Duca Lamberti – Mailand

 

Das Leben bis hier hin: Dr. Duca Lamberti wuchs wohlbehütet in der Lombardei auf. Ausflüge mit dem Rad in die Brianza waren ein Glück für ihn. Er wurde Arzt. Bis ihn eines Tages Sofia Maldrigati über den Weg lief. Sie war schwerkrank. Hatte unerträgliche Schmerzen. Und die Überzeugungskraft Lamberti für sich einzuspannen. Aktive Sterbehilfe heißt das. Und es ist illegal. Dafür musste Lamberti sitzen. Und er verlor seine Approbation.

Das Leben bis hier hin: Pietro Auseri ist der Plastikkönig Italiens. Sogar eine Plastikart hat man nach ihm benannt. Einziger Makel ist sein Sohn Davide. Seit einiger Zeit nimmt er colazione, antipasti, primo e secondo piatto in geistreicher, sprich flüssiger Form zu sich. Auseri senior, will, dass Lamberti als ausgewiesener Spezialist – ihrer beider Freund Kommissar Carrua hat zwischen den beiden Herren vermittelt – sich um Davide kümmert.

Körperspannung ist dem langen Schlacks fremd. Ein ansehnliches Exemplar seiner Familie. Lamberti sieht noch einen Funken Hoffnung am Horizont. Nur warum ausgerechnet er, dem antriebslosen Sohn des Industriellen helfen soll und kann, ist ihm noch schleierhaft. Da platzt es aus Davide heraus. Es ist wegen Alberta Radelli. Sie, die er vor einem Jahr umgebracht hat. Was anscheinend der Vater weiß und nun versucht unter den teuren Familienteppich zu kehren. Oder ist Lamberti der richtige Mann, weil er schon mal ein „Problem beseitigt hat“?

Auf alle Fälle ist Duca Lamberti nun einem echten Fall auf der Spur. Er ist nicht mehr nur das „Kindermädchen“ für einen unartigen Spätpubertierenden, der nicht weiß, wann Schluss sein muss. Nein, er hat einen Mörder an die Hand bekommen. Den er vor dem Schlimmsten bewahren soll…

Schnell, fast schon zu schnell, kommt Lamberti auf den Dreh, dass Davide gar kein Mörder sein kann. Schon gar nicht von der törichten Alberta. Ja, sie stieg ziemlich nassforsch in sein Auto, als er leicht frustriert von der „Brautschau“ durch die Straßen Mailands fuhr. Ja, sie fuhr mit ihm herum. Ja, sie nahm sein Geld (sie forderte es schließlich auch ein). Ja, sie wollte nicht zurück nach Mailand, hatte sogar panische Angst davor. Wollte sich umbringen, wenn er sie zurück nach Mailand brachte. Und ja, nun ist sie tot. Aber Davide war es nicht! Dahinter steckt … Lamberti ist sich noch nicht ganz sicher. Es hat auf alle Fälle mit Prostitution zu tun. Und einer ganzen perfiden Art der Anwerbung.

Giorgio Scerbanenco gelingt es mit einer Batterie von Wörterbüchern den Leser im Handumdrehen an seinen Helden, dem gefallenen Engel (-macher) Duca Lamberti, zu fesseln. Er lässt nicht permanent heraushängen, dass ihm die Gerechtigkeit näher ist als das Gesetz. Er handelt nach seinen Regeln, im Rahmen des Machbaren. Scerbanenco verhalf mit seiner Lomardi-Tetralogie dem italienischen Krimi zu einem ungeahnten Höhenflug anzusetzen. Zu Recht!

 

Das einzige, was niemals ruht, ist die Vergangenheit. Und der Typ mit dem unlähmbaren Daumen, der an Duca Lambertis Klingelfestzukleben scheint. Silvano Solvere heißt die personifizierte Antipathie, die nun mittlerweile bei Lamberti sitzt und um eine Hymenalplastik bei einer jungen Frau bittet. Duca Lamberti, der Arzt, dem die Arbeitsberechtigung wegen aktiver Sterbehilfe entzogen wurde, der dafür drei Jahre im Gefängnis saß, soll nun etwas tun (ein Jungfernhäutchen wieder einsetzen), was er nicht darf. Und dafür wird ihm die Wiederzulassung als Arzt in Aussicht gestellt. Übrigens: Silvano Solvere kommt auf Empfehlung von Turiddu Sompani. Noch so ein Unsympath. Mit ihm musste Lamberti eine Zeitlang die Zelle teilen. Ja ja, die Vergangenheit ist eine nervige Braut.

Zum Schein lässt sich Lamberti auf den Vorschlag ein. Ganz er selbst geht er aber zu Carrua, Freund und Helfer, Kommissar und Ratgeber in einer Person. Akten zu Solvere gibt es nicht. Aber zu einer Adele Terrini. Die steht mit Sompani ist Kontakt. Halt, falsch. Sie stand mit Sompani in Kontakt. Denn der ist mittlerweile – also vor ein paar Tagen – gestorben. Unfreiwillig. Ertrunken in seinem Fiat, im Kanal in Navigli. Zufall? Ein Katz-Und-Maus-Spiel beginnt, das seinesgleichen sucht. Und das weit zurückreicht. Sehr weit. In eine Zeit, in der Waffenschmuggel der guten Sache diente.

Die Operation verläuft wie geplant. Die Dame, die sich dieser Prozedur unterzieht raucht und plappert gleichermaßen. Doch zur geplanten Hochzeit mit dem Metzger Ulrico Brambilla, der sie nur nehmen wollte, wenn sie unberührt in die Ehe geht (was ihn allerdings nicht davon abhielt sie schon vorher am ganzen Körper zu betatschen und zu begrapschen) kommt es nicht. Sie landet mit ihrem Freund, Silvano, in dem gleichen Kanal wie zuvor Turiddu Sompani. Dort liegt auch eine weitere Leiche einer Dame aus dem gleichen Ort wie die Drei. Also jetzt muss es klar sein: Das ist kein Zufall! Alle vier Leichen haben eine Verbindung zueinander. Und dieser Brambilla ist der Knotenpunkt, der alle Stränge miteinander vereint. Zumindest die meisten. Geholfen hat es ihm auch nichts. Er liegt ausgeblutet in seiner Metzgerei.

Und der Täter ist auch schnell gefunden. Es geht um Drogen, die er – der Täter – allein auf den Markt bringen wollte. Ein klassischer Kriminalfall, ganz unspektakulär. Naja, bis Susanna Paany im Revier sitzt. Sie ist eigens aus Arizona angereist. Schon zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit. Ihr Vater war als Hauptmann während des Krieges hier. Er sprach fließen italienisch. Deswegen wurde er ausgewählt hinter den Linien zu spionieren. Verbündete fand er auch recht schnell. Einen gewissen Turiddu Sompani und eine Adele Terrini. Doch die beiden spielten damals schon ein doppeltes Spiel. Ein perfides Spiel. Auch mit dem Hauptmann und Vater von Susanna. Sie wollte sich rächen. Sie hat sich gerächt. Nun stellt sie sich. Lambertis Welt gerät ins Wanken.

Duca Lamberti wird von seinem geistigen Vater Giorgio Scerbanenco auf harte Proben gestellt. Soll er alles daran setzen wieder als Arzt arbeiten zu können? Der Preis wäre hoch, aber in gewissem Maße auch tragbar. Wie weit trägt einen der Gerechtigkeitssinn, wenn andere das tun, was man selbst gern tun würde bzw. es tun würde, wenn man die Chance dazu bekommt? Bis zum Schluss hält Giorgio Scerbanenco die Spannung auf höchstem Level.

 

Da liegt sie, Matilde Crescenzaghi, gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt, Lehrerin an einer Abendschule, die versucht schwer erziehbaren Kindern aus zerrütteten Familienverhältnissen ein bisschen Anstand und Lebenshilfe zu geben. Da liegt sie, geschändet, brutal verprügelt, entwürdigt, tot. Von ihren eigenen Schülern gedemütigt und ermordet.

Duca Lamberti hat, als er noch als Arzt praktizieren durfte, viel gesehen und erlebt. Aber solch eine Raserei hat er noch nicht erlebt. Elf Jungens waren in der Klasse von Signorina Matilde Crescenzaghi. Elf Jungens sind die Täter. Elf Jungens nimmt er sich nun einzeln im Polizeirevier vor. In ihm brodelt es. Doch nach außen hin gibt er sich gelassen und ruhig. Nur, wenn er meint, dass ein Ausraster der Lösung des Falles dienlich sei, rastet er aus. Eine Flasche Anisschnaps, von der sizilianischen Sorte, 78 Prozent, ist sein einziger Helfer. So lässt er einen der Schüler in einer Pfütze des Getränkes sitzen, lässt ihn an der Flasche schnuppern. Lamberti droht mit dem Jugendarrest. Er schreit, ist väterlicher Freund. Doch die squadra infernale (elf Freunde müsst Ihr sein, kommt einem da nicht in den Sinn) schweigt. Aus Angst, in dem Wissen, dass ihnen nichts Schlimmeres passieren kann als das ohnehin perspektivlose Leben.

Doch ein, zwei Bengel kann er knacken. Leider ist einer von ihnen nicht die ganz große Hilfe. Er war bei der Vergewaltigung bestimmt nicht aktiv dabei. Frauen sind nicht sein Fall. Bei dem anderen, einem der Jüngsten, hat Lamberti allerdings Hoffnung, dass der ihm tatsächlich helfen kann. Die Flasche Schnaps ist mehr als nur ein Helfer in der Not. Sie scheint der Schlüssel zur Lösung zu sein. Denn Jungens in diesem Alter vertragen das Gesöff nicht. Bei ihnen bewirkt es eine Art wütende Sinneswandlung. Was, wenn jemand mit einem Motiv die Jungens (immerhin elf an der Zahl!) dazu benutzte die unliebsam gewordene Signora Matilde Crescenzaghi aus dem Weg zu schaffen? Zuerst nur ein Gedankenspiel, bald schon bittere Realität.

„Der lombardische Kurier“ besticht durch seine Reinheit in den Gedankengängen. Giorgio Scerbanenco beschreibt die widerliche Tat sehr detailreich. Das schreckt ab, ist aber unerlässlich, um die Tragweite des Falles einschätzen zu können. Da sind elf Jungens, die schon in frühen Jahren lernen müssen, dass ihr Leben vorbei ist, bevor es auch nur ansatzweise beginnen kann. Da ist eine Person, die vom Hass getrieben ist. Und die weiß wie man manipuliert. Der Roman spielt in den 60er Jahren. Er könnte aber genauso vor wenigen Tagen und Monaten spielen. Armut ist keine Ausrede für Gewalt. Wohl aber ein Nährboden für Rattenfänger jeder Art. Werden die Ursachen nicht bekämpft, greift Justitia gern selbst zum Messer. Fall Nummer Drei um den außergewöhnlichen Ermittler Duca Lamberti fordert von Leser und Spürnase alles ab.

 

Ein Häufchen Elend hockt vor Duca Lamerti auf dem Stuhl im Hauptkommissariat in Mailand. Amanzi Berzaghi war schon öfter bei der Polizei. Nicht als Zeuge oder gar als Beschuldigter, sondern als besorgter Vater, der seine Tochter vermisst. Carrua, Lambertis Vorgesetzter, der ihm hilfreich unter die Arme gegriffen hat als man ihm die Approbation entzog, Carrua, der Ermittler, der Lamberti zu seinem Assistenten machte, damit Lamberti nicht dort landet, wo man Gestrandete häufig findet, dieser Carrua schanzt ihm nun einen Fall zu, den er selbst nicht bearbeiten kann und will.

Donatella Berzaghi wurde aus der väterlichen Wohnung entführt. Und nun sitzt ihr Papa bei Lamberti und erzählt zum zigsten Mal, was vor Monaten geschehen ist.

Seine Tochter ist eine echte Schönheit. Sehr auffallend. Nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch ihrer Körpergröße und ihres Gewichtes. Sie misst knapp zwei Meter und wiegt fast zwei Zentner. Die Männer pfeifen ihr hinterher. Und sie lächelt freundlich, zuvorkommend, ja fordernd zurück. Donatella ist 28 Jahre alt, im Kopf ist sie allerdings im Grundschulalter. Ihr alleinerziehender Vater kümmert sich rührend um sein Töchterchen. Jede Arbeitspause geht er nach Hause, um nach ihr zu sehen. Er versteckt sie nicht daheim, er beschützt sie vor der Welt da draußen. Und somit für sich selbst. Einziger Trost ist die Bar gegenüber. Dort klagt er sein Leid dem Barbesitzer. Erzählt wie er seine wunderschöne Donatella in ihrem goldenen Käfig ein Bett auf Daunen gebaut hat. So dass das Vögelchen nicht auszufliegen versucht.

Doch nun ist es doch passiert. Irgendwo im Rotlichtmilieu ist untergetaucht. Das findet Lamberti in gewohnter – und absolut nicht regelkonformen – Art und Weise heraus. Nur wo? Wie kann er sie auffinden? Er wird sie finden, das steht fest. Doch das Ergebnis haut ihn wie den Leser um: Sie wurde verbrannt. Bei lebendigem Leibe. Auf der Straße nach Lodi. In einem Laubhaufen. Das muss man erstmal verkraften! Als Ermittler, aber auch vor allem als hingebungsvoller, sich aufopfernder Papa. Die Täter zu finden ähnelt der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Doch Lamberti schnüffelt unentwegt weiter. Wenn er wüsste, dass ein Anderer schon viel weiter ist. Und vor allem bereit ist noch weiter zu gehen…

Abschluss der Romanreihe um den ungewöhnlichen Ermittler mit medizinischem Background Duca Lamberti. Nur vier Romane reichen aus, um dem Genre Krimi in Italien die Aufmerksamkeit zu geben, die es verdient. Lamberti lamentiert nicht, er handelt. Die Approbation ist weg, bene. Wenn die Gerechtigkeit nicht nur eine Phrase ist, wird sie siegen und ihm den rechten Pfad weisen. Doch was wird er tun? Giorgio Scerbanenco legt seinem Helden diese Fragen in den Mund. Er muss es nicht laut aussprechen. Man fühlt wie es in ihm arbeitet. Und man gönnt ihm den ihm zustehenden Lohn.