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Rocha Monte

Was ist das wichtigste bei einer Immobilie? Lage, Lage, Lage! Da können die Armaturen noch so golden glänzen, wenn das Haus nicht am rechten Fleck steht, ist alles für die Katz.

Das Monte Rocha Palace kann mit einer exquisiten Lage protzen. Hoch oben auf dem Berg dieser einsamen Insel irgendwo im Meer vor der iberischen Halbinsel. Hier finden alle eine Arbeit, die vorher nicht wussten wie sie ihre Taschen füllen sollen. Auch Aurélio Fuentes als Haustechniker, Chef der Haustechnik, wie seine Frau spöttisch später zu Protokoll gibt. Und auch José Dante Barosa als Chauffeur. Das Problem an der auf den ersten Blick so grandiosen Lage ist: Hier oben sieht man an 200 Tagen im Jahr die Hand vor Augen nicht. Dichter Nebel und Dauerregen vergraulen die Gäste. Gerade und weil nur ein paar Kurven weiter unten, permanent die Sonne schient. Von da schaut man zwar immer nach Oben, wundert sich gleichzeitig jedoch, warum man ausgerechnet da ein Hotel baut. Auch im Ort selbst weiß man, dass dieses Unterfangen – Touristen in und auf den Berg zu locken – zum Scheitern verurteilt sein muss.

Es kommt wie s kommen muss. Mit viel Tamtam – der Chef weiß, was sich gehört – wird der Abgesang eingeläutet. Alles werden zum nächsten Ersten entlassen. Das Monte Rocha Palace ist nach einer Saison Geschichte. Doch es kommen sicherlich bald schon wieder gute Zeiten. Nämlich dann, wenn der neue Besitzer hier einzieht. Dann geht es wieder aufwärts – wenn man schon oben ist, wie soll es da noch weiter aufwärts gehen?, fragt man sich da verwundert. Und damit der Verkauf so lukrativ wie möglich wird, der Besitzerwechsel so schnell wie möglich vonstatten gehen kann, werden Aurélio und José als Wächter das Objekt bewachen, es warten und in Schuss halten.

Lucia, Aurélios Frau ist davon wenig begeistert. Sie weiß, dass hier nichts mehr blühen und gedeihen wird. Und ihren Mann wird sie nun noch seltener sehen. Denn Aurélio stürzt sich voller Elan in die Arbeit. José hingegen sieht diesen Job als willkommene Gelegenheit zum bezahlten Nichtstun an. Was zu Zwistigkeiten mit Aurélio führt. Bald schon ist hier nichts mehr wie s war. Das Hotel verkommt nach und nach. Verwüstungen, eine Fliegenplage, tropfende Wasserleitungen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Bis eines Tages Aurélio verschwindet … und nie mehr auftaucht. Ein Publizist bekommt Wind von der Sache, ihm werden Papiere des Hotels zugespielt. Er beginnt zu recherchieren. Das Bild, das man bisher sich gemalt hat, bekommt Risse, neue Schattierungen werden sichtbar, der Fokus wechselt…

Peter Höner schreibt keinen klassischen Roman, in dem es ein wirkliches Ende gibt. Der Weg ist das Ziel – er trägt Puzzleteile zusammen, die aber nur schwerlich eine echte Schönheit ergeben. Vielmehr dominieren dunkle Farben wie wenn beispielsweise die eigenen Kinder Aurélios nicht wirklich etwas zur Lösung beitragen können – die kannten schlicht und ergreifend ihren Vater nicht. Warum er verschwand, und wohin? Die Frage bleibt offen. Die kann nur einer beantworten – und der ist verschwunden. Vielleicht ist er auf Drachenflügeln ins Nichts geflogen…

Die Befreiung

Frei nach Casablanca: „Von all den miesen Kaschemmen dieser Welt kommt sie ausgerechnet in meine“ – so ähnlich könnte man den Beginn der Verwandlung von Clara Altwasser zusammenfassen. Eine Bar in Kambodscha. Clara Altwasser sitzt wie jeden Abend hier und schaut sich das Werben ums Treiben der Touristen regungslos an. Auch der Typ da drüben ist schon seit tagen hier. Immer Whisky. Pur. Doch der macht sich nicht an die willigen Mädchen ran, die für ein paar Dollar sich anbieten und für ein paar Dollar mehr noch weiter gehen werden.

Nun endlich fast sie sich ein Herz, spricht ihn an. Er erkennt sie. Clara Altwasser. Die Dirigentin. Die, die ihre Karriere so skandalös aufgab. Und er der Journalist, der Autor im pränatalen Stadium, der ihr – die Idee kommt ihr fast spontan – vielleicht ihr Weg aus ihrer Misere sein könnte. Ja, sie ist es. Ja, er ist es auch. Und so plappert sie ohne Reue, ohne darüber nachzudenken drauf los.

Wie sie als Wunderkind vor Professoren Klavier spielte. Wie ihr eine große Zukunft prophezeit wurde. Wie ihr der unsägliche Autounfall den Vater und die musikalische Ziehmutter nahm. Wie ihr neuerlich eine gloriose Zukunft als Dirigentin vorhergesagt wurde. Wie ihr eine Affäre mit ihrem Lehrer angedichtet wurde – die Anfeindungen. Wie sie nach Salzburg berufen wurde – berufen vom großen Maestro Miesbach. Wie er sie behandelte … wie er sie misshandelte … wie er sie brach. Und sie erzählt vom Bruch mit ihrer Mutter. Die sie bis vor Kurzem noch pflegte. In einem Land, das so weit weg ist von allem, was Clara Altwasser als Heimat bezeichnete. Vielleicht ist dieses Lebensbeichte, die in einer Bar in Kambodscha beginnt der Schlag, zu dem sie schon vor langer Zeit ausholen hätte müssen.

Roland Freisitzer ist selbst Dirigent. Er kennt das Geschäft, wie man so schön sagt. Dieses tiefgehende Wissen trägt einerseits dazu bei, dass die Umgebung dieses Romans so lebensecht wirkt, dass einem keine Zweifel daran kommen, dass das Geschäft wirklich so läuft. Darin liegt die Stärke dieser Lebensbeichte in Romanform. Andererseits verblüfft er auf über zweihundertfünfzig Seiten den Leser immer wieder aufs Neue mit der ungeschönten Brutalität der Täter und der schamhaften Stille des Opfers. Ein Thriller, der auch anders enden kann. Doch Roland Freisitzer lässt seine Protagonistin einen Weg wählen, der in erster Linie ihr eine Befreiung bietet.

Frey

Der Tag hätte auch anders verlaufen können. Nach dem Termin beim Therapeuten wäre Daniel Frey nach Hause gekommen. Ausnahmsweise hätte seine bessere Hälfte Sarah die Glotze mal ausgeschaltet gelassen. Man wäre vielleicht was essen gegangen. Und nicht allein durch Wien geschlichen. Dann würde er jetzt auch nicht in einem Flieger nach Tokio sitzen und sich mit Daniel Bernhaugen unterhalten. Und schon gar nicht würde das Reiseziel in Nagasaki umgewandelt werden, wo Bernhaugen und seine Frau Naoko eine Buchhandlung betreiben. Ach ja, und von dem Flugzeugabsturz hätte er nur in den Nachrichten gehört.

So beginnt „Frey“ von Roland Freisitzer. Kurios-famos. Aber der Autor hat noch mehr auf Lager. Denn Frey ist tot. Und Bernhaugen lebt. Kann sich aber partout an nichts erinnern. Dr. Miyamoto beantwortet ruhig und gelassen die Fragen des Patienten, der sich überhaupt nichts mehr sicher sein kann. Ja, er ist Daniel Bernhaugen. Seine Frau Naoko kommt auch gleich. Er ist nur einer von sieben Überlebenden eines Flugzeugabsturzes. Und er ist in Nagasaki. Auch Naoko bestätigt Daniel, dass er Daniel sei. Daniel Bernhaugen. Er selbst erkennt sie nicht. Aber er kann sich an Dinge erinnern, die er mit ihr unternommen hat. Schemenhaft, dennoch vernehmbar.

Auf eigene Faust recherchiert Daniel im Internet. Er sucht seinen Namen. Es dreht sich alles um den Flugzeugabsturz – klar, so berühmt ist der Buchhändler aus Nagasaki nicht als dass ihm tausende Seiten zu seinem Namen zufliegen würden. Und als er sich fast schon am Ende seiner Recherchen sieht, fällt ihm ein Artikel auf. Einer der Toten soll Daniel Frey sein. Österreicher wie er. Vermeintlich auf der flucht, weil er seine Frau ermordet haben soll! Na, das ist doch mal eine Sensation!

Das doppelte Lottchen in einer Neufassung. Könnte man meinen. Auch kann man nachvollziehen, wenn man nach dem Aufstehen feststellen muss, dass man sich unbewusst in der Nacht die Haut aufgekratzt hat. Aber aufzuwachen und nur noch durch Worte von scheinbar Fremden die eigene Identität zu vernehmen mag, dann ist man in einer echten Zwickmühle. Aber vielleicht ist genau das der Ausweg, den man eine sehr lange zeit suchte…

Deutscher Herbst

Ernest Hemingway besoff sich tagelang mit den Siegern im Paris des Jahres 1945. Der schwedische Journalist Stig Dagerman reiste mehr als ein Jahr später durch das Land, aus dem seine Ehefrau kam. Nicht zusammen mit anderen Berichterstattern, deren Höhepunkt die Nürnberger Prozesse waren, sondern als Nachwuchsreporter der Zeitung Expressen. Sie entschieden sich gegen einen alten Haudegen, der wohl behütet zwischen Kollegen durch das zerstörte Land geführt wurde. Sondern für einen Frischling, der dank seiner familiären Verbindungen relativ frei durch die Trümmerwüste reisen konnte. Der Schrecken, den die Deutschen einst verursachten, war teils einer Häme über das nun hereingebrochene Land gewichen. Andererseits gab es eben auch Reporter wie Stig Dagerman, die die Situation mit dem gebührenden Abstand und Respekt einzuschätzen konnten.

Nicht selten muss sich der Autor im Herbst 1946 zwingen nicht alles Deutsche mit dem braunen Sumpf in Einklang zu bringen. Er weiß, dass die, die nun tage-, wochen- monate- ja, sogar jahrelang in nassen Kellern (der bevorstehende harte Winter steht ihnen noch bevor) Abstand genommen haben von der braunen Ideologie, sofern sie ihr zuvor verfallen gewesen sind. Knöchelhoch das Wasser, orchesterartiges Magenknurren, Egoismus allenthalben. Früher war alles besser. Dieser erschreckende Satz erschrickt ihn nicht. Denn er weiß, dass diese Worte aus einer Unzufriedenheit und Desillusioniertheit stammen, die man zwar in Worte fassen kann, sie zu verstehen aber fast unmöglich ist.

Mit einer entwaffnenden Klarheit sieht er dem Elend in den Schlund. Er sieht blasse Leiber, hochrote Köpfe und farblose Augen. Die Zukunft ist hier kein Thema. Das Hier und Jetzt sind für ihn der Fang seines Lebens. Doch Stig Dagerman ist nicht der sensationshungrige Schreiber, der die Auflage vor die Geschichte setzt. Er weiß, dass er privilegiert ist, er zeigt es nicht und gibt den Beobachteten und Interviewten die Luft zum Atmen. Auch wenn sich so mancher daran verschluckt.

Ein Urteil wird er niemals fällen. Das machen andere. Stig Dagerman ist Beobachter, Schreiber und Außenstehender. Deswegen ist „Deutscher Herbst“ sicherlich eines der bedeutendsten Bücher über die direkte Nachkriegszeit in Deutschland. Der leicht irreführende Titel – mit Deutscher Herbst bringt man doch eher die Zeit der RAF Ende 1977 in Verbindung – birgt einen Schatz in sich, der gehoben werden will. Flüssig im Text, klar in der Argumentation, ohne jegliche verbrämte Rachegedanken. Stig Dagerman hätte allen Grund sich in den Reigen des Freudentaumels über die besiegten Deutschen einzureihen – seine Frau musste aus ihrer Heimat fliehen – er ist der Chronist einer zeit, die man nie erleben möchte. Und dennoch wird es solche Bücher immer wieder geben: In Afrika, in Lateinamerika, in Asien, in der Ukraine, im ehemaligen Jugoslawien… Hoffentlich auch mit Dagermans Erben!

Skandal

Endlich bekommt Suguro die verdiente Ehrung als Schriftsteller. Die Preisverleihung nutzt er, um sich bei den „üblichen Verdächtigen“ zu bedanken. Im Anschluss huldigen ihm Freunde, Weggefährten, und selbst die Kritiker sind in Anbetracht der Ehrung milde gestimmt. Da zupft ihm jemand am Ärmel. Eine junge Frau. Er, die sechzig schon hinter ich gebracht – sie die dreißig noch vor sich. Sie kennen sich doch, meint sie. Erinnere er sich nicht? Das Portrait, der schöne Abend in Shinjuku, im Tokioer Vergnügungsviertel Kabuki. Dort, wo die Pornokinos sind, die Leuchtreklamen kurzzeitigen Spaß verheißen, wo man anonym … na ja, was schon?!

Zu viel der Ehre für den verehrten Suguro. Er hat nicht den leisesten Schimmer wer die Dame ist, geschweige denn wovon sie überhaupt redet. Dann ist sie verschwunden. Die Presse hinter ihr her. Und Suguro ziemlich verdutzt. Er soll sich in diesem Viertel herumgetrieben haben? Wie es scheint sogar regelmäßig. Er, dessen Frau zuhause die Arbeit trotz Rheuma verrichtet. Rheuma, das er ihr wohl zugefügt hat, wie er meint. Er, der Schriftsteller, der Bigotterie und unchristliches Verhalten im tiefsten verdammt.

Was, wenn doch was an der Geschichte dran ist? Suguro schiebt diesen Gedanke beiseite. Denn für ihn gibt es nur eine Lösung: Ein Doppelgänger treibt einen gewaltigen Schabernack mit ihm. Und den muss er finden. Zur rede stellen. Und die Welt ist wieder in Ordnung. So weit so gut. Nach und nach kommen Suguro gehörige Zweifel an seiner Idee vom Doppelgänger. Immer öfter drängt sich ihm der Gedanke auf, dass die junge Frau vielleicht doch Recht haben könnte. Doch dann müsste er es doch wohl wissen, oder?!

Shūsaku Endō spielt Katz und Maus mit dem Leser und dem geplagten Suguro. Es wäre ein Skandal, wenn der honore Autor sich des Nachts in den dunklen Gassen der Millionenmetropole Tokio herumtriebe, um seinen Trieben freien Lauf zu lassen.

Mit sicherem Schritt führt Shūsaku Endō durch das wilde Leben in Kabuki. Hier herrschen eigene Regeln, mit eigenem Wortschatz, mit strengen Kodexe. Mit wachem Verstand schickt er Suguro in die Unterwelt, die ihm den Strick um den Hals zu legen scheint, der ihm das Genick brechen kann. Er wartet nicht auf den heldenhaften Retter auf dem weißen Pferd, der in letzter Sekunde den Strick mit Geschick durchtrennt. Suguro ist dieser Retter selbst. Doch vielleicht er noch viel mehr….

Thomas Mann – Glanz und Qual

Da ist er wieder, oder immer noch. Der Dauerbrenner der deutschen Weltliteraturszene, dessen Feuer niemals verglüht. Hanjo Kesting hat sich ein Leben lang mit dem Schriftsteller beschäftigt und im vorliegenden Buch eine Charakterisierung des Mannes erstellt, der bis heute Literaten, Literaturkritiker und Fans beschäftigt.

Ein streitbarer Autor war Thomas Mann zeitlebens. Das Kaiserreich war ihm näher als er sich vielleicht selbst eingestehen wollte. Die Demokratie in Deutschland sah er kritisch, weil er ihre Schwachstellen erkannte. Die Diktatur verabscheute er wie kein anderer wortgewaltig und mahnend, dass man es bis in die Nachkriegszeit übelnahm. Sein Exil in der Schweiz war mehr als nur ein Ausweg.

In dieser eigenwilligen (und das im rein positiven Sinne) Biographie zerpflückt Hanjo Kesting das Werk Thomas Manns. Aber nicht, um allwissend umherzuprahlen, warum genau dieser Satz, genau dort, genau so steht, weil er – Kesting – beim Herumströmern den Heiligen Gral des Erfolgsromans gefunden hat. Nein er geht ans Werk wie man es tun sollte. Er betrachtet die zeit, in der die Bücher entstanden. Beschaut sich ganz genau, was Thomas Mann „nebenbei so schrieb“ (und trieb). Er zieht Parallelen und folgert auf unnachahmliche Art und Weise.

Ebenso vermeidet er es den Götterstatus des großen Schriftstellers in den Vordergrund zu schieben. Denn dann müsste er sich dahinter verstecken. Selbstbewusst und unbeirrbar stellt er dem Leser einen Mann (DEN Mann) vor, der in der Welt der Literatur fest auf dem Thron sitzt. Dabei scheut er sich nicht seinem Helden (und nichts anderes muss Thomas Mann für Hanjo Kesting sein, denn nur so entsteht eine Biographie wie diese) auch mal hier und da nachzuahmen. Die gezielte, weil notwendige, Kommatasetzung, stellt ab und an eine Herausforderung dar. Auch Thomas Mann liebte es scheinbar sich in Haupt- und Nebensätzen zu ergehen, die erst Seiten später ein Ganzes ergaben. Studenten riet er beispielsweise den „Zauberberg“ zweimal zu lesen. Denn beim zweiten Mal ist der Fluss ein anderer. Und man solle den „Zauberberg“ in Ruhe lesen. Inder Abgeschiedenheit von Davos, beispielsweise – das rät Hanjo Kesting.

Glanz und Qual – ein gelungener, wenn nicht sogar der einzige wählbare Untertitel des Buches, der einmal mehr dazu verleitet, Thomas Mann (noch einmal) zu lesen. Doch wo anfangen? Bei diesem Buch!

Meister Floh

Wenn einem heutzutage oft zu willkürlich eine geschliffene Sprache vorgeworfen wird – „weil man spricht heute anders als früher“ – so sollte man diesen Sprachverteuflern dieses Werk um die Ohren hauen. Ausufernde Wortketten, exakte Zeichensetzung und wohl überlegte Formulierungen, die sicherlich im heutigen Sprachgebrauch inhaltlich überarbeitet, dennoch derart betörend geschliffen ans Ohr dringen, sind eine Wohltat im Strudel des kurzen Informationsaustauschs. Da ist zum Beispiel der Eheherr, der seinem Knaben den wundervollen Namen Peregrinus verleiht. Und eben dieser Peregrinus Tyß ist ein gemachter Mann. Mit einer besonderen Gemütsart. Und einer Weiberscheu. Unwillkürlich übersetzt man diese Worte automatisch ins aktuell gültige Deutsch. Einmal tief Durchatmen. Und weiter geht’s.

Peregrinus Tyß ist wieder in Frankfurt. Nach jahrelanger Abwesenheit – Lehrjahre, die bekanntlich keine Herrenjahre sind – kehrt er als gemachter (Kauf-) Mann in sein Elternhaus zurück. Die Eltern sind nicht mehr. Doch ihm ist einsam. Eine Depression würde man heute sagen, hat ihn ergriffen. Er erinnert sich an seine Kindheit- verbringt Weihnachten wie einst. Kauft sogar die gleichen Spielsachen. Bis auf eine Schachtel, die ist verschwunden, ist alles so wie damals. Und dann auch wieder nicht. Die Befriedigung aus Kindertagen ist wie weggeblasen. Und so schenkt er die Spielsachen den Kindern von Buchbinder Lämmerhirt. Hier trifft er eine junge Frau, die seinem Kindermädchen verdammt ähnlich sieht. Und die hat auch noch die verschwundene Schachtel dabei. Ab jetzt entspinnt sich eine Phantasiereise, die man selbst lesen muss. Denn Realität und Vorstellung verschwimmen auf seltsame Weise…

Sieben Abenteuer schreibt E. T. A. Hoffmann seinem Peregrinus Tyß auf den Leib. Er wirbelt ihn durch die Luft wie ein Zirkusartist, lässt ihn fallen und hebt ihn behutsam wieder auf. Allein schon das erste Abenteuer lässt die Kraft der Gedanken mit jedem Satz spürbar werden. Eindrucksvoll in Szene gesetzt durch die Illustrationen von Alexander Pavlenko.

Die teils ausufernden Endlossätze, die gedrückte Stimmungslage des Protagonisten und die vernebelte Szenerie bilden die Dreifaltigkeit für die einzig gültigen gestalterischen Mittel, die dieses Buch zu einem Erlebnis für die Sinne machen. Das Buch wurde von Beginn an zensiert. Erst ein knappes Jahrhundert später war es in voller Pracht erhältlich. Und nun auch in der ihm gebührenden Form.

Italiens Provinzen und ihre Küche

Schon beim Erblicken des Titels weiß man, das kann nur gutgehen. Und dieses Vorurteil wird auf den folgenden 160 Seiten ein ums andere Mal bestätigt. Denn Italien und Essen – das passt wie Roma e storia und  Napoli e vesuvio. Dolce vita zwischen zwei Buchrücken, mit Gaumenfreuden alla nonna. Davon kann man nie genug bekommen!

Das hat sich auch Alice Vollenweider gedacht. Und räumt mit dem Vorurteil auf, dass nur Pasta und Pizza auf dem Stiefel auf die Teller kommen.

So unterschiedlich die Regionen sind, so unterschiedlich sind auch die kulinarischen Gepflogenheiten. Im Laufe der Zeit hat sich sogar der vino zur Pizza in eine gepflegte Hopfenkaltschale verwandelt. Ja, mittlerweile hat der Bierkonsum den Weinverzehr überholt. Das aber nur als Randnotiz für all diejenigen, die mit offen stehendem Mund und stotternder Stimme in bella italia sich entrüsten wollen, dass der Traubensaft so sehr nach zuhause ausschaut…

Liest man das Buch nun mit oder ohne Lätzchen? Das muss jeder für selbst entscheiden. Wer jedoch bei Minestra di fagioli (Triestiner Bohnensuppe), Conchiglie e broccoli (Teigmuscheln mit Broccoli) oder Torta di ricotta (muss man wohl nicht übersetzen) ein leichtes, freudiges Grummeln in der Magengegend verspürt, sollte vorsorgen.

Denn es geht weiter. Region für Region, vom Trentino bis Sizilien, von Venetien bis Sardinien reicht die Menükarte. Und auf ihr hinterlassen Kalb, Hühnerleber und Kaninchen einen leckeren Nachgeschmack.

Schon beim Lesen fällt auf, dass es zwischen den Regionen sehr wohl gewaltige Unterschiede gibt. Während im Norden Polenta auf den Tisch kommt, vertreten Makkaroni bei einer Blindverkostung eindeutig Sizilien.

Neben den Unterschieden verbinden aber auch – zwischen den Zeilen – die Gemeinsamkeiten die cucina italiana. Wo andernorts mächtig Butter verwendet wird, schwören italienische Köche auf Olivenöl. Die barbarische Verwendung von Butter – die ersten italienischen Einwanderer in Deutschland staunten nicht schlecht wegen der Brocken Butter in deutschen Tiegeln – wird hier niemals das reine Öl ersetzen.

Wer Italien liebt, tut dies auch wegen der kulinarischen Entdeckungen. Dieses Buch strotzt nicht nur wegen der einfühlsamen Beschreibungen der Küche Italiens, sondern punktet nicht zuletzt wegen der enormen Anzahl an leicht nachzukochenden Rezepten. Achtundachtzig an der Zahl – und jedes einzelne ein Stück Italien. Buon appetito!

Das letzte Gericht

In so ein Restaurant geht man gern. Hier schwingt eine echte Enthusiastin den Kochlöffel: Sabine. Ihre Kreationen sind der Hit! Und wer einmal hier speiste, den hat es umgehauen. Voller Lob taumeln die Gäste aus dem Etablissement und schwören sich bald schon wiederzukommen. Doch hinter der Leidenschaft der Köchin verbirgt sich ein Geheimnis. Nichts, dass man gleich Angst haben müsste. Es sei denn, dass man vor Jahren etwas getan hat, das Sabines Leben von Grund auf änderte. Was könnte da in Frage kommen? Ihr das Pausenbrot in die Pfütze schmeißen? Nein. Sie geschubst haben? Nein. Ihr gar noch viel Schlimmeres? Ja, es wird schon wärmer.

Eines Tages steht Sabine dem Mann gegenüber, der ihr ganzes Leben mit seiner Gewalt und Widerwärtigkeit in ganz andere Bahnen lenkte. Rache ist ein Gericht, das man kalt serviert. Altes Klingonensprichwort. Ein gefundenes Fressen für eine Köchin mit Rachegedanken. Und mit einer Brise Hass wird dem einstigen Peiniger der Garaus gemacht. Reue? Nein. Weder er noch sie kommen gar nicht dazu so etwas wie ein Gewissen zuzulassen.

Sabine hat Blut geleckt. Wenn’s so einfach ist der Welt was Gutes zu tun, warum soll man dann aufhören? Es ist weder am schönsten, noch ist sie auf dem Höhepunkt ihrer (neuen, geheimen) Karriere. Aus der engagierten Köchin mit gut laufender Gastronomie wird der Rachenegel mit dem grünen Daumen. Ihr Fleischklopfer … na ja, soweit wollen wir mal nicht gehen. Sabine mordet – rächt – raffiniert. Der süßliche Geruch des Todes hängt in der Luft…

Andreas Breidert schafft mit Sabine eine Frau, die durchaus das zeug zur absoluten Sympathieträgerin hat. Wäre da nicht ihr Hang zum Weitermachen. Die Rachegelüste nach so vielen Jahren Lebens mit der Scham sind im Rahmen des Vorstellungsvermögens irgendwie nachvollziehbar. Dass sie jedoch sich zum Erlöser mit Kräuterhexenattitüde aufschwingt, lässt an ihren Motiven zweifeln. Ein Lesespaß ist „Das letzte Gericht“ allemal. Sabine zweifelt nach und nach an sich selbst, was sie dann doch im Laufe des Buches immer sympathischer erscheinen lässt. Wenn der Pfarrer mit dem Kinde, wenn der Alki mit der Eisenfaust, wenn der gerissene Betrüger ohne Gewissen bei Sabine einkehren, ahnen sie noch nicht, was Kehraus für sie alle bedeuten wird. Und wenn sie es doch bemerken, ist es zu spät. Die Rechnung übernimmt Sabine selbst.

Wir, Europa – Fest der Völker

Der Untertitel „Fest der Völker“ wurde auch schon missbraucht. Leni Riefenstahls Olympiafilm der Spiele 1936 wird bis heute ob der Optik unter diesem Titel gefeiert. Laurent Gaudé setzt mit seinem Stempel „Fest der Völker“ ein weiteres Denkmal für unseren Kontinent.

Auch wenn bei dem Namen Europa immer mehr sich die Hände vors Gesicht knallen, ist es doch die Idee, die hinter der Marke Europa steht, die im Vordergrund stehen sollte. Laurent Gaudé ist Europäer, nicht, weil es immer mal wieder en vogue ist ein bisschen verklausuliert und mysteriös wirkend sich hinter dem Kontinent Europa zu verstecken, sondern weil es im Herzen fühlt. Per Passport ist er Franzose. Auch Laurent Gaudé ist aufgefallen, dass das Prädikat Europa immer mehr an Glanz und Durchschlagkraft verliert. Woran liegt`s?

Eine eindeutige Antwort gibt es nicht, und auch der Autor kann Teilen der Wahrheit nur nahe kommen. Er wählt den nicht einfachen Weg der Poesie sich seinem Kontinent und dessen Geschichte zu nähern. Ohne dabei auf unbedingten Reimzwang zu achten – sicherlich ein Dorn im Auge der Bürokraten europäischer Kommissionen, Dienste und Abteilungen. Doch es geht nicht um Normen und Richtlinien, sondern um die Wurzeln Europas.

Mazzoni, Garibaldi, Paris, Wien, Kohle, Prag, Berlin – die Liste der Schlagworte ließe sich fast unendlich fortsetzen. Mit nicht enden wollender Empathie fabuliert sich Laurent Gaudé durch die zerstückelte Geschichte Europas. Ein bisschen Vorkenntnisse sollte man schon mitbringen. Nicht Tiefgreifendes, aber Namen und Orte sollten im Groben schon vorhanden sein. Dann liest sich dieses Endlos-Gedicht-Ohne-Reimanspruch wie eine Kurzgeschichte, die man sich gern auch ein zweites, drittes … Mal durchliest. Oder man genießt „Wir, Europa“ häppchenweise. Wie einen guten Wein, der ja auch zur europäischen Geschichte der Blaue Reiter oder Crystal Palace.

Europa so gesehen, ist immer noch eine Erfolgsgeschichte. Leider sind die Erfolge nicht mehr so leicht zu vermarkten wie sie einmal waren. Den Umschwung einmal mehr hinzubekommen, darin sollte die Stärke Europas liegen.