der biographischen Daten am Ende des Buches – man sollte ja niemals eine Buch am Ende beginnen, in diesem Fall ist es aber sogar ratsam – erkennt man, dass Erziehung und frühes Erkennen von Begabungen mehr Einfluss auf das Werden haben als es so manche Experten vermitteln können. Jeanne-Marie Phlipon wird im Frühjahr 1754 als Tochter eines Graveurs in Paris geboren. Schon früh las sie und lernte das Gravurhandwerk. Im Internat nahm sie ein Adeliger unter seine Fittiche und förderte sie, in dem er ihr Bildung angedeihen ließ. Und das war gut so – man stelle sich vor in einem Lebenslauf von heute würde man so seinen Lebensbeginn beschreiben… unmöglich. Kein Personalchef der (westlichen) Welt würde auf so eine Formulierung positiv reagieren. Aber wir sind ja mitten im 18. Jahrhundert in Frankreich. Schon bald wird das Adelsreich bröckeln und eine weltumspannende Revolution das Land und den Kontinent erschüttern.

Jeanne-Marie Roland, so wir sie später einmal heißen, ist sicher nicht die prägendste Gestalt dieser Zeit. Und schon gar nicht stand sie auf den Barrikaden, noch weniger halb entblößt und mit wehender Fahne. Dennoch ist ihr Leben mindestens genauso spannend wie das derer, die noch heute in aller Munde sind. Von ihr stammt beispielsweise die erste Autobiographie aus der Feder einer Frau. Warum also noch ein Buch über diese Person? Man könnte die Autobiographie ja einfach lesen und fertig… Oh contraire mon frère, möchte man voller Ungeduld dem Frevler entgegenschmettern. Ganz im Gegenteil!

Zum Einen ist da die Autorin, Christiane Landgrebe, die schon mit ihren Biographien über Diderot und Germaine des Staël die Strahlkraft der einflussreichen (und fast vergessenen) Namen der Geschichte wieder aufpolierte. Zum Anderen ist es die unverbrüchliche Neugier des Lesers wahre Geschichte(n) aus erster Hand erlesen zu können. Christiane Landgrebe rückt die Zeilen aus Briefen und Überlieferungen ins rechte Licht.

Heutzutage wäre Madame Roland, wie man sie noch heute ehrfurchtsvoll nennt, eine mittelschwer erfolgreiche Influencerin. Sie bewegte sich in Kreisen, die den meisten schwer bis gar nicht zugänglich waren. Jeder Schnappschuss mit dem Adel würde heutzutage sicherlich ein paar Tausend Likes einbringen. Und ein paar revolutionäre Hashtags würde die die gebildete Frau (was heutzutage in manchen Ohren immer noch befremdlich klingen mag) auch zum Nach- und Umdenken beisteuern können. So vergessen Madame Roland heute erscheinen mag, umso erstaunlicher ist wie modern ihre Ansichten für eine Gesellschaft heute noch wirken. Geschichte ist immer schon vorbei. Die Gegenwart mit dem Wissen um die Geschichte gestalten ist deswegen bedeutsamer als man sich eingestehen möchte. Und dieses Buch ist in gewisser Art ein Baustein, um Wissen von damals mit dem Können von heute auf ein solides Fundament stellen zu können.

Doppelleben

Der Klappentext eines Buches soll Appetit auf das Buch. Man liest worum es geht, wer mit wem, und warum. Und man erfährt etwas über den Autor. Des Öfteren liest man dann auch welche Preise er gewonnen hat. Welchen rang diese Preise haben, bleibt oft verborgen. Natürlich sind es alle renommierte Preise. Den Prix Goncourt allerdings sollte man nicht sofort wieder aus dem Gedächtnis streichen. Wer den in Frankreich erhält, der darf sich tatsächlich was darauf einbilden. Hier nun die Geschichte, die hinter den Namensgebern steckt:

Es sind die Brüder Jules und Edmond Goncourt. Mitte des 19. Jahrhunderts residieren sie in einem durchaus vorzeigbaren Haus vor den Toren von Paris. Sie sind regelmäßig Gast im Salon der Cousine des Kaisers. Zola, Balzac und andere Größen zählen zu ihrem engen Bekanntenkreis. Die Literatur ist für beide mehr als nur ein Steckenpferd. Für Edmond, den Älteren der beiden, ist es die ewige Suche nach dem perfekten Wort. Jules ist nicht minder interessiert, jedoch ist er der weitaus Lebensfreudigere der beiden Brüder. Er treibt Sport und es mit so mancherlei Dirne. Edmond verabscheut Sport, jedoch nicht die Gesellschaft illustrer Damen. Fast könnte man meinen, sie wären Zwillinge. Doch sie trennen mehr als acht Jahre.

Bei einer seiner Amouren (nennen wir es einmal so, in Wahrheit war es doch eher ein Geschäft auf Dienstleistungsbasis) hat sich Jules ein dauerhaftes Souvenir eingehandelt. Nach und nach bemerkt er wie das Hantelstemmen ihm Mühe bereitet. Edmond bemerkt es auch, doch ihm ist ja Sport nicht so wichtig.

Das allabendliche Mahl dient beiden zum Austausch über ihr Leben, sie scherzen, lästern, machen Pläne. Und sie plaudern über ihr Dienstmädchen. Über sie werden sie einen Roman schreiben. Obwohl sie kaum etwas wissen über ihr geheimes Leben … was nebenbei gesagt, fast noch spannender ist als das ihre.

Als Jules immer schwächer wird, schreibt Edmond jedes noch so kleine Detail in ihr gemeinsames Tagebuch. So ist bis heute jedes noch so kleine Vorkommnis für die Nachwelt erhalten. Für Alain Claude Sulzer ist es die Fundgrube gewesne, die ihn antrieb einen Roman über die Bruder zu schreiben, deren Name den größten Literaturpreis Frankreich ziert. So ausschweifend das Leben des Bruderpaares war, so detailliert schildert er ihr gemeinsames Leben in der selbst geschaffenen Blase ihres Gemäuers. Die Blase platzt aber nicht. Dafür haben die beiden Junggesellen gesorgt. Als Chronisten ihrer Zeit sind sie unantastbar. Als Schriftsteller sind sie zu höherem berufen…

Bruno chef de cuisine

Kochlöffel im Anschlag, die Kelle griffbereit, die Geschmacksnerven geschärft, bereit zum Abfeuern der lukullischen Aromabombe. Dieses Kurzgeschichten mit dem gewieften, empathischen Dorfpolizisten Benoît Courrèges, kurz Bruno, sind gehaltvoller als so manches Viel-Gänge-Menü.

Als Bruno-Kenner weiß man um die Leidenschaft des Ermittlers um die Gaumenfreuden. Wenn er einlädt, kommt ganz Saint-Denis. Und wenn alle gesellig in der Runde sitzen – und nicht gerade mal wieder ein Mord die Stimmung in Stücke reißt – gibt es nur ein Thema: Kochen. Bruno kocht gern, und oft, und exzellent. Nicht wenige Leser seiner Abenteuer mussten schon das Buch absetzen, um einmal kräftig zu schlucken. Und sich zu schwören bald schon das eine oder andere Rezept nachzukochen. Dafür gibt es auch die Kochbücher…

Hier kommen nun Kurzgeschichten auf den Tisch, die teils schon in Anthologien erschienen sind, der Großteil aber eigens für diesen Band geschrieben wurden. Martin Walker lässt Bruno in ganz besonderen Fällen wie dem Schokoladenkrieg ermitteln. Klingt dramatischer als es ist. Und am Ende werden nicht Wunden geleckt, sondern Kaffee mit Schokolade getrunken.

Dem Geheimnis von Chabrol – gemeint ist nicht der legendäre Regisseur Claude Chabrol – kommt man gemeinsam fast auf die Spur. Jeder der Freunde Brunos, von denen Bruno unzählige hat, kennt eine eigene Version dieses Brauches, der im Périgord immer noch verbreitet ist. Es geht um gutes Essen, einen hervorragenden Roten dazu und die richtigen Zutaten für eine gehaltvolle Suppe, die jeden Arzt überflüssig machen lässt. Doch welche Legende nun vollends der Wahrheit entspricht – es wird wohl der einzige ungelöste Fall in Brunos Karriere bleiben!

Martin Walker muss sich dieses Mal zusammenreißen. Wo sonst ausufernde Beziehungen zahlreiche Menschen in Verbindung bringen, um einen Fall zu kreieren (und zu lösen!), sitzt er im goldenen Käfig der Kurzgeschichten. Nur wenige Seiten Platz, um herumzustreifen und Bruno einen kniffligen Fall nach dem anderen vorzulegen. Doch Bruno wäre nicht Bruno und Martin Walker wäre nicht Martin Walker, wenn diese Herausforderung nicht zu meistern wäre. Eine gelungene Zwischenmahlzeit um die Zeit bis zum nächsten „großen“ Abenteuer mit Bruno chef de police gebührend zu überbrücken.

Hier und anderswo

Man spürt es ab der ersten Seite, ach was, aber der ersten Zeile: Thomas Michael Glaw reist gern. Und oft. Und er kann viel erzählen. Nicht über das, was man sehen muss, was jedem früher oder später vor die Augen kommt, sondern über das, was man suchen muss und finden kann. Und vor allem über das, was zu beachten ist. Reiseimpressionen mit Lerneffekt. Doch so statisch sollte man dieses kleine Büchlein nicht angehen. Es ist eine Art Hilfestellung für Reisenovizen wie alte Hasen, die über diejenigen lachen, die Catania in Spanien oder Griechenland verorten (die gibt es wirklich! Und das nicht zu knapp!).

Hier sind sie also die gesammelten Impressionen (Auszüge davon) eines Reiselebens. Von München nach Wien im Flieger? Niemals. Im Zug reist man entspannter, und auch nicht viel länger, wenn man die Eincheckzeiten und die Fahrten zum und vom Flughafen einberechnet. Und mit der ÖBB sogar pünktlich, freundlicher … einfach entspannter. Reisen als Sinnesrausch im positiven Sinn. Denn auch eine Zugverspätung kann eine Reise in einen Rausch verwandeln – Stichwort Blutrausch.

Wiens erster Bezirk hat für ihn den Rausch der Vergangenheit gegen die Tristesse des Übers eingetauscht. Übervolle Straßen, übermäßig viele Verkäufer, die überteuerte Tickets verkaufen, überall nur Touristen, die überhaupt kein echtes Wien mehr ans Tageslicht kommen lassen. Dennoch sind Wien und seine Cafés immer noch berauschend. Es sind halt nur andere Cafés, wo man sich zur morgendlichen Stunde Gazetten und Braunen einverleiben mögen möchte.

Südspanien im Winter ist ein feuchtes Vergnügen. Manchmal auch ein feuchtfröhliches, wenn man der Sprache nicht mächtig ist und aus Versehen etwas bestellt, was einen übermäßig beansprucht.

Roma als Amor zu verstehen, fällt leicht, wenn man die Ewige Stadt einmal besucht hat. Oder mehrmals. Die Stadt für sich allein hat man niemals. Es sei denn, man besucht einen Friedhof. Doch auch da ist Achtsamkeit angeraten. Furbo und Pignolo können einem manchmal ordentlich auf die Nerven gehen oder gar die letzten Reste davon rauben. Der Eine mogelt sich durch (und kommt damit auch immer durch), der Andere ist ein Pedant, den man so in Italien gar nicht vermutet. Eine köstliche Charakterstudie des Autors.

„Hier und anderswo“ ist ein kurzweiliges Lesevergnügen für alle, die Bestätigung suchen und/oder vor der Entscheidung stehen in alle Himmelsrichtungen zu flüchten. Knigge-Fallen lauern überall (da ist es wieder, dieses „über“), nicht hineinzutappen, ist die Kunst. In diesem Büchlein die Fallen zu erkennen, sie umschiffen zu können, ist keine Kunst, es ist fast schon eine Pflicht.

Die Erfindung des Lächelns

Das war schon ein Ding, damals 1911, da hing die Mona Lisa einfach nicht mehr da, wo sie nach Meinung aller zu hängen hat. Im Louvre in Paris. Sie war gut versteckt, aber eigentlich greifbar. Vincenzo Peruggia, Glaser, der kurz zuvor die Scheibe, die das wertvollste Gemälde der Welt schützen soll, ausgetauscht hatte. Er kannte sich bestens aus. Drei Jahre später hat man ihn gefasst, das Gemälde zurückgebracht und alle waren zufrieden. Eine Legende war geboren. Doch warum Peruggia da Vincis Werk klaute, ist bis heute ein Rätsel. So ist die Geschichte. Ist hinlänglich bekannt. Kann man in mehr oder weniger langen Versionen nachlesen.

„Die Erfindung des Lächelns“ ist der historische Roman zu dieser Geschichte. Tom Hillenbrand ist der Autor, und er vermeidet es kunstvoll dieser dramatischen Geschichte sinnfreie Fakten oder gedankenlose Spinnereien hinzuzufügen.

Juhel Lenoir ist der Ermittler in diesem Fall. Er bekommt Druck von allen Seiten. Das berühmteste Gemälde der Welt – einfach gestohlen. Da erwartet jeder(!) schnelle Resultate. Doch wie soll das gehen? Einfach mal bei Picasso nachfragen, „na, was gesehen oder gehört?“. Das kann man doch nicht machen! Warum eigentlich nicht?! Auch Guillaume Apollinaire, der Dichterfürst ist mehr als nur verdächtig. Die Verbindungen zu einem ähnlichen Vorfall ein paar Jahre zuvor sind nun einmal da.

Mit wunderbar leichter Feder streift Hillenbrand die Vorhänge des Vergessenen zurück und führt den Leser auf die Weltbühne der Kunst vor reichlich einhundert Jahren. Isadora Duncan, die berühmteste Tänzerin ihrer Zeit und ihres reichlich durchgeknallten Gurus Aleister Crowley, bis heute gleichermaßen vergötterter wie verteufelter Satanist, treten ebenso auf wie die Herren, die die musikalische Untermalung aus dem manschettierten Handgelenk schütteln, Claude Debussy und Igor Strawinsky.

Die Haute Volée der Pariser Kunstszene versammelt sich in diesem Buch und prahlt leuchtend mit ihrer Reputation. Dass es nicht in Kitsch abgleitet und als belanglose „Noch so’n Buch über ein fast vergessenes Ereignis“-Persiflage auf dem Ramschtisch landet, dafür sorgt allein schon das Fachwissen des Autors. Penibel hat er sich in den Fall und vor allem in die Zeit eingearbeitet. Kleinste Details werden hier nicht aufgeplustert, sondern behalten ihren Status bei.

Ein Kriminalroman, der so echt ist wie das Lächeln der Mona Lisa. Hintergründig und fundiert. Immer wieder setzt man das Buch ab und lässt die Gedanken schweifen. Und sei es nur, um sich die Szenerie, die Straßencafés, die Ateliers vor Augen zu führen. Tom Hillenbrand ist ein Verführer, der die Romantik des Verbrechens – dieses Verbrechens – als Druckmittel zum Weiterlesen einsetzt.

 

Baise moi – Fick mich

Zwei junge Frauen. Der Verzweiflung schon lange nicht mehr nah – dafür haben sie beide schon zu viel in ihrem jungen Leben erlebt. Sie wissen ganz genau, dass man nicht um Hilfe rufen braucht, wenn man selbige braucht. Es kommt eh keiner zu Hilfe. Alk und Dope sind ihre einzigen Freunde, die sie vergessen lassen, was ist. Ach ja, sie haben beide getötet. Unabhängig voneinander. Die Gründe sind unterschiedlich. Die Folgen sind die gleichen: Flucht. Das Schicksal, das verdammte Schicksal, hat sie zu Weggefährtinnen gemacht. Und nun? Wäre der Roman heute geschrieben worden, wäre ihre Allianz von gegenseitiger Heilung bestimmt. Doch „Baise moi“ – der Titel hat so gar nichts von sozialarbeiterischer Seelenversorgung an sich, übersetzt heißt es „Fick mich“ – ist ein knappes Vierteljahrhundert alt und noch immer jung und ergreifend wie Ende der 90er.

Nadine und Manu sind nun also Bonnie und Clyde, Thelma und Louise, ach all die ganzen verzweifelten Paare der Geschichte, die ihr Ende einte. Doch Nadine und Manu sind mit einer schonungslosen Chuzpe ausgestattet, die es eigentlich verbietet verfilmt, veröffentlicht zu werden. Klingt drastisch, aber man stelle sich vor, dass jemand vorhat dieses Buch heutzutage noch einmal originalgetreu zu verfilmen… unmöglich. Die moralisierte Moderne hinkt sich selbst um mehr als zwanzig Jahre hinterher. Der Film, von der Autorin selbst auf die Leinwand gebracht, durfte nur in Pornokinos gezeigt werden. Höchste Jugendschutzeinstufung!

Da sind sie nun – die Täterinnen. Abenteuergierig, lebenshungrig, perspektivlos. Sie haben nur eine Wahl: Rache nehmen. An all dem, was sie zu dem werden ließ, was sie sind. Für die einen Monster, marodierende Gören, die nicht arbeiten wollen, und nur Zerstörung im Kopf haben. Für die Anderen Opfer der Gesellschaft, denen man helfen muss, weil es noch nicht zu spät ist.

Über dieser Diskrepanz schwebt der Vorwurf des Tötungsdeliktes. Die Gründe, die Hintergründe gilt es an anderer Stelle aufzuklären. All das interessiert Nadine und Manu nicht im Geringsten. Sie sind bereit ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dass sie auf ihrem Weg Spuren hinterlassen, die Blinde nicht übersehen können, ist ihnen teils bewusst. Es interessiert sie aber nicht! Auch eine Form von Emanzipation!

„Baise Moi“ wird sicher niemals Schullektüre werden. Die expliziten Szenen von Gewalt (jeglicher Gewalt!) sind nichts für zarte Gemüter. Den Film haben sicher mehr Menschen gesehen als es eine Statistik vermag wiederzugeben. Das Buch sollten diejenigen, die den Film gesehen haben, auch unbedingt lesen. Denn es geht hier nicht um detaillierte Darstellung von Sexualität in ihrer ungeschminktesten Form (obwohl das garantiert dazu beitrug den Film so populär zu machen), es geht darum zu zeigen was Menschen in perfiden Situationen zu machen imstande sind. Die Schonungslose Sprache von Virginie Despentes ist anfangs erschreckend. Aber keines der „verbotenen“ Wörter ist eines zu viel. Nur so funktioniert dieses Buch!

Schnell leben

Ein Unfall ist unvorhersehbar und nur unter Berücksichtigung aller Eventualitäten zu vermeiden. Alle Eventualitäten? Berücksichtigen? Wie soll das denn gehen? Und schon sind wir beim Kern des Buches. Brigitte Giraud verliert ihren Mann Claude durch einen Verkehrsunfall. Just an dem Tag, an dem die beiden ihren Altersitz in Besitz nehmen wollten. Ihr Traumhaus. Tage später zieht sie ein. Mit den Kindern. Zwanzig Jahre später sind noch immer nicht alle Fragen geklärt. Doch Fragen helfen ihr nicht weiter, auch nicht nach so langer Zeit. Der Konjunktiv, Nebensatzeinführungen – WENN – sind ihr Mittel Frau der Lage zu werden. Und schon sind wir wieder bei ALLEN EVENTUALTITÄTEN. Die kann man beim besten Willen nicht ausschließen! Das beweist Brigitte Giraud mit „schnell leben“.

Jedes Kapitel beginnt mit einer These. Wenn dies nicht eingetreten wäre, dann wäre der Unfall nicht passiert. Und relativ schnell kommt der Verzweiflung der Autorin auf die Spur. Denn diese Eventualitäten sind so vielschichtig, dass man immer schneller und vor allem lauter durchschnaufen muss. Denn die oberflächlich betrachteten Thesen ergeben erst in Summe ein klares Bild. Das beginnt bei der Songauswahl, die Claude sich zusammenstellte und hört bei der Wahl des Fahrzeugs, eine Höllenmaschine aus Fernost, die im Erzeugerland keine Straßenzulassung erhalten hatte (und in Europa nur modifiziert auf den Markt kam) noch lange nicht auf.

Brigitte Giraud zerbricht sich den Kopf, was alles hätte nicht eintreten dürfen, damit das Traumhaus zu einem echten Traumleben dazugehören muss. Es sind Gedankenspiele, die letztendlich mehr Fragen beantworten als man sich stellen darf. Und was passiert, wenn diese Fragen alle gestellt sind? Alle Antworten gegeben sind? Zufriedenheit ist sicher das falsche Wort. Beruhigung geben die Zeilen, die die Thesen stützen allemal. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Schicksal wie die Bank im Casino immer gewinnen wird. Fest steht, dass keine Seite, keine Zeile, kein Wort den Schmerz im Geringsten umkehren kann. Aber lose Gedanken in strukturierte Sätze zu formen, kann ein Beginn sein, um mit der Vergangenheit, dem Schicksal einen Deal zu machen. Einen Deal, bei dem es keine Verlierer gibt.

Ein Gewinner steht schon mal fest: Die Autorin selbst. Sie gewann für „schnell leben“ den Prix Congourt“, den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs. Und mit ihr freuen sich die zahllosen Leser, die in „schnell leben“ vielleicht sogar einen Weg finden Ähnliches verarbeiten zu können.

Jean

Teil Zwei der Trilogie von Frédéric Brun über seine Eltern. Und wer „Perla“ (seine Mutter) gelesen hat und nun den gleichen Tenor erwartet, wird überrascht sein. Denn Perla hat Auschwitz überlebt „dank“ Adolf Mengele ohne ihm auch nur den Hauch von Dankbarkeit schuldig zu sein. Vater Jean sind viele dankbar, und das zurecht und ein Leben lang. Jean Dréjac ist jedem Freund des französischen Chansons ein Begriff. Er ist eine Legende! Er sang, schauspielerte, und textete für alle, die den Chanson zu dem machten, was er war, ist und sein wird. Mit Edith Piaf war er eine Zeit lang liiert. Gilbert Becaud überschlug sich vor Freude über die Ehrung seines Freundes Dréjac. Georges Brassens, Mireille Matthieu, Dalida waren mehr als nur dankbare Abnehmer seiner Kunst.

In Athen erfährt Frédéric Brun vom Tod seines Vaters. Verzweifelt versucht er einen Platz im nächsten Flieger nach Frankreich zu bekommen. Im Fernsehen muss er tatenlos zusehen, wie seelenlose Nachrichten vom Tode des großen Chansoniers verlesen werden.

Er kann es besser! Er hat Fragmente einer Autobiographie. Und er vollendet, was dem Vater nicht gelungen ist. „Jean“ ist eine Liebeserklärung an den berühmten Vater. Normalerweise enden solche Sätze mit „.., der so selten für ihn da war“. Doch diese Familie ist nicht normal. Und das im positiven Sinne! Der Erfolg als Sänger und Texter führten Jean Dréjac (ein Pseudonym aus den drei Vornamen) rund um die Welt. Oft auch hinter den eisernen Vorhang, lange bevor die Rostflecken rissig wurden.

Vater Jean war immer da. Und der Sohnemann auch. Bei Tennisturnieren, bei Konzerten, bei Auftritten, bei Tourneen. Der vermeintlich golden Löffel im Mund war niemals mehr als ein Türöffner. Die Familie war sich ihrer Sonderstellung bewusst. Diese auszunutzen, lag allen mehr als fern. Deswegen ist diese Biographie über den berühmten Vater so umfassend liebens- und lesenswert, dass es keine Ausreden gibt.

Wer „Perla“ liebte, wird „Jean“ verschlingen. Und sich tierisch auf den dritten Teil freuen.

Balkon mit Aussicht

Muss man noch von Paris schwärmen? JA!!! Immer wieder und wieder. Es gibt unzählige Bücher, in denen die Liebe zur Stadt der Liebe eindrucksvoll zu Papier gebracht wurde. Und jetzt kommt noch eines hinzu. Jedoch keine gewöhnliche Lobhudelei mit den „besten Tipps“ für dies und das. Sondern eine Liebeserklärung an eine Stadt, in der die Autorin nicht nur viele Jahre lebte, sondern eine Stadt, die sie aufgesogen hat und die sie aufgezogen hat.

Für Brigitte Schubert-Oustry war Paris ein halbes Jahrhundert nicht nur Obdach, es war ihr Leben. Sie ist deswegen und wegen ihrer unnachahmlich berührenden Sprache die ideale Reisebegleiterin durch die Stadt an der Seine. Als Neuling sollte man dieses Buch als Zweit-, Parallel- oder Zusatzlektüre im Gepäck haben. Denn Brigitte Schubert-Oustry ist keine typische Zeigetante, die nach Links und Rechts verweist, um der hinterher trabenden Masse so viel wie möglich zu zeigen, sie steigt mit dem Leser ins Herz der Stadt.

So nachdrücklich die meisten Urlaubserinnerungen sind, so austauschbar sind sie in den meisten Fällen. Da die Autorin hier in Paris jedoch nicht ihren Urlaub verbrachte, sondern hier wirklich lebte, hinkt der Vergleich mit den meisten Reiseimpressionen. Eine echte Madame Concierge erlebt man nicht als Touri, der mit der Kamera um den Hals baumelnd dem nächsten einzigartigen Motiv hinterherjagt, und dabei die wahre Schönheit der Stadt übersieht. Das sind die wahren Originale. Und sie sind eine aussterbende Spezies. Concierge sein bedeutet alles (!) zu wissen, jeden zu kennen… und zwar bis ins kleinste Detail. Ohne dabei natürlich mit dem Wissen hausieren zu gehen oder die entsprechende Person damit zu behelligen. An ihr, an ihm kommt niemand vorbei. Sie sind die gute Seele, aber auch der schärfste Wachhund der Stadt. Und Brigitte Schubert-Oustry erzählt ausgiebig von ihren Begegnungen mit diesem Menschenschlag.

Genau wie vom immer seltener werdenden Hausfest. Das ist eigentlich keine Pariser Erfindung oder gar ein wiederkehrendes Fest. Findet es allerdings einmal statt, und man ist eingeladen (als Touri fast unmöglich) dann erlebt man Paris wie es wirklich ist. Man kann natürlich auch dieses Buch lesen… Das ist fast so echt wie das Hausfest selbst.

Mit und in diesem Buch schaut man nicht verstohlen durchs Schlüsselloch – die Autorin öffnet bereitwillig jede noch so verschlossen scheinende Tür mit einem Handstreich. Man fächert sich den Duft der Stadt zu, atmet tief ein und ist im Handumdrehen mitten in einer der aufregendsten Städte der Welt. Es gibt sie noch, die Geheimnisse von Paris. Man muss sie ab sofort nicht einmal mehr suchen. Sie liegen ordentlich sortiert vor einem.