Archiv der Kategorie: Leben im Fluss

Amazonia

Was haben Alexander von Humboldt, Jules Verne und Klaus Kinski gemeinsam? Ihr Ruhm ist eng mit dem Amazonas verbunden. Der Eine durchstreifte den Dschungel, mit diesen Erkenntnissen konnte der Zweite einen faszinierenden Roman schreiben und der Dritte fühlt e sich hier wie der König der Welt, vor und neben der Kamera. Der Amazonas zieht alle in seinen Bann. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis (endlich!) Patrick Deville auch dem Amazonas-Fieber verfiel.

Einmal mehr nimmt er den Leser mit ins Dickicht der Unwissenheit, um mit der Machete der Neugier und dem Drang nach Abenteuern das Licht der Erkenntnis zu finden. Es wird eine Entdeckungsreise der persönlichen Art. Denn viele der Pflanzen und Tiere, die – meist nur hier – vorkommen, wurden schon einmal entdeckt. Aber eben noch nicht von Patrick Deville.

Vielmehr liegen ihm aber die Begegnungen am Wegesrand am Herzen. So versinkt er in der Geschichte der Stadt Manaus mitten im Herzen Brasiliens, dort, wo der Amazonas in schier unendlicher Breite Siedler dazu brachte sich niederzulassen. Heute eine schwitzige Metropole, die in Sachen Quirligkeit den Hafenstädten am Atlantik und am Pazifik in Nichts nachsteht. Und das obwohl sie tausende Kilometer von jedwedem Meer entfernt ist. Hier steht das dschungeligste Theater der Welt, hier herrscht eine Lebendigkeit, die weder durch extreme Luftfeuchtigkeit noch exorbitante Kriminalität beeinflusst wird.

Immer wieder kommt Patrick Deville mit Menschen zusammen, die das Schicksal hier her verschlagen hat. Botschafter, Glücksritter, Einheimische, die ihre Nachbarschaft noch nie verlassen haben. Sie alle zeichnen dem Autor und somit auch dem Leser ein Bild einer Landschaft, das so farbenfroh ist, dass man geblendet ist von der Pracht der Eindrücke. Von Hernán Cortés über die ersten Siedler bis zu Werner Herzog, der wie kein anderer (Verrückter) dem Dschungel und dem Fluss ein Denkmal setzte, stapft Patrick Deville durch die Geschichte dieser Region, um Behutsam ihre Geschichten aufzudecken. Schon nach wenigen Seiten ist man ein Fan. Fan von dieser einzigartigen Landschaft, die dem Verfall preisgegeben wird. Fan von Patrick Deville – sofern man es nicht schon lange ist, schließlich führen seine Bücher Leser seit Jahren durch das Kambodscha der Roten Khmer, das Mexiko Leo Trotzkis, das Afrika bedeutsamer Forscher und und und – weil er es versteht Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. So eine Forschungsreise macht man am Liebsten mit Patrick Deville!

Schlösser der Loire

Es ist schon ein besonderes Erlebnis in der Nacht an der Loire entlang zu fahren. Ringsum nur die ungetrübte Dunkelheit. In der Ferne sind kleine Lichtpunkte zu sehen. Das sind sie – die Schlösser der Loire. Funkelnd wie Edelsteine in der Nacht.

Des Tags sind sie nicht minder beeindruckend. Doch wo anfangen zwischen Tours und Angers? Wie kommt man da hin? Was darf man unter gar keinen Umständen verpassen? Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen sie alle. Darüber wird nicht diskutiert! Heike Bentheimer hat den einen, ultimativen Reiseband zu diesem einzigartigen Ensemble royaler Pracht geschrieben. Über 450 Seiten lang. Und jede Seite ein Märchen, das Wirklichkeit werden kann. Eine Tour der Impressionen, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen werden. Und wer auf die motorisierten vier Räder gern verzichten möchte … kein Problem: Die Loire ist Radwanderland. Berge sucht man hier vergebens, was die Alterspanne der Pedalisten sehr breit fassen lässt. Und wer will, kann sich sogar das Gepäck von A nach B, von B nach C etc. transportieren lassen. Hier ist wirklich alles möglich.

Ob nun zu Fuß, auf zwei schmalen oder vier fetten Rädern oder gar in der Luft – die Reise an den Ufern der Loire wird zum Sinnesrausch erster Klasse. An dieser Stelle wird nicht auf ein einzelnes Schloss eingegangen. Die Auswahl erschlägt den Leser schlichtweg. Denn nicht nur die großen Hallen einstiger Macht, sondern auch die kleineren, teils Lustschlösser genannten, „Behausungen“ sind mehr als nur eine Einkehr wert.

Architektonisch ist jedes ein Juwel. Mal muss man näher herantreten, mal erschließt sich die Pracht erst bei der Beschau der Details. Wer will kann ja mal die Türme und Türmchen oder die Anzahl der Fenster zählen – ein dicker Block ist ratsam.

Dieser Reiseband steht den Schlössern in nichts nach. Eine Schatztruhe voller Reichtümer, die man vielleicht so erwartet hat. Aber wenn man sie vor sich sieht, ist man trotzdem bafferstaunt. So soll es ja auch sein. Beeindruckend ist im Buch die nicht minder aufsehenerregende Fülle an Tipps rundherum und zwischen den Perlen der Loire. Fakt ist, dass eine Reise entlang der Loire mit zahlreichen Abstechern zu den Schlössern, den Gartenanlagen, den Parks, inklusive Abbiegen nach Links und Rechts, den lukullischen Ereignissen, den phänomenalen Eindrücken mehr als nur ein Fotoalbum füllen kann. Es wird eine Reise sein, die man nie mehr vergisst. Auch dank dieses Reisebandes.

Davonkommen

Schenkt das Leben Dir Zitronen, mach Limonade daraus. Im Land, wo die Zitronen blühen wohl eher Limoncello. Beide Sprüche kann man überhaupt nicht gebrauchen, wenn gerade um einen herum alles zusammenbricht, von dem man meinte es würde ewig halten. Der Ich-Erzähler muss sich aber damit abfinden, dass die gemeinsame Wohnung nu ihre Wohnung ist. Der gemeinsame Sohn bleibt auch bei Ihr. Jeden zweiten Freitag durchbricht er dieses Urteil und holt ihn vom Kindergarten ab, um ihn das Wochenende bei sich haben zu können. Weitab von der Stadt, wo sie einst alle zusammen lebten. Hier oben in den Bergen ist alles anders,  einsam. Wie im Delirium, das allerdings nicht vom Limoncello kommt… Der Dämmerzustand ist seiner Resignation geschuldet.

Nach und nach ertrinkt aber auch diese in dichten Nebelschwaden. Es sind die Nebelschwaden des Aufbruchs. Ein bisschen Gartenarbeit – keine Zitronenernte. Das Grau verfliegt. Immer dann, wenn der Sohn in der dörflichen Gemeinschaft aufblüht, geht dem resignierten Erzähler das Herz auf. Er beginnt sogar wieder zu malen. Hoffnung keimt auf.

Fabio Andina schreibt ein weiteres Mal über die Hoffnungslosigkeit, die in der dünnen Luft der Berge wie von Zauberhand zu verschwinden scheint. Hier oben liegt ein besonderer Zauber in der Luft. Wie im Märchen blühen Menschen in der harten Arbeit auf. Vielleicht ist es aber auch ganz einfach nur die Ablenkung, die die Seuche der Überflutung hinwegschwemmt. Nein, das wäre zu einfach, zu stoisch, einfach nicht der Stil Fabio Andinas. Er kreiert – schon zum zweiten Mal, nach „Tage mit Felice“  – moderne Märchen, die jedem Leser so klar erscheinen, dass man sich an den Kopf greift und sich fragt, warum man nicht selber auf diese Idee gekommen ist – sofern man diese eine Idee benötigt.

Ohne viel Tamtam und ohne Klischee lässt er einen Mann einen tiefen Zug Hoffnung einatmen. Und mit jedem Ausatmen schwindet die Furcht vor den Geistern der Vergangenheit. Sie fliegen lautlos in die Stille der Berge. Dort sollen sie jemand anderes ins verderben stürzen. Bei ihm  haben sie keine Überlebenschancen.

Nur wer sich auf Veränderungen einlassen kann, sich selbst erlaubt fremdes Terrain zu betreten, nimmt das Knarzen unter seinen Füßen als Lebensrhythmus wahr. Es verursacht keine Angst mehr. Und wie immer im Leben ist der erste Schritt der wichtigste.

Der Rhein, eine Reise

Bei all den sintflutartigen Beschreibungen des Rheins ist man oft gewillt ihm Zahlen entgegenzustellen. Über eintausenddreihundert Kilometer lang, sechs Länder, sie sich Anrheiner nennen dürfen. Drei Länder, Luxemburg, Belgien, Italien, dürfen sich rühmen ihm „zuzuarbeiten“. Unzählige Burgen säumen seinen Lauf. Und nun? Jetzt haben wir den Salat! Die wichtigste Wasserstraße Europas und nur Zahlen. Keine Romantik. Keine zurückliegenden Erinnerungen. Keine Klischees.

Alfons Paquet machte sich vor knapp einhundert Jahren auf den Weg, um von der Quelle bis zur Nordseemündung des Rheins zu folgen. Ja, er folgte dem Rhein. Wichtig zu wissen, wichtig zu verstehen. Ihn trieb nicht die Entmystifizierung an. Der Erste, der diese Reise tat, war er auch nicht. Er war vielmehr einer von vielen, der den Tornister schnürte und links und rechts des Rheins ins Staunen geriet. Aber, er ist immer noch einer der besten Reporter, der seine Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken schriftlich festhielt.

Schon auf den ersten Seiten kramt er die große Wortkeule raus. Mit einem Fingerschnipp sitzt man neben ihm auf Felsen und schaut in die rauschenden Fluten des kleinen Flusses hinab, der sich im weiteren Verlauf zu einem mächtigen Strom ergießt. Wie gesagt, das alles vor einhundert Jahren. Europa, besonders Deutschland keuchte unter der Hinterlassenschaften des Krieges, des es mit anzettelte. Die Inflation galoppierte nicht, sie stampfte in Riesenschritten voran. Wer Milliardär war, war ein armes Schwein. Doch man hatte den Rhein, den deutschesten aller Flüsse. Kaufen konnte man sich dafür auch nichts.

Bis heute ist jedes einzelne Kapitel ein Fest für die Augen und die Sinne. Augenblicklich möchte man die Seiten schließen, die Augen öffnen und sich gen Westen, Norden oder Süden – je nach Ausgangspunkt – begeben. Ausschau halten nachdem, was Alfons Paquet vor einem Jahrhundert einsog und nachforschen, ob die Romantik immer noch an ihrem Platz ist. Als die Engländer den Rhein als romantische Kulisse entdeckten und ein wahrer Rhine-Boom die Folge war, gab es sicherlich viel mehr Orte, an denen man sich ungestört dem Treiben auf dem Fluss hingeben konnte. Kein Eisenbahnlärm, kein Grölen auf Lustdampfern, keine Warteschlangen. Die Faszination Rhein ist ungebrochen. Und dieses Buch wird sie immer wieder aufs Neue entfachen.

100 Highlights Wildes Deutschland – Die schönsten Naturparadiese und Nationalparks

Wild ist sicher nicht das erste Wort, das einem einfällt, wenn man von Deutschland spricht. Dennoch gehört das wilde Leben dazu wie die typische Korrektheit und Pünktlichkeit. Und das reicht von Kap Arkona bis ins Höllental, vom Naturpark Schwalm-Nette bis ins Zittauer Gebirge.

An einhundert solcher wilder Orte kann man sich in diesem prachtvollen Bildband ergötzen, und zwar von Nord nach Süd. Als Erstes schlägt man willkürlich eine Seite auf. Land der tausend Seen – Müritz-Nationalpark. Ein stimmungsvoller Sonnenuntergang und ein Urwald, in dem die Stämme in einem derart saftigen Grün zu versinken drohen, dass man es für eine Setaufnahme aus einem mystischen Thriller halten könnte. Doch es ist alles real. Im richtigen Moment den Auslöser der Kamera gedrückt, und voilà: Auch das ist Deutschland. Wild, frei, fernab von Tabellen und Zahlenkolonnen. Der dazugehörige Text brilliert durch Fakten, die nicht wegzureden sind und macht Appetit genau diesen Ort, zu genau der Zeit der Aufnahme einmal selbst zu besuchen.

Nur wenige dutzend Seiten weiter wird’s fast schon historisch, ein wenig politisch sogar. Deutsche Politiker und wild? Keine Angst, so schlimm wird’s nicht. Doch die Schorfheide – bis dahin hat man sich nun vorgeblättert in diesem Buch – ist eng mit den Lenkern Deutschlands verbunden. Wo einst Nazis wie Kommunisten auf der Jagd waren, nördlich von Berlin, ist heute der sanfte Tourismus zu Hause. Hier kann man stundenlang unterwegs sein, ohne dabei tatsächlich eine Menschenseele zu anzutreffen. Kloster Chorin, ein Zisterzienserkloster in Backsteingotik, gehört den berühmtesten Orten der Gegend.

Bereits kurz nach der Wende wurde dem Gebiet in der Uckermark un dem Barnim der Status eine UNESCO-Biosphärenreservats verliehen. Einhundertdreißigtausend Hektar – zur Verdeutlichung: Ein Fußballfeld misst nicht einmal einen Hektar – 240 Seen, Tausende Moore, Wiesen, Äcker und Wälder. Das sind die blanken Zahlen. Was die Natur hier auf die Landkarte gezaubert hat, spottet jedoch jedem Kategorisierungswahn. Jeder Ast darf so wachsen wie er es für richtig erachtet. Jeder Grashalm darf sich nach der Sonne recken wie es ihm beliebt. Und jeder Besucher erfreut sich genau an dem, was so wild mitten in Deutschland zu entdecken ist.

Dieses Buch macht Lust darauf die wilde Seite Deutschlands zu erkunden. Sanft auf dem Rad mit einem Lächeln im Gesicht. Mit forschender Miene. Alle Sinne geschärft. Vom Rothaargebirge bis an die Saale (die mit dem schönen Strand, wie es schon im Volkslied heißt), vom Stettiner Haff bis in den märchenhaften Habichtswald – Wer es bisher nicht wusste, wird in diesem exzellent gestalteten Bildband zum Naturfan, zum Wildheitsforscher, zum Naturparadies- und Nationalparkfan ersten Grades.

Amazonas

Was macht ein Musiker, wenn er mal nicht auf Tournee ist? Er zieht sich in seine Dachstube zurück und schreibt neue Texte, feilt an Formulierungen oder … Oder er macht sich auf in die Wildnis und entdeckt das, was echte Kerle zu tun pflegen. Im Falle von Till Lindemann ist es nicht die Kemenate, sondern der schwer zu durchdringende Dschungel des Amazonas. Zusammen mit Joey Kelly, eben der von der Kelly-Family – also Melodie-Ideen tauschen die beiden garantiert nicht aus – kämpft er sich durch das größte Urwaldgebiet Amerikas.

Allein schon das Cover lässt erahnen, dass die Glamping-Ausrüstung zuhause bleiben muss. Schlammverschmierte Gesichter, die zu müde sind ein Lächeln hervorzuzaubern – Preisfrage: Wer hat Till Lindemann schon mal lächeln sehen?, schon allein Seite 61 wird da zur Offenbarung – und als zartes Band der beiden ungleichen Musiker: Ein Schlange.

Genug der Klischees. Joey Kelly und Till Lindemann müssen niemandem mehr beweisen, dass sie echte Männer sind. Sie treten die Reise ins Länderdreieck Peru, Kolumbien, Brasilien an, um sich an ihre Grenzen zu führen, etwas wirklich Neues zu erleben und um anderen, den Lesern, zu zeigen wie wunderschön unberührte Natur (auch mit Menschen drin) sein kann.

Wer bei Abenteuer Tom Sawyer und Huckleberry Finn im Kopf hat, startet beim Lesen von einer gesunden Basis. Till Lindemann mit Schlange (zwei, drei Meter wird sie sicher lang sein), Joey Kelly mit Blasrohr (ein bisschen kürzer, ganz sicher): Zwei Bilder, die mehr Symbolkraft haben als man gemeinhin zugeben möchte. Martialische Pose auf der einen, fokussiertes Engagement auf der anderen Seite. Und zwischendrin einzigartige Einblicke in ein Leben von Menschen, die fern der so genannten Zivilisation dem trotzen, was dem Großteil der Leser schon bei der Vorstellung daran pflaumengroße Schwerperlen aus den Poren drückt. Till Lindemann gibt zu, dass die Luftfeuchtigkeit ihm zu schaffen macht. Die Hitze – daran gewöhnt man sich schneller als man denkt.

Das Zusammenspiel von Reiseimpressionen mehrerer National-Geographic-Autoren und den bei jedem Umblättern faszinierenden Bildern lassen Abenteuerpläne in der Glut der Sehnsucht Gestalt annehmen. Ein Kinderlachen inmitten notdürftiger Behausungen, Joey Kelly auf dem Rücken von Till Lindemann durch den Fluss watend, die Farbenpracht eines Papageien, unerhört beruhigte Landschaften – wo andere nur stumm abbilden, erzählen die Bilder (doppelseitig im Breitbandformat – mehr geht nicht!), kontert dieser Bildband mit einer plappernden Bildsprache, die jeden Zweifler erstummen lässt. Für Rammsteinfans? Ja! Für Kelly-Family-Fans? Ja! Für Abenteurer, für Fotoenthusiasten, für Amazonas-Begeisterte? Auf alle Fälle!

Alberts Verlust

Ein zarter Film überzog die Straße, machte sie glänzend, rutschig. Und gefährlich. Wie in einem Film nimmt Albert noch einmal alles um ihn herum wahr. Der Wagen ist Schrott, genauso wie sein Leben. Nichts mehr da! Alles weg. Durch Schläuche mit dem Leben verbunden, harrt er im Krankenbett der Dinge, die noch kommen.

Gerda, seine Frau versteht die Welt nicht mehr. So hat sie ihren Albert noch nie gesehen. Sie berührt ihn, streichelt ihn, entdeckt nach all den Jahren sogar Neues an ihm. Es ist wie eine Analogie für das, was auf Albert und Gerda noch zukommen wird. Denn Albert und Gerda müssen erst wieder zueinanderfinden. Alberts Gedächtnis reicht nur noch wenige Stunden zurück. Gerda erkennt er nicht. Momentan, kurz nach dem Aufwachen hat er ein drängenderes Problem. Weiter unten, so ziemlich in der Mitte seines Körpers…

Dr. Beck sieht den Patienten Albert mit nüchternem Blick. Dass das Gedächtnis nach so einem schweren Unfall nicht mehr richtig funktioniert, ist nichts Besonderes. Gerda gefriert bei solch faktenorientierter Beschreibung das Blut in den Adern. Albert ist doch ihr Mann! Er gehört zu ihr! Sie und Albert, das ist doch eine Einheit! Albert bekommt alles um ihn herum mit. Doch die Frau an seinem Bett ist ihm fremd. Der Mann neben seinem Bett wohl ein Arzt. Albert ist der personifizierte Y2K. Zur Jahrtausendwende 1999 / 2000 befürchtete man ja auch einen weltweiten Absturz aller Computersysteme durch die Umstellung der ersten Ziffer der Jahreszahl von Eins auf Zwei. Der blieb aus. Albert muss nun mit den persönlichen Umständen seines Milleniumbugs umzugehen lernen.

Dr. Beck sieht in Albert eine Chance für einen wissenschaftlichen Erfolg. Gerda sieht in Albert eine Chance ein neues „Albert und Gerda“ zu schaffen. Und Albert? Der will einfach nur wieder Albert sein…

Das Gezerre um Alberts Gedächtnis wird von Urs Zürcher wie ein zartes Pflänzchen dargelegt. Ruhig und mit breiter Wortvielfalt begegnet er Albert auf Augenhöhe. Kein Vorwurf, keine Anklage, nur der Mensch als Opfer seiner Erinnerungen. Doch ist man denn ein Opfer, wenn die Erinnerungen gelöscht sind? Kann man noch einmal neu beginnen, ein neues Leben der Vergangenheit führen? So leise die Töne in diesem Buch, so ungeduldig liest man Seite für Seite in diesem Buch.

Was bleibt von uns

Die Straße der Hoffnung ist ein steiniger Pfad. Die wenigen ebenen Abschnitte sind mit Mut, Entbehrungen und Verlust geteert. Diese Erkenntnis muss Nahid seit Jahrzehnten begehen. Anfang der 80er war sie der Stolz der Familie. Als Frau im Iran war sie Medizinstudentin. Als sie Masood kennenlernt engagiert sie sich politisch. Sie demonstriert gegen die islamische Revolution. In ihrer Unbekümmertheit und dem felsenfesten Glauben daran, dass ihr Aufruhr vom Erfolg gekrönt sein wird, nimmt sie eines Tages ihre kleine Schwester Noora mit auf eine dieser Demonstrationen. Doch alles läuft aus dem Ruder, Noora verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Saber, Verbündeter und Freund wird zu Tode gefoltert. Weggefährten werden verhaftet, und niemand wird wieder etwas von ihnen hören. Nahid und Masood müssen fliehen. Schweden wird ihr neues Zuhause. Den erhofften Neuanfang erleben beide mit der Geburt ihrer Tochter Aram.

Die Rahmenhandlung, die Golnaz Hashemzadeh Bonde in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman skizziert, scheint auf den ersten Blick ein typischer Fluchtroman zu sein. Doch Nahid treibt etwas anderes um. Mittlerweile hat sie mehr als die Hälfte ihres Lebens gelebt, gehofft. Aram ist nun selbst erwachsen und erwartet ihr erstes Kind, eine Tochter. So wie Nahid nur Schwestern hatte – im Iran gelten männliche Nachkommen immer noch als größerer Segen als Mädchen. Ein Mädchen, ein Hoffnungsschimmer.

Den hat Nahid dringend nötig. Sie weiß, dass ihre Tage gezählt sind. Ihre Wurzeln sind so weit entfernt, dass sie selbst nur schwer akzeptieren kann, eine Heimat zu besitzen.

Doch ist sie selbst Heimat. Und zwar des Krebses. Er hat von ihr Besitz ergriffen. Ihre Mutter kann ihr nicht beistehen. Sie lebt immer noch im Iran. Und ist immer noch verbittert über Nahids Weggang. Ganz zu schweigen vom Verlust des Nesthäkchens Noora.

Nahid versucht ihrer Tochter das zu geben, was sie selbst nie hatte. Hoffnung. Geborgenheit. Doch Aram ist in der Vergangenheit zu einer Art Projekt geworden. Nahid kann nur Ratschläge geben. Liebe und Geborgenheit flackern nur sporadisch auf. Darunter leidet Aram. Während der Krebs immer weiter voranschreitet, wächst in Aram neues Leben heran. Und Nahid kann nur noch einen Gedanken hegen: Als Großmutter von dieser Welt zu gehen.

„Was bleibt von uns“ ist ein intensiver Roman, der sich wie ein wohlwollender Virus unter die Haut setzt und im Herzen ein neues Zuhause findet. Nahid, ihre Mutter und ihre Tochter sind Frauen, die vom Verlust gezeichnet sind, die Gewalt am eigenen Körper (und der Seele) erfahren mussten und dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft schauen. Wehmut, mal mehr, mal weniger, schwingt in ihrem Leben immer mit ohne dabei den Takt anzugeben.

Vor dem Sturm

Es ist nicht viel, was Esch, Skeetah, Randall, Junior und ihr Dad ihr eigen nennen können. Eine heruntergekommene Hütte an einer Lichtung im Mississippi-Delta. Randall, der Älteste will Basketball-Profi werden. Die Anlagen dazu scheint er zu haben. Skeet, der Zweitgeborene, ist völlig vernarrt in seine Pitbullhündin China. Die hat gerade geworfen. Der eine oderandere Dollar dürfte dabei wohl herausspringen. Junior ist der Sonnenschein, sieben Jahre, das Nesthäkchen. Er hat viel Blödsinn im Kopf und von einer umwerfenden Ehrlichkeit.

Esch ist die einzige Tochter. Ihre Mutter überlebte die Geburt Juniors nicht. Dad ist keine große Hilfe mehr. Ihm geht’s nicht gut und der Alkohol setzt ihm immer mehr zu. Gerade jetzt könnte Esch, die diese Geschichte erzählt, jemanden brauchen, dem sie sich anvertrauen kann. Denn sie ist mit ihren fünfzehn Jahren eigentlich zu jung für eine Schwangerschaft. Eigentlich. Denn Mannys Anziehungskraft ist stärker als jede Vernunft.

Die Tage plätschern so dahin. Die Geburt von Chinas Welpen bringt ein bisschen Abwechslung in den Alltag in der sengenden Hitze des Südens. Skeetah träumt schon vom großen Wurf mit dem großen Wurf Chinas, doch es soll anders kommen. Auch Randalls Karriere als Ballartist in den großen Arenen ist vorbei, bevor sie richtig anfangen konnte.

Im Radio vernehmen die Fünf die unheilvolle Nachricht, dass ein Sturm im Anzug ist. Ein Hurricane, der sich bis zur Stufe Fünf hochschrauben wird. Höher geht es nicht, 250 Kilometer pro Stunde lassen dann auch keinen Stein mehr auf dem anderen liegen. Die Vorbereitungen, sofern man sich überhaupt auf so eine Katastrophe vorbereiten kann, sind übersichtlich. Fliehen ist keine Option. Wohin denn? Die Mittel sind nicht nur begrenzt, sie sind erschöpft. Katrina, mit diesem Namen wird der Sturm in die Geschichtsbücher eingehen, trifft mit voller Wucht aufs Festland. Der kleine Bach, der unweit der Hütte einst ruhig vor sich hin dümpelte peitscht mit allem, was er in sich hat erst gegen die Wände, dann breitet er sich im Haus aus.

Jesmyn Ward gelingt es mit zarten Worten das harte Leben derer, die von der Armutsgrenze nur träumen können, in ein farbenfrohes Feld der Hoffnung zu verwandeln. „Vor dem Sturm“ ist ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman, der ihr in den USA den National Book Award einbrachte und zum Bestseller wurde. Sie schockiert nicht mit brachialen Armutsszenarien, sie ringt dem kargen Leben ein großes Stück Poesie ab. Ihre Charaktere sind echt, nicht überzogen und der Handlung angepasst – sie sind die Handlungstragenden im wahrsten Wortsinne.

Singt, Ihr Lebenden und Ihr Toten, singt

Was für eine illustre Reisegruppe: Leonie mit ihren beiden Kindern Jojo und Kayla und ihrer Freundin Misty. Sie fahren in den Norden von Mississippi, nach Parchment Farm. Dieser Ort beheimatet das Gefängnis und somit jede Menge schräge, gefährliche und verbrecherische Typen. Michael ist einer von ihnen und der Vater von Jojo und Kayla. Letzte kennt er kaum und nennt sie bei ihrem vollen Namen Michaela. Was die Kleine vollkommen verunsichert. Misty ist nur mit dabei, weil sie immer dabei ist, wenn Leonie hier hoch fährt. Auch ihr Freund sitzt in Parchment Farm ein. Für Michael ist die Zeit des Abschieds vom Knast und die Zeit des Neuanfangs mit seiner Familie gekommen.

Jojo ist inzwischen dreizehn Jahre alt. Pop nennt er mittlerweile seinen Opa mütterlicherseits. Seinen Pa nennt er Michael. Und Leonie, seine Mutter ist Leonie. Mam ist seine Oma. Zum Leidwesen aller ist Mam aber an Krebs erkrankt und sieht ihrem drohenden Ende entgegen. Leonie hat in Jojos Augen ihr Ende schon erreicht. Die Kinder sieht sie regelmäßig, aber eine echte Beziehung kann sie einfach nicht aufbauen. Über ihre Lippen kommen zwar liebgemeinte Worte, doch die daraus resultierenden Taten lässt sie schmerzlich vermissen.

Wenn sie wieder mal „drauf ist“, blüht sie auf. Dann hält sie in Gedanken Zweigspräche mit ihrem toten Bruder. Der ihr allerdings auch nicht immer eine echte Hilfe ist.

Jojo und Kayla sind das, was man ein Herz und seine Seele nennt. Die Kleine klammert sich an ihren großen Bruder, der sie behütet wie sein Augenlicht. Es ist für ihn erfülltes Pflichtbewusstsein, wenn sie ihren Kopf an seine Brust schmiegt. So zerbrechlich sie ist, so lebendig ist ihr Geist.

Michael ist also wieder da und das Leben kann endlich beginnen. Selbst wenn Leonie hochtrabende Pläne einmal gehabt haben mag, hat sie diese im Laufe der vergangenen drei Jahre gehörig mit Füßen getreten. Das Sicheinreden, dass nun alles anders wird, kann einfach keine Früchte tragen. Zu sehr zerren die Geister der Vergangenheit an ihr. Pflichtbewusstsein gegenüber denen, die ihr das Leben gaben, eine Zukunft geben können, existiert nur hülsenhaft und sporadisch in ihrem Kopf.

Jesmyn Ward zeichnet ein düsteres Bild vom Leben der Schwarzen im Mississippi-Delta. Rassismus ist allgegenwärtig, selbst innerhalb der Familien. Unbeschwert kann die Kindheit nur sein, wenn man unter sich bleibt. Und selbst dann gibt es nur ein Thema: Wie überleben da draußen in der Welt, wenn man nicht unter sich ist? Ein Roadtrip ins Verderben, gepaart mit einer Brise Mythos, serviert auf dem schwitzigen Tablett der Südstaatenpoesie. Jesmyn Ward gelingt mit einfühlsamen Worten eine traurige Geschichte zu erzählen, deren Schwere im neugierigen Umblättern der Seiten verschwindet.