Archiv der Kategorie: Bildgewaltig

Schaurig-schönes Europa

Wenn der Urlaub etwas ganz Besonderes werden soll, dann sind außergewöhnliche Orte das Salz in der Traumsuppe dieser Erinnerungen. Die Bilder, die man sich selbst in diese Erinnerungen pflanzt, müssen einem ganz bestimmten emotionalen Bild entsprechen. Auch wenn sie nur für den Bruchteil einer Sekunde vor dem Auge erscheinen oder für die Dauer eines Spazierganges existieren. Mit allen Sinnen wird dieser Moment für Ewigkeit festgehalten.

So wird man beispielsweise in Craco in der Basilikata im Süden Italiens, nahe der Felsenstadt Matera, auf einen Ort treffen, aus dem das Leben schon vor einem halben Jahrhundert geflohen ist. Oder besser gesagt, es wurde aufgegeben als Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach einem Erdrutsch es als zu gefährlich angesehen wurde hier weiterhin zu leben. Zuvor lebten hier mehr als tausend Jahre Menschen. Heute erinnern nicht einmal mehr Glasscheiben an eine Zivilisation. Dass hier ein Leben möglich war, ist dennoch nicht wegzudiskutieren. Straßen und Gassen existieren noch. Auch die Raumaufteilung der Häuser ist noch klar erkennbar. Umgestürzte Möbel verweisen auf ihre ehemaligen Bewohner. Und dennoch herrscht hier eine gespenstische Ruhe. Ein verlassener Ort, der einem den Schauer über den Rücken jagen kann.

Brodelnd und voller Leben – dennoch nicht minder lost place – ist der Rio Tinto in Andalusien. So ein Rot in einem Fluss hat man noch nie gesehen. Baden ist nicht ratsam. Der Sauerstoffgehalt ist zu gering, der Säuregehalt hingegen um ein Vielfaches zu hoch. Optisch ist der Fluss ein Augenschmaus und trägt sicher dazu bei sich auch noch Jahre später genau an das meiste zu erinnern.

Über glasklares Wasser schwebt man förmlich im Höhlensee von Tapolca, nördlich des Balatons. Auch hier fühlt man sich wie in einer fremden Welt. Prächtige Farbenspiele, gespenstische Ruhe und alles unter der Erde. Das Höhlensystem ist vulkanischen Ursprungs und kann heute recht gemütlich bereist werden.

„Schaurig-schönes Europa“ ist ein Reiseband, der bei jedem Umblättern das Reisefieber steigen lässt. Stimmungsvoll in Szene gesetzt und mit verheißungsvollen Texten gespickt, macht dieses Buch Appetit auf echte Abenteuer.

Grazie a voi

Schon die Andeutung des Begriffes Migration bringt eine gewisse Schwere ins Gespräch. Mit Bedacht wählt man seine Worte, nickt zustimmend oder … im schlimmsten Fall … tut unumwunden seine Abneigung kund. Ob man es nun hören will oder nicht: Migration war schon immer ein Thema. Die Landbevölkerung zog es in die Städte – Migration. Und wer es sich leisten will und kann, den zieht es in die ländliche Idylle. Auch das ist Migration.

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts zog es tausendfach Italiener in die Schweiz. Hier wurden Arbeitskräfte gesucht, besonders in der aufstrebenden Textilindustrie und im nachfolgenden Gewerbe. Rund ein Jahrhundert später zog es abermals Italiener in die Schweiz. Die Heimat lag am Boden, mühsam errichtete man wieder eine Demokratie, gab sich eine neue Verfassung. In der Schweiz „war die Welt noch in Ordnung“ – kein bis kaum Kriegsschäden, überdurchschnittliche Löhne. Nur das Frauenwahlrecht war noch nicht installiert. Doch der wirtschaftliche Druck überwog so manches, was man niemandem wünscht. Willkommenskultur war sporadisch vorhanden.

So entwickelte sich eine Migrationskultur, die in diesem Buch eindrucksvoll, ungeschönt, ungefiltert „das Leben der Fremden“ für die Ewigkeit festgehalten hat. Nix grandezza und bella vita. Vielmehr harte Arbeit, fremde Sprache, neue Lebensbedingungen. Aber auch ein Lächeln auf den Lippen sich selbst ein Leben aufbauen zu können. Und die Lieben daheim – in Italien – daran teilhaben zu lassen. Auch ohne täglichen Kontakt – das Handy und Telefonflatrates gab es noch nicht!

Es ist die Schlichtheit, das Normale der Fotos, das so beeindruckt. Näherinnen in St. Gallen, Vereinsleben, aufm Bau, beim Pflastersteineverlegen in sengender Hitze oder in Schale geworfen, um dem Alltag einmal die elegante Schulter zu zeigen – jede Seite, jedes Bild ein untrügliches Abbild des ganz normalen Lebens der Italiener in der Schweiz.

„Grazie a voi“ – wer sagt das? Die Neuen oder die Eingesessenen? Wer bedankt sich bei wem? Sicher ist, dass ein grazie nicht nötig, aber gern gehört ist. Und wenn man zwischen den Erinnerungen herumstöbert, ist es sowieso egal, wer wem ein grazie schuldet. Immer wieder blättert man ein paar Seiten zurück, sich noch einmal zu vergewissern, was man gerade gesehen hat oder meint übersehen zu haben. Ob nun in nostalgischem Schwarz-Weiß oder typischen überfärbten Colorfoto-Charme – man erliegt im Handumdrehen diesen Bildern. Grazie!

Grenzland – Borderlands

Wenn ein Märchen mit „Es war einmal …“ beginnt, wähnt man sich in sicheren Gefilden, freut sich auf eine phantastische Reise … mit happy end. Die Geschichte eines Volkes mit „Es war einmal …“ in Verbindung zu bringen, ist mit Vorsicht zu genießen. Denn dieses „war“ ist mit Schmerzen, Leid und Respektlosigkeit eng verwoben. Die Grenzen verschwimmen hier nicht, sie sind klar ersichtlich und mit keiner Silbe unumkehrbar.

Die kleinen Städte – jiddisch Schtetl – im Osten Europas waren einmal Zentren jüdischen Lebens. Hier lebte man fernab der eigentlichen Heimat, baute sich über Generationen eine neue Heimat auf. Behielt die Traditionen bei, pflegte sie, hegte sie, bildete sie weiter aus. Man fügte sich ein, passte sich an, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Bis man es musste. Bis man vertrieben wurde. Bis man … gejagt, verjagt, gefangen, deportiert, ermordet wurde. Und das nur, weil man an einen Gott glaubte, den die Täter nicht folgen konnten. Weil man einer jahrtausende alten Hetzjagd ausgesetzt war, die für viele Grund genug war, selbige fortzusetzen. „Einfach so“, weil man es konnte, weil es von Oben erlaubt, ja sogar befeuert wurde.

Der Fotograf Christian Herrmann reist zu diesen Orten in der Ukraine, in Belarus, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Er sucht diese Orte, findet sie und dokumentiert – künstlerisch auf höchstem Niveau und in bestechender Klarheit – was nicht mehr eindeutig zu erkennen ist. Nur wer genau hinsieht, erkennt die teils kläglichen Reste einer Kultur, die präsenter ist als manch verklärter Irrgänger es sich eingestehen will. Es sind kleine Kuppeln, Häuserfassaden, ganze Straßenzüge und plattgemachte Orte, die er mit seinen Bildern in die erste Reihe zieht.

Ab und an sind noch Schriftzeichen zu erkennen. Mahnend von der Restaurierung der Gegenwart unberührt gelassen. Manchmal sogar erneuert und in die Moderne transferiert. Detailaufnahmen decken für den Betrachter explizite Details auf, die der so niemals erkennen könnte.

Offensichtliches, wie jüdische Friedhöfe, die wegen ihrer dichten Fülle immer noch als solche zu erkennen sind, stehen kleinen versteckten Schätzen gegenüber, so dass man sicherlich beim nächsten Rundgang, auch durch die eigene Stadt einmal genauer hinschauen wird. Wenn Grabinschriften erst und gerade durch hervorbrechende Flora zu neuem Leben erwachen, ist das mehr als nur ein Bild. Hier steckt eine Symbolkraft im Objekt, die noch lange anhalten wird.

Der Kunstgriff dieses Buches liegt in der Erläuterung der Bilder. Kein bedeutungsschwangerer Text stört den Bildrundgang. Ein am hinteren Buchrücken eingehangener Appendix setzt die Abbildungen in den passenden Kontext. So wird der Eindruck der Bilder durch nichts abgelenkt. Dieses Nichts ist derart nachhallend, dass man sich ihm nicht verschließen kann. So soll es sein!

Sternbilder der Welt

„Ich seh’ den Sternenhimmel, Sternenhimmel…“ aber nur, wenn man nicht mitten in einer Großstadt wohnt. Denn, wenn es um einen herum 24 Stunden taghell ist, ist die Chance das komplette Himmelszelt mit den unendlich vielen Lichtern auch wirklich zu sehen. Da muss man schon ein bisschen reisen. In die Höhenalgen. Raus aus der Stadt. Und man braucht natürlich auch ein wenig Glück – schließlich sind auch Wolken der natürliche Feind für Sternengucker.

Stefan Liebermann ist gereist. Und wie! Mit im Gepäck seine Fotoausrüstung und der Drang den Sternenhimmel ihm gerecht werdend in Szene zu setzen. Doch wer nun meint in diesem Prachtband „einfach nur schöne Bilder“ zu sehen, wird überrascht sein, wie lehrreich so eine Umblätter-Foto-Safari noch sein kann. Stefan Liebermann zeigt nicht einfach nur die Schönheit des strahlenden Nachthimmels, er erzählt auch wie er es schaffte diese gigantische Leinwand derart eindrucksvoll abzubilden.

Hat man sich erst einmal an die überbordende Fülle an Eindrücken gewöhnt, ist man auch bereit nachzulesen, warum diese Bilder beeindrucken. Lichtquelle richtig setzen, Belichtungszeit auswählen, Bildausschnitt wählen sind nur einige Parameter, die man beachten muss, um auch nur annähernd diese Bilder mit der Kamera einfangen zu können.

„Sternbilder der Welt“ ist das rund um gelungene Sternenspektakel, das kein Animationsprogramm der Welt so exakt wiedergeben kann. Alles echt. Alles so nah und doch so fern. Wenn einem schon die Sterne vom Himmel geholt werden, dann sollte man sich in Ruhe zurücklehnen und jeden Moment genießen.

Es ist immer wieder erstaunlich wie vielfältig der Sternenhimmel abgebildet werden kann. Auch, wenn man nur ein knappes Zwanzigstel der theoretisch sichtbaren Sterne, Planeten, Galaxien sehen kann.

Den Abschluss bildet ein Exkurs in die Astrofotografie. Kleines Beispiel: Den Nachthimmel am besten bei Neumond fotografieren. Und Nacht ist nicht gleich Nacht.

Wer es partout nicht lassen kann … der blättert einfach noch mal durchs Buch, und noch einmal … der Sucht dieses Buch immer wieder anzuschauen muss man einfach nachgeben.

Spaziergänge durch hundert Jahre Mode. Von der Gründerzeit bis in die Moderne

Es geht immer noch ein bisschen mehr. Oder weniger. Und alles kommt irgendwann wieder zurück – Weisheiten, die in keiner Modesendung fehlen dürfen. Ist es nur der fehlende Einfall zu ganz Neuem oder ist einfach schon alles erzählt worden?

Ob dieses Buch alle Antworten darauf hat, muss man selbst für sich entscheiden. Denn eines steht fest: Geschmack kann man zwar kaufen, aber ob es denn wirklich auch stilsicher ist… Die Frage, ob alles irgendwann mal wieder kommt, ist längst schon beantwortet – ja. Auch Schulterpolster und Neonfarben. Aber wo liegt der Ursprung? Vielleicht war das, was anscheinend wiederkommt zuvor schon einmal da?

Wer weiß (es)? Dieses Buch! Hier stehen die Ursprünge der modernen Mode Seite für Seite hübsch aufgereiht hintereinander.

Doch hier geht es nicht darum einfach nur aufzuzählen, wann welche Mode in Mode kam. Es geht um das, was uns alltäglich umgibt. Denn Mode ist nicht einfach nur ein paar Bahnen Stoff zusammenzuklöppeln, sich ein Image auszudenken und dann die Kasse klingeln zu lassen. Obwohl bei manch einer Shoppingtour dieser Gedanke nicht so abwegig erscheint. Nein, Mode ist harte Arbeit. Arbeit, die man nicht sieht. Wer weiß schon wieviel Vorbereitung nötig ist bis beispielsweise eine Bluse wirklich auf einem Kleiderbügel hängt? Die Geschichte dahinter, die eigentlich die Geschichte davor ist, ist nicht minder spannend.

Schon mal ein Schnittmuster in der Hand gehabt? Das lineare Stück Hochgefühl vermittelt auf den ersten Blick erst einmal keinen Eindruck von dem, was hinterher maschinell zum Leben erweckt wird. Es erinnert eher an Mixtur aus exakter Wissenschaft und einem Bild von Jackson Pollock. Willkür und Planeinhaltung in Einem.

Und so spaziert man stilvoll von den Zwanzigern, in denen eh alles erlaubt war (oder doch nicht), liftet höflich den Zylinder, wenn man an Moderfotografen wie Cecil Beaton und Horst P. Horst vorbeischlendert, taumelt im Irrgarten der Schnittmuster und schaut Modezeitschriftenmachern über die Schulter, wenn Sie Mode erschaffen.

Ein kurzweiliger, sehr lesenswerter Streifzug durch das, was uns anzieht.

Die Leipziger Passagen und Höfe

Wer Gäste hat, die zum ersten Mal Leipzig besuchen – so was soll’s ja tatsächlich noch geben – der zeigt als Erstes die Passagen der Innenstadt, der City, der Stadt wie der Leipziger sagt. Olle Goethe hat im Auerbachs Keller in der Mädlerpassage oft genug gezecht – bestimmt auch so manche zeche geprellt – das muss man zeigen, muss man gesehen haben. Stimmt! Aber, und dieses Aber kann man gar nicht groß genug schreiben, damit ist die Tour noch nicht einmal annähernd am Anfang einer großartigen Tour durch die Passagen und Höfe der Messestadt.

Jeder Stadtobere Leipzigs hält etwas auf die Messetradition in der Stadt. Hier wurden schon vor Jahrhunderten Salz, Gewürze, Felle … eigentlich alles, womit sich der Geldbeutel füllen lässt, Märkte und Messen abgehalten. Das erwirtschaftete Geld floss zu einem gewissen Prozentsatz auch ins Stadtsäckl. Und nach und nach wuchs die Stadt, zeigte, was man sich leisten konnte und ließ Marktplätze (überdacht) entstehen, die bis heute zum Bummeln einladen. Von der Luxusuhr bis zum handgebastelten Mitbringsel im Pop-Up-Store fand man schon immer alles innerhalb des Stadtkerns. Und nach der Wende erstrahlten die alten Handelsplätze, auch dank einiger (zu vieler) unseriöser Geschäftspraktiken im neuen Glanz. Die Geschädigten können dem sicher nur wenig abgewinnen. Besucher hingegen werden noch Wochen nach de Besuch von der Eleganz schwärmen.

Wolfgang Hocquél setzt dem unverwechselbaren Wahrzeichen der Stadt Leipzig ein neuerliches Denkmal. So schmal das Buch auf den ersten Blick aussehen mag, so prall gefüllt sind seine fotografischen Schätze. Das Füllhorn an Bling-Bling ist endlos. Als ob extra für das Fotoshooting jede einzelne Scheibe noch einmal auf Hochglanz poliert wurde. Kenner wissen, dass es hier immer so aussieht. Man zeigt, was man hat und schmückt sich gern damit.

Selbst Leipzig-Kenner werden hier und da in Staunen geraten. Die großen Passagen sind jedermann bekannt. Speck’s Hof, die bereits erwähnte Mädlerpassage und sicher auch Oelßner’s Hof lassen aufhorchen. Aber Jägerhof und Kretschmanns Hof – da muss man schon nachdenken. Obwohl man bei jedem Spaziergang durch die City daran vorbeiläuft. Ab sofort hält man kurz inne.

Auch Leipzig lässt den Fortschritt nicht spurlos an sich vorbeiziehen. Die neu geschaffenen Höfe am Brühl haben in diesem Buch ebenso ihre Daseinsberechtigung (der Mix aus neuerem Bestand und totalem Neubau war anfangs umstritten, mittlerweile nimmt man es in Leipzig als gegeben hin), wie die verschwundenen und versteckten architektonischen Perlen links und rechts von Brühl, Katharinenstraße und Marktplatz. Einfach nur Durchblättern ist bei diesem Buch nicht möglich. Lesen, Staunen, Stehenbleiben und nochmals Staunen – anders geht’s halt doch nicht.

Pogrom 1938

Man stelle sich vor, dass das Widerwärtigste, was der Mensch anderen antun kann, publik wird. Und dass es trotzdem nicht aufhört. Und dass man nicht mehr daran erinnert werden möchte. Warum? Weil man nicht will, dass es aufhört? Weil die Erinnerung zu schmerzhaft ist? Warum? Es gibt keine Antwort darauf, die auch nur annähernd plausibel wäre. Und deswegen gibt es Bücher wie diese.

Der 9. November hat besonders in der deutschen Geschichte einen ewigen Nachhall. Kriegsende, Mauerfall – das sind die offensichtlichen Gemeinsamkeiten. Aber auch der Jahrestag zum Gedenken der Opfer der perfiden Pogrome gegen Juden im Jahr 1938. Nein, darüber muss man immer noch reden, lesen, man darf sich sogar darüber aufregen, wenn es die richtigen Gründe sind.

Ja, das Buch ist Propaganda! Aber nicht, um etwas zu verfälschen, zu vertuschen, sondern um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Teils sogar mahnen. Es fällt schwer in Zusammenhang mit der Thematik von gestalterischer Schönheit zu sprechen. Imposant – ja, unbedingt. Schön hat was Verniedlichendes, und das ist nun wirklich fehl am Platze angesichts von millionenfachem Leid vor, während und nach der wütenden Raserei gegen Menschen, die schon immer (gefühlt) auf der Flucht waren, weil sie einer Religion angehörten, der man … ja was eigentlich?

Michael Ruetz begibt sich auf Spurensuche in Deutschland nach Orten, wo die Pogrome vernichtende Resultate ans Tageslicht brachten. Das Ortsverzeichnis am Anfang des Buches erschrickt wegen der Überzahl an Verbrechensorten. Dass man das nicht mitbekommen hat – auch die Folgen – ist schwer zu glauben. Die Zeitdokumente – Fotos – zeigen Menschenmassen am Straßenrand während des Prangermarsches oder Schandmarsches. Je nachdem ob man Opfer oder Täter war. Egal, ob man es wirklich war. Allein die Darstellung lässt heute noch das Blut in den Adern gefrieren. Das passierte vor nicht einmal hundert Jahren … im modernen Deutschland. Zerborstene Schaufensterscheiben, vernagelte Hauseingänge (weil die Türen herausgerissen wurden), hilfesuchende Kinderaugen, prügelnde Uniformierte, die in der Masse zu einer Stärke fanden, die sie allein niemals aufbringen konnten. Einzelne Bildausschnitte wurden vergrößert, um die Bedeutung des Aktes und des Fotos noch einmal herauszuheben.

Die Frage, ob es immer noch solche Bücher braucht erübrigt sich, solange auch nur eine Nachricht von Angriffen auf Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder sexueller Orientierung über die Bildschirme in höchster Auflösung flackert. Und auch wenn diese Meldungen einmal verschwunden sind, ist es immer noch wichtig, um daran zu erinnern. Dieses Buch leistet mehr als nur einen Beitrag dazu.

Der Untergang des Hauses Usher

Wenn Klassiker in ein neues Kostüm gezwängt werden, hat das immer einen faden – nach „Gewollt-Aber-Nicht-Gekonnt“ wirkenden – Beigeschmack. Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Klassiker durchaus im neuen strahlenden Gewand erscheint. Im Falle von „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe wurde das maßgeschneiderte Gewand von Andrea Grosso Ciponte nach der Adaption von Dacia Palmerino mit derart facettenreichen Accessoires ausgestattet, das der Begriff Opulenz dagegen wie ein abgenutzter Kartoffelsack um die Ecke schielt.

Die düstere Geschichte des Masterminds Edgar Allan Poe aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts regte schon bei Erscheinen die Phantasie an. Und das nicht zu knapp. Die Einen sehen darin eine unglückliche Liebe, Andere den Wahnsinn in seiner reinsten Form. Der Ich-Erzähler – im Comic oder Graphic novel mit einer frappierenden Ähnlichkeit mit Poe ausstaffiert – eilt seinem Freund Roderick Usher zu Hilfe. Er soll ihm in schweren Zeiten beistehen. Als er das Anwesen der Ushers erreicht, ist er schockiert vom desaströsen Zustand seines Freundes. Als die Schwester Rodericks stirbt, wird eine Maschinerie in Gang gesetzt, die nur ein Ende kennt: Den wortwörtlichen Untergang des Hauses Usher.

Beim Lesen der Kurgeschichte schauert es den Leser ab der ersten Seite. So vieldeutig ist die Erzählung des herbeigeeilten Freundes. Und so unnahbar ist sie. Dieses schmale, im einzig wählbaren Großformat daherkommende Buch, schließt die möglichen Vorstellungslücken des Lesers. Zarte Pinselstriche, verschwommene Konturen zeichnen ein derart klares Bild der Geschichte, so dass keine Fragen mehr offen bleiben. Wenn das Grau der Dämmerung mit dem Grün des Morasts (seelisch und geographisch) eine Liaison eingeht, erhebt sich keiner, um dieser Allianz den Segen zu verweigern. Dämonen umkreisen nicht nur die Figuren, auch dem Leser wird beim Eintauchen in Buch und Geschichte ganz anders. Es fehlen lediglich die Soundeffekte. Nein, die fehlen nicht wirklich. Denn sie würden nur den optischen Eindruck aus seiner schweren Tiefe heben. Und das darf bei dieser Geschichte niemals passieren!

Ob man nun eingefleischter Poetiker (?) ist oder Neuling auf dem Gebiet der schaurigen Romantik – eines steht fest: Diese Version des Klassikers hat das Zeug selbst zum Klassiker zu werden.

Leipzig außergewöhnlich – Impressionen

Da machen selbst gebürtige Leipziger – Leebzscher – große Augen! So schön ist die Stadt. Klar. Lokalpatriotismus ist die ehrlichste Form des Stolzes. Aber, dass es doch tatsächlich Ecken gibt, die man selbst noch nicht kennt … so muss es doch sein. Denn nur die Veränderung bringt Erstaunen hervor.

Wer Leipzig noch nicht so gut kennt, der wird in diesem Buch eine Offenbarung erleben. Abwechslungsreich ist es hier an der Pleiße. Der viel bemühte Vergleich, dass Tradition und Moderne Hand in Hand gehen, trifft hier wirklich zu.

Da blättert man sich durch Stadtansichten, bei denen man sich als Eingeborener den Kopf zerbricht, wo sich denn nun der Fotograf postiert hatte, um im richtigen Moment (mindestens genauso wichtig wie die Position) den Auslöser zu drücken.

Der bildstarke Band nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch die eindrucksvollen Stadtteile der Metropole, die sich allzu gern als heimliche Hauptstadt Sachsens sieht. Goethe und Mendelssohn-Bartholdy wirkten hier wie Wagner und Schiller. Schwerindustrie und Kultur schlossen sich hier niemals von vornherein aus. Und so verwundert es nicht, dass auf idyllische Parklandschaften im Winterschneepuderweiß nur wenige Seiten später sachliche Industrieeindrücke aus Werkhallen schlussendlich ein stimmiges Gesamtbild ergeben.

Das für einen derartigen Prachtband handliche Format eignet sich nicht nur zum wiederholten Blättern, sondern ist genau deswegen das ideale Geschenk für alle, die einmal die Messestadt besuchten und sie im Handumdrehen ins Herz schlossen. Und sei es „nur“, um die nächste Reise nach Leipzig zu planen. Jede Abbildung ist es wert, dass man sie vor Ort persönlich besucht.

Tag und Nacht, Sommer wie Winter, morgens und abends – hier sind Eindrücke für die Ewigkeit festgehalten. Wenn die Blaue Stunde am idyllischen Karl-Heine-Kanal ehemalige Fabrikgebäude, die heute exquisite Wohngegenden prägen, in satte Farben taucht, kann sich des Eindrucke nicht erwehren, dass diese Stadt ein Juwel ist, das viel schon entdeckt haben, jedoch noch nicht alles entdeckt wurde.

The Doors – graphic novel

Dieses Buch hätte Jim Morrison, dem Sänger der Doors bestimmt gefallen. Er, der Kunststudent, dem Dionysos näher war als Aldous Huxleys „The doors of perception“ – woher der Bandname stammt. Er, die Skandalnudel, der seinen entblößten Jimmy dem Publikum entgegenstreckte. Er, der als Lyriker im Pariser Exil mit seinen Worten die Welt beeindrucken wollte. Er, der vierte im Bund der 27. Ja, Jim Morrison hätte diese Bandbiographie, dieser Comic bestimmt gefallen.

Doors-Fans werden mit diesem Buch nicht fremdeln, weil es eine fremde Art der Auseinandersetzung mit dem Werk einer der einflussreichsten Rockbands ist. Es gibt schon so viele Bücher über die Band. Die Biographie aus dem Produzentenkreis, Reisebände durch Paris auf den Spuren von Jim Morrison, kunstvoll gestaltete Songbooks mit Originalschriften des Masterminds. Nun also der Comic zur Band.

Achtzehn Kapitel – achtzehn verschiedene Künstler, die sich ihrem Stil verpflichtet (hier ist die erste Parallele zu den Doors) den wichtigsten Etappen der Bandbiographie nähern. Die zerrissene Jugend des kleinen Jim, über die ersten zielstrebigen Bemühungen Musik zu machen, erste Erfolge, Skandale bis hin zum jähen Ende der Band.

Rauschhaftes Farbenspiel im Einklang mit dem einzigartigen Rhythmus und dem unverwechselbaren Orgelsound Ray Manzareks, dem virtuosen Gitarrenzauber von Robby Krieger und dem perfekten Taktgeber John Densmore am Schlagzeug. Und mit jedem Umblättern hämmert mindestens ein Song im Kopf mit. Je düsterer der Song, desto düsterer die Bilder. Schwingt sich Jim Morrison euphorisch in andere Sphären hinauf, wird es im Comic dramatisch. Ab sofort wird beim Plattenauflegen von „Morrisons Hotel“ oder dem bedrückenden „The End“ dieser Comic aus dem Regal geholt und malt Bild in die Luft, vor den Augen, im Kopf, die man bisher vermisst hat.

Ein Must-Have für alle Doors-Fans, ein Einstieg für alle, die es noch werden wollen. Eines kann auch dieses Buch nicht: Die Sehnsucht nach guter Musik löschen. Und das ist gut so!