Schnell leben

Ein Unfall ist unvorhersehbar und nur unter Berücksichtigung aller Eventualitäten zu vermeiden. Alle Eventualitäten? Berücksichtigen? Wie soll das denn gehen? Und schon sind wir beim Kern des Buches. Brigitte Giraud verliert ihren Mann Claude durch einen Verkehrsunfall. Just an dem Tag, an dem die beiden ihren Altersitz in Besitz nehmen wollten. Ihr Traumhaus. Tage später zieht sie ein. Mit den Kindern. Zwanzig Jahre später sind noch immer nicht alle Fragen geklärt. Doch Fragen helfen ihr nicht weiter, auch nicht nach so langer Zeit. Der Konjunktiv, Nebensatzeinführungen – WENN – sind ihr Mittel Frau der Lage zu werden. Und schon sind wir wieder bei ALLEN EVENTUALTITÄTEN. Die kann man beim besten Willen nicht ausschließen! Das beweist Brigitte Giraud mit „schnell leben“.

Jedes Kapitel beginnt mit einer These. Wenn dies nicht eingetreten wäre, dann wäre der Unfall nicht passiert. Und relativ schnell kommt der Verzweiflung der Autorin auf die Spur. Denn diese Eventualitäten sind so vielschichtig, dass man immer schneller und vor allem lauter durchschnaufen muss. Denn die oberflächlich betrachteten Thesen ergeben erst in Summe ein klares Bild. Das beginnt bei der Songauswahl, die Claude sich zusammenstellte und hört bei der Wahl des Fahrzeugs, eine Höllenmaschine aus Fernost, die im Erzeugerland keine Straßenzulassung erhalten hatte (und in Europa nur modifiziert auf den Markt kam) noch lange nicht auf.

Brigitte Giraud zerbricht sich den Kopf, was alles hätte nicht eintreten dürfen, damit das Traumhaus zu einem echten Traumleben dazugehören muss. Es sind Gedankenspiele, die letztendlich mehr Fragen beantworten als man sich stellen darf. Und was passiert, wenn diese Fragen alle gestellt sind? Alle Antworten gegeben sind? Zufriedenheit ist sicher das falsche Wort. Beruhigung geben die Zeilen, die die Thesen stützen allemal. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Schicksal wie die Bank im Casino immer gewinnen wird. Fest steht, dass keine Seite, keine Zeile, kein Wort den Schmerz im Geringsten umkehren kann. Aber lose Gedanken in strukturierte Sätze zu formen, kann ein Beginn sein, um mit der Vergangenheit, dem Schicksal einen Deal zu machen. Einen Deal, bei dem es keine Verlierer gibt.

Ein Gewinner steht schon mal fest: Die Autorin selbst. Sie gewann für „schnell leben“ den Prix Congourt“, den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs. Und mit ihr freuen sich die zahllosen Leser, die in „schnell leben“ vielleicht sogar einen Weg finden Ähnliches verarbeiten zu können.