Archiv der Kategorie: Nordlichter

Weiße Rentierflechte

„Solche wie sie kommen nicht zurück“ – alles, wirklich alles auf der Welt hätte Aljoschka lieber gehört. Auch von seiner Mutter. Seine Angebetete ist fort. Mit einem Mal verpufft all das lautlos und unwiderruflich, was er sich für eine Zukunft schon lange ausgemalt hatte. Die Tradition gebietet es jedoch selbst nicht davonzulaufen. Wohin auch? Was wäre dann?

Aljoschkas gehört zum Nomadenvolk der Nenzen, die im Nordwesten Sibirien rentiere züchten. Und sehr stark auf ihre Tradition achten! Die Trauer über die verlorene Liebe – viele haben schon ihre Familien verlassen und kommen nur an Sonnentagen zurück, und beglücken Vater, Mutter, Geschwister mit ihrer Anwesenheit – muss hinfortgewischt werden. Das Leben muss weitergehen. Auch, damit die Gemeinschaft weiterhin bestehen kann. Aljoschka muss nach meiner der Mutter nur eine Frau finden, die kochen und Löcher im Ärmel stopfen kann, die die Fellschuhe trocknet und Feuermachen kann. Tröstendes kann Aljoschka in diesen Worten nicht finden.

Er findet, dass die Traditionen durchaus ein Update vertragen könnten. Wobei er das Wort Update wahrscheinlich nie verwenden würde. Hier, wo er sein wanderndes Zuhause hat, wo seine feste Heimat ist, sind Regeln nicht dazu da, um gebrochen zu werden, sondern um der Gemeinschaft zu dienen. Ohne Regeln wären die Nenzen schon längst ausgestorben.

Und so weicht die Trauer nach und nach dem Opportunismus. Jedoch nicht, ohne das Ziel – mit einer Frau zusammenzuleben – aus dem Auge zu verlieren. Dafür sorgen schon die Alten und Weisen der Gemeinschaft. Und so schlecht hat er es nicht getroffen. Wenn man zusammen ums Feuer herumsitzt, am Teetisch echtes Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt, ist die Welt mehr in Ordnung als Aljoschka es sich momentan vorstellen kann. Doch auch hier herrschen strenge Regeln. Aufstehen bevor das Mahl beendet ist, bringt genauso viel Unglück wie der Dame des Hauses beim Abräumen des Tisches zu helfen. Das Glossar am Ende des Buches ist eine wahre Fundgrube für die Traditionen der Nenzen.

„Weiße Rentierflechte“ ist das erste ins Deutsche übersetzte Buch einer Nenzin. Anna Nerkagi schafft es mit einfachen Worten ein wohliges Gefühl der Geborgenheit beim Leser zu hinterlassen. Der Winter in der Tundra ist mit einem mitteleuropäischen Winter nicht zu vergleichen. Schneefreie Monate gibt es hier nicht. Und wenn’s kälter wird, dreht man auch nicht einfach die Heizung weiter auf. Die traditionelle Behausung, Tschum, ein Zelt, wird im Winter mit einer weiteren Schicht Rentierfelle belegt – das muss reichen. Neben der rührseligen Geschichte um die Sehsüchte des verlassenen Aljoschka, besticht die Autorin mit der Gabe tief verwurzelte Traditionen leichtgängig zu vermitteln. Eine echte Entdeckung!

Schaurig-schönes Europa

Wenn der Urlaub etwas ganz Besonderes werden soll, dann sind außergewöhnliche Orte das Salz in der Traumsuppe dieser Erinnerungen. Die Bilder, die man sich selbst in diese Erinnerungen pflanzt, müssen einem ganz bestimmten emotionalen Bild entsprechen. Auch wenn sie nur für den Bruchteil einer Sekunde vor dem Auge erscheinen oder für die Dauer eines Spazierganges existieren. Mit allen Sinnen wird dieser Moment für Ewigkeit festgehalten.

So wird man beispielsweise in Craco in der Basilikata im Süden Italiens, nahe der Felsenstadt Matera, auf einen Ort treffen, aus dem das Leben schon vor einem halben Jahrhundert geflohen ist. Oder besser gesagt, es wurde aufgegeben als Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach einem Erdrutsch es als zu gefährlich angesehen wurde hier weiterhin zu leben. Zuvor lebten hier mehr als tausend Jahre Menschen. Heute erinnern nicht einmal mehr Glasscheiben an eine Zivilisation. Dass hier ein Leben möglich war, ist dennoch nicht wegzudiskutieren. Straßen und Gassen existieren noch. Auch die Raumaufteilung der Häuser ist noch klar erkennbar. Umgestürzte Möbel verweisen auf ihre ehemaligen Bewohner. Und dennoch herrscht hier eine gespenstische Ruhe. Ein verlassener Ort, der einem den Schauer über den Rücken jagen kann.

Brodelnd und voller Leben – dennoch nicht minder lost place – ist der Rio Tinto in Andalusien. So ein Rot in einem Fluss hat man noch nie gesehen. Baden ist nicht ratsam. Der Sauerstoffgehalt ist zu gering, der Säuregehalt hingegen um ein Vielfaches zu hoch. Optisch ist der Fluss ein Augenschmaus und trägt sicher dazu bei sich auch noch Jahre später genau an das meiste zu erinnern.

Über glasklares Wasser schwebt man förmlich im Höhlensee von Tapolca, nördlich des Balatons. Auch hier fühlt man sich wie in einer fremden Welt. Prächtige Farbenspiele, gespenstische Ruhe und alles unter der Erde. Das Höhlensystem ist vulkanischen Ursprungs und kann heute recht gemütlich bereist werden.

„Schaurig-schönes Europa“ ist ein Reiseband, der bei jedem Umblättern das Reisefieber steigen lässt. Stimmungsvoll in Szene gesetzt und mit verheißungsvollen Texten gespickt, macht dieses Buch Appetit auf echte Abenteuer.

Lesereise Nordirland

Hausboot, Straßenkämpfe, Gartenparadies – auf den ersten Blick eine allzu willkürlich und stark verkürzte Beschreibung dessen, was den Leser in diesem Buch erwartet. Hinzufügen sollte man noch, dass die Autorin Stefanie Bisping regelmäßig auf dem Treppchen bei der Wahl zur Reisejournalistin des Jahres landet. Gold ist ihr näher als Silber. Und somit führt sie den Spruch, dass Schweigen Gold ist, ad absurdum.

Denn Stefanie Bisping schweigt nicht. Sie genießt das Reisen, aber sie schreibt auch darüber und lässt in diesem Fall jeden Wissbegierigen an einem Land teilhaben, das vielleicht immer noch einen Dornröschen-Dämmerschlaf frönt. Noch!

Der Name der nordirischen Hauptstadt Belfast ist ebenso eng mit der Titanic verbunden. Hier wurde das Rekordschiff gebaut, bevor es Monate später nicht minder rekordverdächtig in den Tiefen des Atlantiks versank. In Belfast erinnert heute ein gigantischer Titanic-Komplex an die Katastrophe, aber auch an die Schiffsbautradition der Stadt. Inkl. Kongress-Center, Pubs und natürlich dem größten Titanic-Museum der Welt. Erstaunlich, was an Wissen noch alles aus dieser Geschichte herauszuholen ist. Stefanie Bisping kitzelt wirklich das letzte unveröffentlichte Geheimnis aus dem Gebäude.

Belfast ist aber auch eine der wenigen Städte mit einer Mauer. Während man in Berlin dem antifaschistischen Schutzwall nur noch mit touristisch weit geöffnetem Maul entgegensteht, ist hier die Mauer tatsächlich immer noch Mittel zum Zweck (der Trennung). Und die alljährlichen Umzüge in Orange verleiten diejenigen, denen das Orange ein Dorn im Auge ist, dazu, dass man in die Sommerfrische flieht. Auch eine Art der Konfliktlösung, und nicht die Schlechteste.

Eine Flucht nach Vorn hat auch ein Gärtner angetreten, den die Autorin begleitete. Eigentlich wäre er längst im Ruhestand. Doch die Liebe zu Gärten und Pflanzen ließ ihn das süße Leben vergessen, und er trat einmal mehr in den floralen Dienst ein.

Große Geschichte und kleine Geschichten hat Stefanie Bisping gefunden, oder sie ließen sich von ihr finden. Immer wieder staunt man über jede einzelne. Und man möchte sofort selbst auf die grüne Insel fahren, wo immer noch tagein tagaus Traditionen gelebt werden. Das beginnt nicht erst bei Halloween und hört noch lange nicht beim Bier- und Whisky-Trinken auf.

Die Landschaft hat immer recht

Was für ein Titel – „Die Landschaft hat immer recht“. Auf dem Cover ein einsames Haus und jede Menge Meeresgetier. Schon allein dieses Bild erweckt im Leser eine Vorstellung von dem, was ihn erwarten wird, schlägt er die erste Seite auf.

Doch es kommt ganz anders. Oder besser: Es wird ihn umhauen! Denn – ja, es geht um Fischer und ihre Einsamkeit in der selbst für isländische Verhältnisse trostlosen Gegend – hier kommt eine geballte Ladung Energie auf den Leser zu. Das mag auf den ersten Blick missverständliche aussehen. Halldor ist der Fischer, um den es geht. Er lebt in einem Fischerwohnheim. Hier leben tatsächlich nur Fischer – noch. Man vertreibt sich die zeit mit Spielen, Geschichten von der Arbeit und den Fragen des Lebens wie „Sind Schafe Engel?“. Für die Schönheit der Landschaft hat man wenig übrig. Das Augenmerk der Männer, die in diesem Fischerwohnheim leben, ist in die andere Richtung gerichtet. Aufs Meer. Immer den Horizont im Blick. Und die Fischernetze. Schließlich geht es um den Fangerfolg. Und doch spürt jeder, das hier was fehlt. Ohne es auszusprechen. Wenn sie sprechen, dann ist das Gesagte roh und unverschnörkelt. Eine Frau passt hier nicht rein.

Und trotzdem passiert das Unerwartete. Eine Haushälterin tritt über die Schwelle. Per Annonce hat man sie gesucht – und scheinbar auch gefunden. Halldor spürt mit einem Mal, das noch mehr als Fischer, Netze, Erfolge, Spiele, Zänkereien sein Leben ausmachen. Hier ist etwas im Gange, das er zwar kennt, aber noch lange nicht weiß wie er damit umzugehen hat.

Bergsveinn Birgisson ist ganz behutsam, um die Stille der Einsamkeit nicht zu stören. Auf sanften Pfoten schleicht ums Haus, um die Bewohner und zwickt sie in ihr Gewissen.

Nicht erst beim Zuklappen des Buches ist man baff erstaunt wie ruhig eine so aufwühlende Situation beschrieben werden kann. Wie in einem Meditationsritual führt der Autor den Leser durch seine Geschichte.

Stadtabenteuer Hamburg

In Hamburg sagt man Tschühüß – tschüß zu den immer wiederkehrenden Abenteuern, die für viel Geld einen überschaubaren Spaß sorgen. Für den man auch noch bezahlen muss. Die Stadtabenteuer-Reihe aus dem Michael-Müller-Verlag lässt die allgegenwärtigen Highlights nicht außer Acht – was ist Hamburg ohne Hafenrundfahrt und Reeperbahnbummel? – geht jedoch noch ein paar Schritte weiter. Also, der Leser geht noch ein paar Schritte weiter, um Hamburg derbe kennenzulernen.

Autor Matthias Kröner – der Mann hinter den Stadtabenteuern – zog es vor Jahren in den Norden. Und er versteht es wunderbar, dem Leser diese Perle näherzubringen. Und dazu gehören nicht zwingend die Photo-Hotspots, wo man innehält, die Kamera im Anschlag und auf den entscheidenden Moment wartet, um das Bild seines Lebens zu machen.

Im Hamburg gehört zweifelsohne auch ein Spaziergang durch das Schanzenviertel dazu. Sich einfach mal treiben lassen. Hier tobten vor ein paar Jahren heftige Kämpfe während des G20-Gipfels. Ein gewisser Olaf Scholz, Bürgermeister der Hansestadt, tat sich damals durch kompromisslose Härte hervor. #damalswars Das Viertel hatte somit seinen Ruf wech. Dass die Randalierer nun keineswegs eine Meldeadresse (sofern vorhanden) in der Schanze hatten, erkennt man beim bloßen Bummeln sofort. Der alternative Kiez unterliegt großen Veränderungen, bewahrt sich aber dabei seinen eigenen Charme. Und wer mal zu nachtschlafender Zeit noch einen Absacker braucht (eine Bar mit zwölf Zapfhähnen sollte fürs gröbste ausreichend sein), sich kulturell berieseln lassen möchte oder einfach nur den Moment gehaltvoll erleben möchte, der kommt hier an jeder Ecke auf seine Kosten. Der Bericht vom Besuch eines Poetry-Slams mit Musik und allerlei, was sonst noch zu einem gelungenen Kulturabend trifft den Nerv der Schanze exakt. Auch so können Reisebücher sein.

Ausgefallene Shops, Tretbootfahren auf dem Hamburger Meer oder auch mal eine Buchhandlung, die sich ausschließlich einem Thema widmet … welches das wohl ist, in einer Stadt in Meeresnähe?! – wer die ausgetretenen Pfade der Hansestadt zu seinem persönlichen Œuvre zählt, also meint schon alles gesehen zu haben, der wird nach so manchem Seitenumblättern sich verschämt zurückziehen und ganz kleinlaut einen Trip gen Hamburg vorschlagen. Und dann kann er aber mal so richtig sein Wissen kundtun.

Die Himmelskugel

Berühmte Wissenschaftler sind immer ein gern genommenes Thema für Autoren. Allein über Albert Einstein wurden so viele Bücher geschrieben, dass sie locker ein ganzes Fußballstadion füllen können. Und immer wieder tauchen neue Erkenntnisse über die Protagonisten auf, so dass es sich durchaus lohnt auch immer wieder ein neues Werk zu lesen. Den Fortschritt hält halt niemand auf. Sie ist die Treibfeder des Forscherdrangs.

So muss sich auch Angus fühlen. Der Junge lebt auf St. Helena, eine Insel, die erst über ein Jahrhundert später berühmt werden sollte. Als schlussendliches Exil von Kaiser Napoleon.

Dieser Angus ist ein aufgeweckter Junge. Er beobachtet Vögel: Und weil er zählen kann – keine Selbstverständlichkeit im 17. Jahrhundert – darf/muss er sie auch zählen. Für wissenschaftliche Zwecke. Das ist seine Arbeit bei Tag. Hoch oben in den Bäumen, festgezurrt. Des Nachts hingegen beobachtet er die Sterne. Nicht aus Zeitvertreib. Auch hier wieder: Er kann zählen, und diese Fähigkeit soll er einsetzen.

Von Edmond Halley hat er gehört. Ein großer Wissenschaftler im weit entfernten England. Heute bekannt und immer wieder aus der Mottenkiste gekramt, wenn der von ihm entdeckte und nach ihm benannte Komet in Sichtweite rauscht. Schon allein die Tatsache, dass der Junge Angus von der Insel St. Helena im weit entfernten England (und damals war das eine fast unüberwindbare Entfernung, wenn man kein Seemann war) anlandet, ist ein echtes Abenteuer. Heute würde man ihn als illegal eingereisten Immigranten brandmarken. Kurzum: Als blinder Passagier reist er nach England, zu Halley. Angus ist am Ziel seiner Träume. Er soll Edmond Halley um Hilfe bitten. Denn auf St. Helena stehen die Zeichen auf Sturm.

Nun beginnt für ihn die aufregendste Zeit seines Lebens.

Olli Jalonen schreibt keine umfassende Biographie über einen der berühmtesten Wissenschaftler. Er seziert einen Teil seines Lebens bis ins Kleinste. Europa ist immer noch im Umbruch. Was in der Renaissance begann, wirkt bis heute nach. Die Allmacht der Kirche ist gebrochen. Wissenschaftliche Denkweisen und technische Errungenschaften lassen jahrhunderte alte Denkstrukturen und Dogmen in sich zusammenbrechen. Ein kleiner Junge als Denkanstoß, ein heller Geist und der Drang nach Erkenntnis kollidieren auf engstem Raum. Wer bisher mit Edmond Halley bisher nicht allzu viel in Verbindung brachte, liest man sich schnell in einen Rausch. Ganz behutsam, kein Detail außer Acht lassend, kreiert Olli Jalonen ein Universum, das in sich geschlossen ist, dennoch unendliche Weiten in sich aufnehmen kann.

Ostseestädte

Mal wieder na die Ostsee fahren. Die Seeluft schnuppern. Die Gezeiten nur ganz sanft wahrnehmen. Klingt nach einem leicht greifbaren Urlaubstraum. Und schon beginnt das Dilemma. Wohin an die Ostsee? In eines der vornehmen Kaiserbäder mit der einzigartigen Architektur. Oder doch lieber in die historischen Ecken, die Geschichtsfans zwischen Betroffenheit und waghalsiger Heimatliebe schwanken lassen? Oder auf eine der zahllosen Inselchen vor der skandinavischen Küste? Ziemlich schnell wird klar, dass die Ostsee eben nicht nur All-inclusive-Sonne-Strand-Destination ist, sondern ein Füllhorn an Attraktionen zu bieten hat. Allein schon die Vielfalt an Städten lässt den mäßig gelaunten Urlaubsplaner schier verzweifeln. Man kann sich nun durch einen beträchtlichen Bücherberg durcharbeiten, um das Passende für sich auszusuchen oder … man greift zu einem Reisebuch, das sogar ein Rundreise durchaus nachvollziehbar erscheinen lässt.

Von Kiel ausgehend einmal gegen den Uhrzeigersinn bis nach Oslo. Auch wenn Oslo nicht direkt an der Ostsee liegt, was sie als einzige Stadt dieses Buches von den anderen unterscheidet, reist man immer am Meer entlang. Man muss aber nicht, man darf dieses Buch nicht als Reiseanleitung für eine Ostseeumrundung ansehen. Es ist ein gewaltiger Appetitmacher für die baltischen Städte. Lübeck, Rostock, Gdansk, Kaliningrad, Klaipéda, Riga, Tallinn, Sankt Petersburg, Helsinki, Stockholm, Visby auf Gotland, Rønne auf Bornholm, Kopenhagen – na, wenn das mal kein Reiseangebot ist?!

Fast jeder hat zu mindestens einer dieser Städte eine Verbindung. Und mitten im Lesen – diesen Reiseband kann man wirklich von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen, und nicht nur stichprobenartig – wird der Erfahrungsschatz immer größer. Ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Und ehe man sich versieht ist die Sehnsucht zu einem handfesten Plan verwandelt worden.

Die Autoren nehmen sich Zeit, um die Städte nicht einfach nur vorzustellen, so dass man nach der dritten Stadt das Gefühl hat „kennt man eine, kennt man alle Städte“. Sie zeigen unaufdringlich, was man unbedingt sehen muss, um die Einzigartigkeit der Städte am (Binnen-) Meer erlebbar zu machen. Geschichte, Einkaufstipps, Aussichtspunkte, Orte zum Verweilen in Hülle und Fülle, ohne dabei Wichtiges aus Platzgründen wegzulassen, fordern den Leser heraus es ihnen gleich zu tun. Da ergibt man sich gern, und lässt sich (an-)treiben, um ja nicht etwas zu verpassen, das die Autoren so sorgsam zusammengesammelt haben. Eine Inspirationsquelle, die lange anhält und viele Reisen im Handumdrehen planbar macht.

Die Sommerhäuser der Dichter

Was braucht ein Dichter, um sich frei entfalten zu können? Die Ruhe der Abgeschiedenheit oder den Trubel der weiten Welt? So unterschiedlich die Dichter, so unterschiedlich sind auch ihre Sommerhäuser. Bertolt Brecht zog sich mit Helene Weigel nach Buckow bei Berlin zurück. Idyllisch am See gelegen, bürgerliches Ambiente. Soviel Kapitalismus muss ein Kommunist aushalten … in Brechts Fall war es sogar gewünscht. Um sich in der DDR niederzulassen, erfüllte die Staatsführung ihm fast jeden Wunsch. Dem des abgelegenen Sommerhauses auf alle Fälle.

Weitaus feudaler residierte da schon Jean Cocteau vor den Toren von Paris. Bis heute ist der Garten unverändert, in seinen Mauern sind Gemälde von Weltrang zu besichtigen. Cocteau lebte in Milly-la-Forêt siebzehn Jahre. Den Trubel der Metropole holte er sich gelegentlich ins Haus.

Trubel konnte Heinrich Böll in seinem Versteck in der Eifel nicht gebrauchen. Schon gar nicht als 1974 Alexander Solschenizyn hier Asyl fand. Bis heute ist dieses Haus eine Zufluchtsstätte für verfolgte Dichter.

Versteckt, bis heute nicht ohne eine Portion Forscherdrang zu entdecken, liegen die Rückzugsorte von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard sowie von George Bernard Shaw. Ausflüge ins Ländliche waren für Woolf Alltag. Shaw hingegen ließ sich einen drehbaren Arbeitsplatz einrichten, um stets der Sonne folgen zu können. Noch einsamer mochte es Hermann Hesse, der gleich am Eingang mit einem Schild auf seine unbedingte Bitte Abstand zu halten hinwies.

Die meisten Häuser, die einmal das Zuhause eines berühmten Kopfes waren, sind heute als Museen zu besichtigen. Dank der unermüdlichen Arbeit von Stiftungen und/oder Nachfahren sind ihre Refugien zu einem Hotspot der Wissbegierigen geworden. Im Fall von Arthur Rimbaud liegt der Fall etwas anders. Auch hier wieder Idylle soweit das Auge reicht. Doch der streitbare Dichter fühlte sich hier in keiner Weise wohl. Das Licht, die Piefigkeit trieben ihn wieder gen Paris. Über hundert Jahre später wurde es verkauft, der Preis dafür: So um die 50.000 Euro. Munkelt man. Die neue Besitzerin verehrt Rimbaud. Parallelen zwischen ihrem und seinem Leben sind vage vorhanden. Er war und ist für sie purer Rock ’n Roll. Ihr Name: Patti Smith.

Von Tanger über Weimar bis Nidda, von Thomas und Klaus Mann über Günter Grass und Anton Tschechov bis William Burroughs – dieses Buch befeuert die Neugier des Lesers. Die Texte laden ein dem Forscherdrang nachzugeben und dem Einen oder Anderen über die Schulter zu schauen und das zu sehen, was die Dichter einst aufsaugten. Die Resultate dieses Aufsaugens sind weltbekannt. Ein Besuch bei Dichters hilft deren Schriften zu verstehen. Hier hält man einen der originellsten Reiseappetitmacher überhaupt in den Händen!

Stadtabenteuer Stockholm

Wenn man schon mal hier ist – dann muss man auch alles mitnehmen, was mitzunehmen ist. Wenn man schon mal hier ist – so lautet auch eine Rubrik am Ende eines jeden Kapitels. Wenn man schon mal hier ist – braucht man dieses Buch.

Stockholm als schlummernde Grazie zu bezeichnen, ist noch richtig. Doch die Hauptstadt Schwedens erwacht immer öfter, immer früher, immer heftiger. Waren noch vor zwanzig Jahren nur eine Handvoll Städte auf der To-Do-List für Cityhopper, so sind es mittlerweile so viele, dass man sie kaum noch zählen kann. Und immer öfter wird die schwedische Hauptstadt genannt. Zu Recht, das wissen auch Antje und Johannes Möhler.

Die den Kinderschuhen entwachsene Buchreihe Stadtabenteuer, geht in eine neue Runde. Und den Auftakt dieser Runde macht Stockholm. Eine zerklüftete Stadt, die aus unzähligen Inseln und Inselchen besteht. Klar, dass man hier noch echte Abenteuer erleben kann. Das Abenteuer beginnt schon auf der ersten Umschlagseite. Sieben Fragen, die natürlich alle im Buch beantwortet werden, führen den Neugierigen auf die richtige Fährte.

Warum nicht mal in einem Museum ein Abenteuer erleben? Klingt auf den ersten Blick nicht besonders dramatisch. Muss es ja auch nicht werden. Aber allein schon die Vorstellung, dass es möglich ist… Die Rede ist vom Schnapsmuseum. Nicht nur gucken lautet hier die Devise. Und wenn man schon mal hier ist … das ist es wieder … um die Ecke kann man dem dicken Kopf, dem Kater, wie auch immer, noch mehr Futter geben. Der Vergnügungspark Gröna ist gleich um die Ecke. Wem dieses Abenteuer doch zu abenteuerlich ist, der nüchtert beim Spaziergang durch die Wälder der Insel Djurgården aus. Auch das Wasamuseum lässt den Kopf schnell das Hochprozentige Abenteuer vergessen.

In Stockholm ist sogar eine Shoppingtour ein Abenteuer. Upplandsgatan und Odengatan lauten die Zauberworte, die die Autoren zum Flanieren verleiten. Retrochic und echte Unikate warten hier nur darauf endlich aus der Versenkung geholt zu werden.

Stockholm als einzigartiger Abenteuerspielplatz? Ja, aber. Natürlich rennt man nicht mit brennender Fackel und Säbel zwischen den Zähnen durch die Stadt, um sich wie ein Abenteurer zu fühlen. Man erobert sie auch nicht, um sie sich Untertan zu machen. Vielmehr lädt dieses außergewöhnliche Reisebuch dazu ein, vieles fernab der festgetrampelten Pfade selbst zu entdecken. Antje und Johannes Möhler halten sich nicht still im Hintergrund, vielmehr stupsen sie den Leser und Besucher der Stadt immer wieder an, den nächsten Schritt zu wagen. Wenn das kein Abenteuer ist?!

Die Reise der Narwhal

Ich packe mein Expeditionsschiff. Ich nehme mit: Einen Kapitän, einen Aktenlurch, Whiskey, den Gönner in fast genauso rauen Mengen schicken wie gestrickte Handschuhe, Pflaumen (auch eine Gabe einer herzensguten Dame, die den Forschern „was Gutes tun will“), Plumpudding, gepökeltes Fleisch, Mikroskope, Chronometer, Arsenseife, Siegelwachs – was man halt so braucht, um Mitte des 19. Jahrhunderts in die Arktis aufzubrechen. Was selbst heute noch ein nicht ganz risikoloses Unterfangen ist – allerdings durch endlose Berechnungen und permanente Kontrolle durch Satelliten etc. eher einer Weichspülvariante gleichkommt – war vor mehr als anderthalb Jahrhunderten ein Himmelfahrtskommando.

Durch eine Zeitungsannonce wird Erasmus Wells auf die Expedition aufmerksam. Das traut ihm kaum einer zu. Zwischen Akten und verstaubten Papieren fühlt er sich doch sonst am wohlsten. Ein letztes Aufbäumen gegen die Lethargie des Alltags? Oder doch echter Abenteuergeist? Der Norden ruft. Die Arktis ruft. Der Nordpol ist noch nicht entdeckt, geschweige denn nachweislich besucht worden. Unter diesen Vorzeichen sticht die „Narwhal“ in See.

Bis die Reise ins Stocken gerät. Bis dahin hat man sich, sofern möglich und gewünscht, ganz gut amüsiert. Bis eben noch hat man ganz gut geforscht. Die Ruhe um die Crew herum ist ein echter Motor für Geistesarbeit. Doch nun steckt man fest. Das Eis der Arktis umschließt die Narwhal, und somit auch seine Besatzung, mit dem kristallisiertem Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch, das als unbezwingbares Eis allen an Bord nach und nach die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Liebsten nimmt.

Aus Tagebuchaufzeichnungen, ihrem Wissensschatz (sie ist Zoologin) und der unbändigen Lust Geschichten zu erzählen, macht Andrea Barrett einen historischen Roman, der seinesgleichen sucht. Immer wieder lässt sie die Situation hoffnungslos erscheinen, und immer wieder lässt sie einen Funken Hoffnung am Horizont die Stimmung heben. Das Spiel von Macht und Ohnmacht, das Spiel zwischen den Geschlechtern (an Bord sind fortschrittlicherweise Vertreter beiderlei Geschlechts) sowie der Drang zu überleben, bilden in „Die Reise der Narwhal“ eine heilige Allianz. Die Hauptakteure hat sich die preisgekrönte Autorin ausgedacht. Die Spieler im Hintergrund – Nebendarsteller, die die Handlung vorantreiben, in einer supporting role – waren reale Gestalten ihrer Zeit. Ohne Kitsch und Klischees versteht es Andrea Barrett den Leser in den Bann des ewig erscheinenden Eises zu ziehen. Die Abwechslung, die den Akteuren zu fehlen scheint, erlebt der Leser auf über vierhundert Seiten immer wieder aufs Neue.