Der Schlafwagendiener

Was war er froh als er den Job als Schlafwagendiener ergattert hat. Nun konnte Baxter endlich anfangen zu sparen. Auf das ersehnte Zahnmedizinstudium. Ein liegengelassenes Buch brachte ihn auf die Idee diesem Ziel so einiges über sich ergehen zu lassen. Doch das Studium kostet Geld. Viel Geld. Ihm fehlen noch einhundertundein Dollar. Doch ihm fehlen mittlerweile auch nur noch zehn Strafpunkte – dann ist er den lukrativen Job auch wieder los. Und Strafpunkte werden verteilt wie der Sandmann den Schlafsand verteilt. Vor allem aber werden sie willkürlich verteilt.

Baxter wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren. Kaum dreißig Jahre später hat er nicht mehr als ein Ziel vor Augen. Das Zahnmedizinstudium. Doch als junger, schwuler Schwarzer ist das Ziel – momentan – nicht mehr als eben dieses. Er ist den Launen der Passagiere auf den langen Zugstrecken durch die Wildnis Kanadas komplett ausgeliefert. Und wenn einmal jemand mit einem Scheinchen wedelt, ist es meist eben nur ein Wedeln. Die Verheißung ist der ständige Begleiter.

So wie die ewigen Nörgeleien der Fahrgäste. Es ist zu kalt, obwohl allen anderen schon die Schweißperlen über die erhabene Stirn läuft. Trunkenbolde müssen in ihre Kojen verfrachtet werden. Unzufriedenheit allenthalben. Und Baxter bleibt ruhig. Lässt alles über sich ergehen. Nur noch einhundertundein Dollar – und zehn Strafpunkte. Die beiden Zahlen gehen eine unheilige Allianz ein, die Baxter rund um die Uhr durch den Kopf geht.

Doch was soll schon groß passieren? Der Zug ist voll auf dem Weg gen Westen, einmal quer durchs und übers Land. Das bedeutet gutes Trinkgeld. Nicht so viel, dass er am Ende der Reise das Studium beginnen kann. Wohl aber lang genug, um genug Strafpunkte zu sammeln … Jemand könnte ihn dabei ertappen, dass er sein größtes Geheimnis – seine Homosexualität – offenbart. Der Zug könnte stehenbleiben. Es könnte zu Tumulten kommen. Die Ungewissheit der Weiterreise könnte dazu führen, dass Baxter sein Strafpunktekonto bis zum Bersten auffüllt. Turbulenzen in jedweder Hinsicht könnten ihm alles verbauen, was er sich erträumt und schon aufgebaut hat. Andererseits ist er es gewöhnt stillschweigend alles über wich ergehen zu lassen. Zu schwiegen. Zu lächeln. Nicht zu viel zu verraten. Doch dann passiert es: Der Zug bleibt stehen…

Suzette Mayr macht aus einer ganz normalen Zugfahrt des Jahrs 1929 einen Roadtrip ins Ungewisse. Ein junger Mann, der gegenüber Anderen ein komplett anderer Mensch sein muss, gerät rund um die Uhr in Situationen, die ihm Kopf und Kragen kosten können. Er könnte sogar wegen seiner Homosexualität ins Gefängnis kommen. Soweit denkt er aber nicht. Er denkt nur an sein Studium und daran diesem Ziel alles unterzuordnen. Kurz vor dem Ziel muss er jedoch feststellen, dass Glück und persönliche Ziele oft auf unterschiedlichen Gleisen unterwegs sind.