Tot oder lebendig

Wenn der Dreißigste ansteht, kann man ihn ganz normal feiern, so wie die neunundzwanzig vorangegangenen Geburtstage. Oder man verzieht sich in eine Pension in den Bergen und hofft, dass das Netz ausfällt und man sich in grüblerischem Selbstmitleid ergießen kann. Oder man stopft sich am Tag zuvor Pommes in die Kauleiste und beschließt sich umzubringen.

Anna Thurow entschließt sich Tor Drei zu wählen. Doch dann kommt der Zweifel. Wie soll sie es denn nun anstellen?  Mit ’nem Strick? Wo bekommt man den? Wo soll ES stattfinden? Viel zu viele Entscheidungen für die finale Entscheidung. Springen! Von ganz oben. Erfolgschancen unberechenbar. Gift! Gift ist immer gut.

Am nächsten Morgen steht nun also die große Dreinull an. Die Gedanken den Vortags sind nicht ganz weggeblasen, aber die Party, der Absturz und deren Folgen sind einfach präsenter. Sonntag – the day after – ist Ruhetag für Körper und Geist. Montag – och nee – Arbeit, Frust und die Gewissheit, dass sie morgen zu dieser Hypnotiseurin gehen wird … okay, es wird doch erst der Mittwoch sein, der sie dorthin führen wird, wohin sie nie wollte.

So schlimm wird es schon nicht werden. Die Hausärztin hat Anna erstmal krankgeschrieben. Drei Monate! Depression mit ausgeprägtem Hang zum Suizid. Klingt erstmal nicht wie der Stoff aus dem Leseträume sind. Doch die Autorin Ariana Zustra spricht … ihr Mut zu. Denn Anna wird bewusst – die Hypnotiseurin hat es ihr eingetrichtert – dass in ihr der Geist eines kroatischen Juden namens Andri aus Dubrovnik schlummert. Immer noch nicht überzeugt „Tot oder lebendig“ lesen zu müssen?

Anna reist nach Dubrovnik. Eine uralte Stadt an der Adria. Im Sommer ein Hort für Kreuzfahrer mit eingebildetem Bildungsdrang, außerhalb der Anlegezeiten ein wahrhaftiger Ort zum Träumen. Und die Heimat von Andri. Dem Juden, dessen Geist in Annas Körper herumgeistert. Was so lapidar dahingeschrieben scheint, ist ein Seelenstriptease der wortwitzigen Art. Denn Anna ist nun dreißig. Also erwachsen, ohne Ausreden für kindisches Verhalten. Sie findet sogar eine Person, die Andri gekannt hat. Der hatte aufgrund seiner Religion kein erfülltes Leben. Genauso wie die vorletzte Generation in Dubrovnik. Die Narben des Balkankrieges eitern immer noch. Die Nachfolgegeneration kennt das Bombengeheul nur noch aus verschwommenen Erinnerungen und Erzählungen der Väter und Mütter. Andri hingegen – Anans Geist – ist ein Füllhorn an Schauergeschichten. Leider sind die alle wahr. Und Anna trägt sie mit sich herum.

„Tot oder lebendig“ führt den Leser mal beschwingt heiter, mal rotzig frech, doch immer liebevoll durch eine bittere Zeit. Eine Zeit des Krieges, der einst vor der Haustür stattfand, und von dem immer noch zu wenig bekannt ist. Die Leidfigur ist selbst eine Frau, die nicht recht weiß, wer sie ist, wer sie sein will. Unzufriedenheit in sicheren Zeiten ist mehr als nur eine Modeerscheinung. Das alles ist real. Es passiert tausendfach um uns herum. Anna bekommt einen ordentlichen Tritt in ihr Hinterteil. Von nun an muss sie allein voranschreiten. Und mit einem Mal sind die Depressionen, der Unwille und die Antriebslosigkeit einer Neugier gewichen, die man als Dreißigjährige nur noch schemenhaft als Kindererinnerung wahrnehmen sollte.