La Marca – Sizilien

Alles klar, Herr Kommissar? In diesem Fall muss man zugeben: Ja. Alles klar. Die Opfer – bekannt, zu gute Bekannte kann man schon fast sagen. Auch die Täter haben schon bald eine Namensschild um den Hals hängen. Also, alles klar! Und wie soll man daraus nun einen spannenden Krimi machen?

Commissario Vittorio Spotorno ist dafür genau der richtige Mann. Sein Revier ist Palermo. Seine Klientel sind die Mörder, die der Stadt ihr unverkennbares Klischee bescheren. Doch Vittorio Spotorno ist mehr als eine Spürnase, die jeden Fall löst, jeden Killer zu Fall bringt. Er sinniert gern über das Leben in der Stadt, die er so liebt und die so vielen ins Gesicht spuckt.

Fünf Menschen hat sie bereits ins Gesicht gespuckt. Sie sind tot. Die Morde hängen zusammen. So viel steht fest. Und jeder Zeuge, die stummen wie die lautstarken hat seine eigene Version. Soll Vittorio Spotorno nun alle Puzzleteile zusammenfügen, um vor seinem Chef das perfekt ausgeleuchtete Bild nicht perfekter Morde auszustellen? No. Ihm geht es vielmehr darum die genauen Tathergänge zu eruieren. Das ist seine Aufgabe, seine Passion. Schon als kleiner Junge wollte er Polizist werden. Nun ist er es. Und er sieht das so: Wenn man etwas will, es dann auch noch bekommt, muss man es in Ehren halten.

Apropos Ehre. Sizilien, Palermo, Ehre. Da ist man schnell bei Mafia, Omerta, dem Gebot des Schweigens. Santo Piazzese bedauert im Vorwort, dass es immer noch keinen echten Palermo-Roman gibt, der der Hauptstadt Siziliens ein echtes literarisches Gesicht gibt. Es gibt sehr wohl Bücher, die den einen oder anderen Aspekt zum Thema haben und einen Hauch von Palermo-Gefühl vermitteln. Aber eine allumfassende Darstellung der Stadt gibt es bisher noch nicht. Selbst die großen Söhne der Insel Leonardo Sciascia, Luigi Pirandello und Andrea Camilleri haben nicht den einen Palermo-Roman verfasst. Sie waren auch keine Palermitani, stammten aus dem Süden der Insel.

Santo Piazzese nimmt nicht für sich in Anspruch diese Lücke im Bücherregal zu schließen. Aber er verengt die Leerstelle um einen beträchtlichen Teil. Schon auf den ersten Seiten wird die Stadt so greifbar, wie es die meisten Bücher über die Stadt zusammengenommen nicht schaffen. Hier atmet alles. Die zu trocknende Wäsche über den Gassen ist Palermo wie die einzigartige Küche mit ihren fremden Aromen. Und so muss man sich auch diesem Kriminalroman stellen. Es ist der dritte Teil nach „Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia“ und „Das Doppelleben von M. Laurent“. Die Täterjagd rückt niemals ganz in den Vordergrund des Buches. Der stets präsente Commissario, der nur selten dieses nostalgische Klischee vom adretten Ermittler in glänzender Uniform erfüllt, ist einer, dem man alles anvertrauen kann. Mit ihm einen Rundgang durch Palermo zu machen ist eine Reise, die man niemals vergisst.

La Marca – ein Name wie ihn vielleicht ein zwielichtiger Ganove trägt. Einer, dem man seine kleinen Teufeleien einfach nicht übel nehmen kann, weil er durch und durch charmant ist. Doch Lorenzo La Marca ist Biologie-Professor. Und der Erzähler dieser hinreißenden Geschichte.

Er findet einen Toten. Mitten im Ficus magnoloidis. In einem monströsen Ficus. Mitten in Palermo. Da hängt tatsächlich Montalbani. Das erkennt der Professor nicht auf Anhieb, doch letztendlich ist die Sache klar. Und Vittorio Spotorno, der Bullenfreund, ist auch bald da. Tja, was anfangen mit dem kriminellen Samstag? Mitten in der Schirokko-Saison. Wenn die Luft zum Schneiden ist.

La Marca seziert die Geschehnisse wie ein Mann der Wissenschaft. Er wandert durch seine Stadt, Palermo. Hier ist er das Urgestein, das Symbol dieser Stadt, die außerhalb der Stadtgrenzen einen so grausigen Ruf „genießt“. La Marca taucht in ihr nicht unter, er zieht den Leser in eine Welt, die der so noch nicht kannte. Es sei denn, man hat den Vorgänger „Blaue Blumen zu Allerseelen“ gelesen. „Schirokko und (andere) heiße Verbrechen“ ist der zweite Teil der Palermo-Trilogie von Santo Piazzese.

Zusammen mit dem Erzähler Lorenzo La Marca flaniert man über prächtige Boulevards, biegt in schummrige Gassen ein, schlendert durch Cafés und Bars, liebt die erholsamen Ruhepausen auf Bänken und in Restaurants, atmet die Stadt, fühlt ihren Puls.

Nur Vittorio Spotorno kann dieser Stimmung nichts abgewinnen. Er muss schließlich den Mord an Montalbani aufklären. Und er hat nur wenige Anhaltspunkte. La Marca hingegen – und das obwohl er den Mord ja eigentlich (!) gar nicht aufklären will – kann gute Freunde in der Gerichtsmedizin und die amerikanische Verlobte des Toten zurückgreifen. Und während der Schirokko die Stadt nur scheinbar zu lähmen scheint, geht das Leben zwischen den Gemäuern weiter…

Während ein Flug von Deutschland aus rund zwei, zweieinhalb Stunden dauert bis man sich endlich von Palermo in den Arm nehmen lassen kann, dauert es beim zweiten Teil der Palermo-Trilogie nur wenige Zeilen. Schon nach dem ersten Umblättern ist man Teil dieser Stadt, die grausam und liebevoll in Einem zu sein scheint. Die Magie ihrer Bewohner und das Flair der Gemäuer, Straßen, Parks und Aussichten lässt Santo Piazzese niemand außer Acht. Rundumbetreuung für den Palermo-Süchtigen inklusive eines Mordes, der dann doch nicht ganz dem Klischee Palermos entspricht. Ein Klassiker, ironisch, fesselnd und vor allem … unverwüstlich!


Nun ist es also da, das Ende. Das Ende der Palermo-Trilogie. Man will es gar nicht wahrhaben, dass die Geschichten um Lorenzo La Marca und seinen Bullenfreund Vittorio Spotorno ein Ende haben sollen. Ein letztes Abendessen eröffnet den ereignisreichen Abschluss der Reihe. Es ist Ende Oktober in Palermo. Draußen wütet der Himmel – auch er scheint das drohende Ende nicht annehmen zu wollen. Vittorio und seine Frau haben reichlich aufgetischt. Die Gespräche sind die Gespräche unter Freunden. Lorenzo kommt dieses Mal seinem Freund zuvor als er das Thema Frauen anschneidet. Ja, es hätten so viele schöne Abende, Picknicks oder Stunden sein können, in denen die beiden Männer mit ihren Frauen zusammen eine schöne Zeit hätten verbringen können. Doch Lorenzo, der Biologieprofessor, hat sich für seinen Alleingang entschieden. Noch.

Denn Michelle, die Gerichtsmedizinerin, ist wieder in sein Leben getreten. Nicht zum ersten Mal. Doch dieses Mal sind die Karten neu gemischt. Irgendwie hat irgendwer König und Dame beieinander gelegt.

Der Abend wird abrupt beendet als das Telfon schrillt. Wieder ein Abend ohne natürliches Ende, denkt sich Amalia, Spotornos Frau, und schnaubt. Kaum wahrnehmbar, doch merklich resigniert. Lorenzo fährt durch die regennassen Straßen Palermos – mehr als nur eine Idee für den nächsten Trip in die Stadt, die sich gern als La Felicissima bezeichnen lässt. Am Tatort angekommen, wird Lorenzos stiller Wunsch erfüllt. Michelle ist anwesend. Und hier beginnen auch schon die Verwicklungen. Arbeit und Privates gehen mit einem Mal eine unheilige Allianz ein. Und um den Fall zu lösen, muss man Palermo verlassen. Und das Private genauer untersuchen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob Schwarz und Weiß nicht doch ab und zu im Grauen ihr wahres Gesicht zeigen.

Santo Piazzese hat mit den ersten beiden Bänden seine Trilogie unaufhörlich bewiesen, dass er seine Stadt lesen kann wie kaum ein anderer. Er beschreibt ihre Bewohner, ihre Denken und Handelns derart anschaulich, dass man sich nun – beim Lesen des dritten Bandes – fast schon als einer der ihren verstehen möchte. Ein Trugschluss! Selbst die Palermitani verstehen sich kaum. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der Stadt. Das Unerforschte, das noch zu Entdeckende – auf alle Fälle ist man dank Santo Piazzese mehr Einheimischer als so mancher sich ängstlich umblickender Sandalen tragender Touri, der bei Anbruch der Dunkelheit das Hotelzimmer nicht mehr verlässt. Ja, es sind Kriminalfälle, die der Autor dem Leser mit ungeahnter Wortwucht präsentiert. Doch an der Hand dieser wuchtigen Präsenz der Worte führt er die Neugier auf eine der vielfältigsten Städte der Welt. Diese Neugier weckt in jedem, der sie für sich entdeckt, die Sehnsucht zwischen alten Palazzi und dunklen Straßenfluchten selbst auf Erkundungstour zu gehen.