Archiv der Kategorie: aus-erlesen zeitlos

Klassiker und Bücher, die man einfach gelesen haben muss

Der dünne Mann

Als Leser hätte man es eigentlich wissen müssen: Kaum fünf Kapitel gelesen und schon steckt man im tiefsten Leseschlamassel. Nichts mit sich langsam in die Geschichte einführen lassen, die Figuren kennenlernen. Wie Pistolenschüsse wird man niedergestreckt und ist unversehens ein Teil der Geschichte.

Nick Charles war mal Privatdetektiv, in New York. Bis 1927. Dann heiratete er Nora, die dank einer Erbschaft die wahre Bedeutung von Arbeit nicht kennen muss. Und Nick genießt das Leben mit ihr, neckt sie, dass er sie nur geheiratet habe, um mit ihr das Erbe durchzubringen. An ihrer beiden Seite ist Asta, das Schoßhündchen, das nur allzu gern sein Herrchen in den Bauch boxt.

Zwischen Drinks und … eigentlich nichts, also zwischen mehreren Drinks holt Nick Charles die Vergangenheit ein. Zuerst macht er die Bekanntschaft von Dorothy, die ihm sagt, dass er sie kenne. Ihr Vater Clyde war mal Klient von Nick, damals er noch Detektiv war. Sie wolle ihren Vater wieder sehen. Seit ihre Mutter wieder geheiratet hat, darf sie Clyde Miller Wynant nicht mehr sehen. Ist wohl auch besser so. Denn Clyde ist ein verschrobener Kerl. Kurze Zeit später meldet sich auch Herbert Macaulay bei Nick. Er ist der Anwalt von Clyde Wynant. Auch er suche nach Clyde, der zu einem wichtigen Termin nicht auftauchte. Und am Tag darauf ist Julia Wolf tot. Sie war die Sekretärin von Clyde Wynant, und sicher noch ein bisschen mehr. Wie gesagt, fünf Kapitel, nicht einmal dreißig Seiten und schon steckt man in einem Fall, von dem man jetzt schon weiß, das niemals alles so sein wird, wie es scheint. Schon gar nicht als Dorothy tränenüberströmt auftaucht und Nick eine Pistole übergibt. Die habe sie in einer Bar gegen ihr Diamantarmband getauscht. Das, was sie am Handgelenk trägt, fragt Nick Charles lakonisch…

Es beginnt die Suche nach Clyde Wynant. Ja, er ist ein Typ, mit dem man ungern Probleme teilt. Und seine Ex erst. Mimi. Die führt immer was im Schilde, glaubt man Herbert Macaulay. Aber der muss das ja sagen, ist schließlich der Anwalt von Clyde Wynant. Und dann ist da noch die Sache von damals, als der Erfinder Clyde Wynant des Diebstahls bezichtigt wurde. Und die Sache mit Mimis Neuem. Der macht sich wohl an Dorothy ran. Deswegen die Knarre.

Nick Charles wollte eigentlich nur Weihnacht in New York verbringen, zusammen mit Frau und Hund, ein bisschen Christmas shopping. Ein paar Drinks (zu viel), entspannt im Hotel herumliegen, essen, trinken, shopping. Dashiell Hammett lässt ihn gewähren, doch gibt ihm gleichzeitig noch jede Menge Denksport mit auf den verkaterten Weg. Ein Klassiker, ein Wegbereiter des noir. Der Wortwitz und die Rasanz lassen die Zeit wie im Flug vergehen.

Baise moi – Fick mich

Zwei junge Frauen. Der Verzweiflung schon lange nicht mehr nah – dafür haben sie beide schon zu viel in ihrem jungen Leben erlebt. Sie wissen ganz genau, dass man nicht um Hilfe rufen braucht, wenn man selbige braucht. Es kommt eh keiner zu Hilfe. Alk und Dope sind ihre einzigen Freunde, die sie vergessen lassen, was ist. Ach ja, sie haben beide getötet. Unabhängig voneinander. Die Gründe sind unterschiedlich. Die Folgen sind die gleichen: Flucht. Das Schicksal, das verdammte Schicksal, hat sie zu Weggefährtinnen gemacht. Und nun? Wäre der Roman heute geschrieben worden, wäre ihre Allianz von gegenseitiger Heilung bestimmt. Doch „Baise moi“ – der Titel hat so gar nichts von sozialarbeiterischer Seelenversorgung an sich, übersetzt heißt es „Fick mich“ – ist ein knappes Vierteljahrhundert alt und noch immer jung und ergreifend wie Ende der 90er.

Nadine und Manu sind nun also Bonnie und Clyde, Thelma und Louise, ach all die ganzen verzweifelten Paare der Geschichte, die ihr Ende einte. Doch Nadine und Manu sind mit einer schonungslosen Chuzpe ausgestattet, die es eigentlich verbietet verfilmt, veröffentlicht zu werden. Klingt drastisch, aber man stelle sich vor, dass jemand vorhat dieses Buch heutzutage noch einmal originalgetreu zu verfilmen… unmöglich. Die moralisierte Moderne hinkt sich selbst um mehr als zwanzig Jahre hinterher. Der Film, von der Autorin selbst auf die Leinwand gebracht, durfte nur in Pornokinos gezeigt werden. Höchste Jugendschutzeinstufung!

Da sind sie nun – die Täterinnen. Abenteuergierig, lebenshungrig, perspektivlos. Sie haben nur eine Wahl: Rache nehmen. An all dem, was sie zu dem werden ließ, was sie sind. Für die einen Monster, marodierende Gören, die nicht arbeiten wollen, und nur Zerstörung im Kopf haben. Für die Anderen Opfer der Gesellschaft, denen man helfen muss, weil es noch nicht zu spät ist.

Über dieser Diskrepanz schwebt der Vorwurf des Tötungsdeliktes. Die Gründe, die Hintergründe gilt es an anderer Stelle aufzuklären. All das interessiert Nadine und Manu nicht im Geringsten. Sie sind bereit ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dass sie auf ihrem Weg Spuren hinterlassen, die Blinde nicht übersehen können, ist ihnen teils bewusst. Es interessiert sie aber nicht! Auch eine Form von Emanzipation!

„Baise Moi“ wird sicher niemals Schullektüre werden. Die expliziten Szenen von Gewalt (jeglicher Gewalt!) sind nichts für zarte Gemüter. Den Film haben sicher mehr Menschen gesehen als es eine Statistik vermag wiederzugeben. Das Buch sollten diejenigen, die den Film gesehen haben, auch unbedingt lesen. Denn es geht hier nicht um detaillierte Darstellung von Sexualität in ihrer ungeschminktesten Form (obwohl das garantiert dazu beitrug den Film so populär zu machen), es geht darum zu zeigen was Menschen in perfiden Situationen zu machen imstande sind. Die Schonungslose Sprache von Virginie Despentes ist anfangs erschreckend. Aber keines der „verbotenen“ Wörter ist eines zu viel. Nur so funktioniert dieses Buch!

Der Untergang des Hauses Usher

Wenn Klassiker in ein neues Kostüm gezwängt werden, hat das immer einen faden – nach „Gewollt-Aber-Nicht-Gekonnt“ wirkenden – Beigeschmack. Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Klassiker durchaus im neuen strahlenden Gewand erscheint. Im Falle von „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe wurde das maßgeschneiderte Gewand von Andrea Grosso Ciponte nach der Adaption von Dacia Palmerino mit derart facettenreichen Accessoires ausgestattet, das der Begriff Opulenz dagegen wie ein abgenutzter Kartoffelsack um die Ecke schielt.

Die düstere Geschichte des Masterminds Edgar Allan Poe aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts regte schon bei Erscheinen die Phantasie an. Und das nicht zu knapp. Die Einen sehen darin eine unglückliche Liebe, Andere den Wahnsinn in seiner reinsten Form. Der Ich-Erzähler – im Comic oder Graphic novel mit einer frappierenden Ähnlichkeit mit Poe ausstaffiert – eilt seinem Freund Roderick Usher zu Hilfe. Er soll ihm in schweren Zeiten beistehen. Als er das Anwesen der Ushers erreicht, ist er schockiert vom desaströsen Zustand seines Freundes. Als die Schwester Rodericks stirbt, wird eine Maschinerie in Gang gesetzt, die nur ein Ende kennt: Den wortwörtlichen Untergang des Hauses Usher.

Beim Lesen der Kurgeschichte schauert es den Leser ab der ersten Seite. So vieldeutig ist die Erzählung des herbeigeeilten Freundes. Und so unnahbar ist sie. Dieses schmale, im einzig wählbaren Großformat daherkommende Buch, schließt die möglichen Vorstellungslücken des Lesers. Zarte Pinselstriche, verschwommene Konturen zeichnen ein derart klares Bild der Geschichte, so dass keine Fragen mehr offen bleiben. Wenn das Grau der Dämmerung mit dem Grün des Morasts (seelisch und geographisch) eine Liaison eingeht, erhebt sich keiner, um dieser Allianz den Segen zu verweigern. Dämonen umkreisen nicht nur die Figuren, auch dem Leser wird beim Eintauchen in Buch und Geschichte ganz anders. Es fehlen lediglich die Soundeffekte. Nein, die fehlen nicht wirklich. Denn sie würden nur den optischen Eindruck aus seiner schweren Tiefe heben. Und das darf bei dieser Geschichte niemals passieren!

Ob man nun eingefleischter Poetiker (?) ist oder Neuling auf dem Gebiet der schaurigen Romantik – eines steht fest: Diese Version des Klassikers hat das Zeug selbst zum Klassiker zu werden.

Die grässliche Bescherung in der Via Merulana

Jeder außergewöhnliche Krimi braucht einen außergewöhnlichen Ermittler. Und Francesco Ingravallo ist wahrhaft ein eigenartiger Kauz. Jung, ein wenig untersetzt, und langsam. In allem, seine Bewegungen, seine Gedankengänge, sein Habitus. Doch hinter der behäbigen Fassade haust ein wacher Geist. Und was für einer?!

In der Via Merulana 219 war er schon einmal. Er ermittelte. Da lernte er auch Liliana Balducci kennen. Nun ist er wieder hier. Bei Signora Menegazzi wurde eingebrochen. Es fehlen allerhand Juwelen. Und bald schon ist er noch einmla in der Via Merulana, wieder in Nummer 219. Auch dieses Mal trifft er auf Signora Liliana. Allerdings ist von ihrem Liebreiz nichts mehr übrig. Mit durchtrennter Kehle liegt sie da. Auch dieses Mal wurden Juwelen geraubt. Und es gibt Zeugen, die den Mörder –für die Beteiligten steht schon fest, wer der Mörder war – die den Täter beschreiben können. Für Ingravallo ist noch gar nichts klar.

Hier ist mehr Gold als Dreck – das hört man häufiger, wenn von der Via Merulana 219, dem Goldpalast die Rede ist. Einige Mieter haben einfach keine finanziellen Sorgen. Andere hingegen schon. Und zwischen drin der Doktor Ingravallo.

Er kennt sich mittlerweile ganz gut aus in dem Viertel, in dem Haus. Und mit einem verlorenen Ticket hat er dieses Mal sogar eine erste Spur. Doch so richtig vorangehen soll es in diesem Fall nicht. Wie in einem Labyrinth irrt der Ermittler anfangs durch das Dickicht von Vermutungen, redseligen Mäulern und der Tatsache, dass hier ein Mensch ermordet wurde.

Das Ganze spielt im März 1927 – Autor Carlo Emilio Gadda hat derart viele Hinweise gegeben, dass Krimiliebhaber sich heute noch ein genaues Bild der Vorgänge nachzeichnen können. Doch Carlo Emilio Gadda lässt die Klarheit der Fakten bei der Suche nach dem Täter, den Tätern (?) in den Hintergrund treten. Sein Ermittler Francesco Ingravallo ist mal schonungslos direkt – wenn er über Frauen spricht – mal fast schon ermüdend, wenn er seinen Gedankengängen alle Freiheiten lässt.

„Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ ist ein Buch, das ab der ersten Seite den Leser verblüfft. Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus treiben sich einander voreinander her. Neid und Missgunst, Liebe und Verachtung, Willkür und Kalkül sind die Zutaten eines üppigen Mahls. Leicht verdaulich sieht anders aus. Und dennoch frisst man sich durch die Seiten, um endlich ein wenig Licht zu erhaschen. Immer wieder schupst Gadda den Leser in die Seitenstraßen, um ihn im Handumdrehen wieder auf die breiten Avenuen zurückzuholen.

Die Affaire Moro. Ein Roman

„Es hatte keine Bedeutung für mich. Es war nur eine Affaire.“, so klingt es in einem schmalzigen Roman mit happy end. Und wenn man die Geschichte der Entführung von Aldo Moro, des ehemaligen (und zweimaligen) italienischen Ministerpräsidenten im Jahr 1978, unter dieser Phrase betrachtet, schauert es einem.

Im März 1978 entführten die Brigate rosse mit einem gewaltigen Waffenarsenal ausgestattet den Vorsitzenden des Nationalrates der Democrazia Cristiana. Nach 55 Tagen fand man seine Leiche, abgestellt in einem Kleinwagen. Offiziell hatte man alles getan, um Aldo Moro aus den Fängen der Entführer zu befreien – das liest sich gut. Klingt auch glaubwürdig… aber nur auf den ersten Blick. Zu tief waren die Gräben zwischen den Idealen des gläubigen Christen und den Machenschaften seiner Gegenspieler. Italien war in einer der heftigsten Wirtschaftskrisen des Landes. Moro wollte eine Allianz aller Parteien, um dieser Krise Herr zu werden. Er scheute auch nicht mit der Kommunistischen Partei zusammenzuarbeiten. Soweit die nüchternen Fakten. Was aber hinter verschlossenen Türen in den Parteizentralen, den Gremien, im Vatikan, in Ministerien besprochen wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.

Schon im Jahr der Entführung schrieb Leonardo Sciascia „Die Affaire Moro. Ein Roman“. Sciascia, eines der Sprachrohre der Intellektuellen Italiens. Der Mahner. Der Wachrüttler. Der Unbeirrbare. Man kann bis heute nicht über die Entführung Moros sprechen ohne dieses Buch gelesen zu haben. Je weiter man sich in dieses Buch vertieft umso abstoßender  wirkt das handeln (bzw. das Nicht-Handeln) derer, die etwas hätten tun können. Eine Verbindung zur Affaire Dreyfus und Zolas „J’accuse“ („Ich klage an“) sind nicht von der Hand zu weisen.

Man stelle sich nur einmal vor, Derartiges würde heutzutage passieren. Mit den Möglichkeiten der sozialen Medien wäre das Wirrwarr der Wahrheiten um ein Vielfaches größer als noch vor fünfundvierzig Jahren. Straßensperren, gestammelte Statements aus der ersten Reihe bis hin zu den Hinterbänklern und denen, die nach vorne drängen. Politische Gegner, die im politischen Kalkül jedweden Respekt verlieren. Das Leid der Betroffenen würde durch den medialen Druck noch verstärkt werden. Die Täter – ebenso unter einem gesteigerten Druck – würden mehr Kraft aufwenden müssen, um einen klaren Kopf zu behalten. Und das Opfer? Abgeschnitten von der Außenwelt. In ständiger Ungewissheit. So wie damals.

Noch immer gibt es kein Rezept gegen derartige Terrorakte gegen den Staat. Es wird sie niemals geben. Auch wenn man sich noch sehr bemüht oder es zumindest vorgibt. Die Lehren aus diesem Buch, aus der Affaire Moro, sind immer noch nicht gezogen worden. Und das ist die traurige Erkenntnis, die Leonardo Sciascia auch vorhergesehen hat. Auch deswegen ist dieses Buch immer noch wichtig und lesenswert. Der neuen Ausgabe ist ein Essay des (ebenso wie Sciascia) sizilianischen Schriftstellers Fabio Stassi angefügt. Selbst nach Jahrzehnten lässt auch ihn die Affaire Moro keine Ruhe. Das unterscheidet sie von so vielen Affairen aus rührseligen Romanen.

Den Teufel im Leib

Mit nicht einmal zwanzig Jahren einen Skandalroman zu veröffentlichen, sich in Künstlerkreisen „herumzutreiben“ und eine gewichtige Zeitschrift zu gründen … macht sich immer gut im Lebenslauf. Auch wenn es, wie im Fall von Raymond Radiguet nur zwei Jahrzehnte dauert.

Gleich sein erster Roman – dieser hier – „Den Teufel im Leib“ schlug ein wie eine Bombe. Ein moralischer, moralisierter, moralisierender Aufschrei. Wie kann er nur?! Ein Fünfzehnjähriger verliebt sich in eine ein paar Jahre ältere Frau. An sich nicht weiter verwerflich. Doch der junge Bengel hält mit seinen Gefühlen nicht hinterm Berg.

François hat sich vom ersten Moment an in Marthe verliebt. Und Erfahrungen als Don Juan – wie ihn sein Lehrer einst mahnend nannte – hatte er schon früher. Und irgendwann ist auch Marthe dem Werben unterlegen. Und das obwohl ihr Verlobter im Feld für die Ehre Frankreichs kämpft. Es ist die Zeit der Grabenkämpfe und der ersten perfiden Versuche mit Giftgas das gegnerische Soldatenvolk zu schädigen. Und schon bald schleicht sich François aus dem elterlichen Haus, um nicht nur eine Nacht bei seiner Marthe zu verbringen. Die Notlüge mit der Wanderung zusammen mit seinem Freund platzt alsbald. Die Mutter ist entrüstet, der Vater schmunzelt nicht mit einem gewissen Stolz auf den Lippen.

François und Marthe sind kein Paar. Sie sind zwar zusammen, doch in der ländlichen Idylle sind derartige Liaisons schändlich. Wenn nicht sogar teuflisch! Aber vor allem nicht ohne Folgen…

Das Buch ist tatsächlich schon einhundert Jahre alt. Und erscheint nun in deutscher Sprache, in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Den kennen einige sicher als sprachbegabten Wortwisser der Sendung Karambolage auf arte. Mit Verve verleiht er dem Jubilar einen modernen Anstrich. In übermoralisierten Zeiten, in denen jedes Wort auf die Goldwaage gelegt zu werden scheint, kommen so manchem Moralapostel und leichtgläubigem Mitläufer einige Zeilen tatsächlich immer noch skandalös vor. Auch der Fortschritt hat eine Vergangenheit, auf die er gern zurückschaut…

Jean Cocteau zählte Raymond Radiguet zu seinen Freunden. Auszüge aus einigen Briefen und vor allem die typischen Cocteauzeichnungen vervollständigen zusammen mit Gedichten von Radiguet die Komplexität dieses Buches. Rasch liest man das Buch. Mit offenem Mund frisst man sich durch den Anhang. Mit weit aufgerissenen Augen staunt man über das kurze, ereignisreiche Leben des Autors. Und dann fängt man von vorn an. Immer wieder und wieder und wieder…

Wem die Stunde schlägt

Spanien im Mai – die Sonne wärmt schon das Gemüt, die Natur schlägt Purzelbäume. Spanien Ende Mai 1937 – die Kanonen donnern, eine Zeit der Angst und des Grauens. Generalissimo Franco legt das Land mit Hilfe anderer Diktatoren in Schutt und Asche. Auf der Gegenseite stehen die Internationalen Brigaden, furchtlose, zum Kampf bereite, freiheitsliebende Menschen, denen jedes Mittel recht ist, den perfiden Faschisten das Handwerk zu legen. Robert Jordan ist einer von ihnen. Amerikaner, der eine Brücke sprengen soll. Siebzig Stunden, zusammengefasst auf über 600 Seiten. Soweit ganz kurz die Rahmenhandlung.

Wie würde man heutzutage den Stoff umreißen? Ausländische Fachkraft mit militärischem Background soll einheimischer Widerstandsgruppe seine Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Das geplante Ziel birgt aber das Risiko erheblicher Kollateralschäden in sich. Außerdem knistert es zwischen der Frau des einheimischen Helfers und dem Sprengstoffexperten mit Migrationshintergrund. So was will doch aber kleiner lesen!

Es sei denn Ernest Hemingway hat seinen Griffel im Spiel. Es ist das umfangreichste Werk des Nobelpreisträgers und seit über achtzig Jahren in immer neuen Übersetzungen ein Dauerbrenner auf den Gabentischen. Verfilmt mit Gary Cooper und Ingrid Bergman.

„Wem die Stunde schlägt“ ist zweifelsohne ein Klassiker. Und dennoch soll es Bücherregale geben, in denen das Buch keinen Platz hat. Hemingway zu lesen, ist wie eine Reise, die niemals enden soll. Er packt einen da, wo keine Hand hinkommt – tief im Inneren. Die Parallelen zur Gegenwart sind nahbar und offensichtlich. Jedes Tun fordert regelgerecht eine Gegenreaktion heraus. Je schwieriger die Situation, desto unabdinglicher ist das sorgsame Abwägen. Und genau deswegen sollte man „Wem die Stunde schlägt“ immer in Griffweite haben.

Die Neuübersetzung von Werner Schmitz lässt dem Werk seine eigene Sprache und transformiert das Werk in unsere Zeit, ohne den Geist der Vergangenheit in Unruhe zu versetzen. Klare Gedanken erfordern eine klare Sprache. Dies gelingt hier ohne Abstriche. Hat man dieses Werk einmal in den Händen klebt es wie Honig zwischen den Fingern. Auch wenn man sich Seite für Seite die Finger danach leckt, geht die Anziehungskraft nicht verloren.

Selten zuvor hat der Titel eines Buches auf den Leser abgefärbt. Denn wem die Stunde schlägt, der hat „Wem die Stunde Schlägt“ gelesen. Und ihm er wird die Stunden nicht vergessen, in dem er dieses Buch las.

Radetzkymarsch

Es gibt keinen Zweifel daran, dass dieser Klassiker nicht den Zweiflern anheim fallen wird, und den Weg in eine ungewisse Zukunft anzutreten hat. Wenn hier und da Klassiker, die jeden Jugendlichen schlussendlich zum Lesen antreibt, verteufelt werden, wird „Radetzkymarsch“ immer noch im kollektiven Gedankengut der Leserschar verwurzelt sein.

Das liegt zum Einen an der ungeheuren Wortvielfalt und ihrer eingängigen Anwendung. Zum Anderen eignet sich der Stoff immer noch dazu, um darzulegen, dass Ruhm und Ehre (und Zweifel und falsches Heldentum und und und) wie jede medaille zwei Seiten haben.

Joseph Roth gibt der Familie Trotta den ihr zustehenden Raum. Im Krieg fällt einem Trotta die Ehre zu ein Auge zu verlieren. Und da man sich im Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts um seine Versehrten kümmert, darf er als Parkwächter das Schloss Laxenburg betreuen. Sein Sohn Joseph rückt im Ansehen noch einen Schritt höher als er dem Kaiser das Leben rettet. Aufstieg inklusive. Hauptmann Joseph Trott von Sipolje. Doch das Leben hat anderes mit der Familie vor.

Denn sein Sohn, der Sohn des Helden, wird – und da ist sich sein Vater sicher – immer der Sohn des Helden bleiben. Back to the roots – würde man den heroischen Schritt des Vaters heutzutage nennen. Denn er verlässt das Militär, wird wie seien Vorfahren wieder Bauer. Franz Freiherr von Trotta und Sipolje, sein Sohn, durfte nach dem Willen des Vaters (Joseph) nicht zum Militär, steigt aber zum Bezirkshauptmann auf. Da hatte der Kaiser seine Finger im Spiel.

Die Monarchie geht den Bach runter. Und auch das Leben der Trottas – mittlerweile mit Adelstitel – kennt nur eine Richtung. Und die ist nicht gen Himmel gerichtet. Denn die letzte Generation, der Enkel des Helden, muss zum Militär. Er will aber nicht. Das zarte Herz des Enkels des Helden von Sipolje ertrinkt im Alkohol und hört im Kugelhagel des Weltkrieges – da wusste noch niemand, dass es bald schon einen Folgekrieg geben wird – auf zu schlagen. Fast zeitgleich mit der Monarchie des einstig ruhmreichen Österreichs…

Eigentlich doch genug Stoff, um Zweiflern, Lautschreiern und Ewiggestrigen ein Signal zu geben „Radetzkymarsch“ den Marsch zu blasen und in die ewigen Jagdgründe zu schicken.

ABER: Der Autor heißt Joseph Roth. Den verteufelt man nicht einfach mal so im Vorbeigehen! Feingefühl, Wortgewalt und analytisches Schreiben kennzeichnen dieses Buch, das seit neunzig Jahren nicht lange in den Regalen der Buchhändler steht. Wer sich in der verklärten Vergangenheit des ruhmreichen Kaiserreiches des Habsburger tummeln will, kommt hier genauso auf seine Kosten wie diejenigen, denen zweifelhafte Heldenverehrung ein Dorn im Auge ist. Die Familiensaga des Trottas kommt niemals aus der Mode, weil die Strukturen, die Aufstieg und Fall einer Familie bis heute existieren – Parallelen zu aktuellen Emporkömmlingen sind offen sichtbar. Allein der Wille zur Macht ist berechenbar. Genauso wie das Ende einer Dynastie.

Fahrraddiebe

Es dauert nur wenige Sekunden, die das Leben des Erzählers (wieder einmal, und dieses Mal wohl endgültig) verändern. Schon seit geraumer Zeit sucht er nach Schuhcreme, schwarz. Er findet sie nicht im Nachkriegs-Rom. Überall, wo einst die Läden überquollen – vor Schuhcreme? – herrscht nun gähnende Leere. Er fragt sich bei den Markttreibenden durch. Kommt in Viertel, in denen man besser aufpasst alles dicht am Mann und für sich selbst fühlbar zu tragen. Und dann der entscheidende Hinweis. Es gibt einen Laden, der hat schwarze Schuhcreme.

Der Erzähler schwingt sich auf seinen Drahtesel und radelt voller Vorfreude zu dem ihn zu gewiesenen Laden. An der Türschwelle fragt er in den Laden hinein, ob er hier richtig sei, es hier wirklich schwarze Schuhcreme gäbe. Sí, bekommt er als Antwort. Aber er müsse schon eintreten. Die Lieferung an die Türschwelle ist nicht vorgesehen. Alle Vorsicht außer Acht lassend, tritt der Mann in den Laden. Wohlwissend, dass da draußen eine dunkle Gestalt lauert, um den silbernen Drahtesel schnellstmöglich einem Besitzerwechsel zu unterziehen. Diese verschlagene Visage. Der Erzähler kennt solche Typen. Man hat ihm schon öfter das Fahrrad geklaut. Doch bisher hat er es auch immer wieder zurückbekommen. Ein wahrer Meister im Fahrradzurückholen. Kaum im Laden sieht der die dunkle Gestalt sich auf sein Fahrrad stürzen und davonradeln. Haltet den Dieb! Helft mir! Doch willige Gehilfen des Diebes versperren geschickt den Weg. Sie sind sogar so dreist zu behaupten, dass der Dieb gefasst wurde. Sehen Sie doch, da hinten! Alles nur Lüge, Fassade, perfides Spiel mit den Gefühlen eines Geprellten.

Es wird dieses Mal nicht so glimpflich ausgehen – so viel sei schon verraten. Der Dieb ist schnell ausgemacht. Doch das Rad ist sicher schon in seine Einzelteile zerlegt und gewinnbringend – was sonst, bei Null-Lire-Anschaffungskosten? – an den nächsten verhökert. Die Polizei … die Polizei macht nichts. Warum auch? Die Gefängnisse sind voll von Dieben, Hehlern und sonstigem Abschaum. So bleibt dem Erzähler nur eine Wahl: Er schreibt sich seinen Frust von der Seele. Es ist die Zeit als Faschist wieder ein Schimpfwort geworden ist. Die Zeit, in der die Polizei sich sarkastisch ihrer eigenen Ohnmacht bewusst wird und diese stolz nach Außen trägt. Niemand wird dem armen Mann nun helfen. Alle ergehen sich in endlosen lamenti, echte Hilfe sucht man vergebens.

Luigi Bartolini beschreibt eine alltägliche Situation in den Straßen Roms kurz nach dem Krieg. Ein Fahrrad ist für viele der größte Schatz, weil sie ohne dieses „Ding“ nicht zur Arbeit kämen, ihre Freiheit mehr als nur „ein bisschen eingeschränkt“ wäre, einfach, weil es der einzige halbwegs erschwingliche Schatz ist, den man sich gerade noch so leisten kann. Was er aber aus dieser alltäglichen Banalität macht, ist großes Kino. Verfilmt von Vittorio de Sica, oscarprämiert als bester nicht englischsprachiger Film. Das ist lange her. Und immer noch zieht das Buch den Leser in seinen Bann. Die zweihundert Seiten liest man ohne Unterbrechung durch und versucht anschließend den Film irgendwie aufzutreiben. Jedes, Buch und Film, für sich schon ein Meisterwerk – im Doppelpack unerreichte Perfektion.

Die Insel des Dr. Moreau

Urlaub in der Südsee. Die Wellen rauschen, die Sonne scheint ununterbrochen und es riecht nach dem Salz des Meeres und exotischen Früchten. Knapp unterhalb des Äquators, ein paar tausend Kilometer westlich von Südamerika ist Edward Prendick auf ebenso einer Insel. Nicht gestrandet. Das hat er schon hinter sich. Ein Schiff nahm ihn unterwegs auf.

Zu seiner Freude stellt er fest, dass einer der Passagiere, Montgomery ebenfalls wie er ein Mann der Wissenschaften ist. Alles ist gut, das Leben ist schön und kann weitergehen…

Die Insel jedoch wird von ziemlich furchteinflößenden Wesen bewohnt. Da gibt es Leopardenmenschen, Hyänenschweine und Pferderhinozerosse. Eine wilde Mischung, die – und das wird Prendick schnell klar – von Menschenhand erschaffen wurden. Dr. Moreau ist der Herr der Insel und der Wesen. Ein Wissenschaftler, von dem Prendick schon mal gelesen hatte. Moreau verließ die Bühne der Wissenschaften vor Jahren mit wehenden Fahnen und sehr plötzlich, nachdem bekannt wurde, dass sein Streben nach Wissen nicht immer zum Wohle der Menschheit dienen sollten. Er sah sich als eine Art Gott, Übervater, Herrscher und Lenker über die Geschicke des Menschen.

Und hier setzt die weitreichende Moral des Buches ein. Mit jeder Zeile kommen dem Leser Assoziationen in den Sinn, die nichts Gutes verheißen. Experimente am Menschen sind verabscheuungswürdig. H.G. Wells lässt seiner Phantasie freien Lauf und umgibt Moreau mit einer dunklen Aura, die nur einen Schluss zulässt: Genie und Wahnsinn gehen nicht selten Hand in Hand.

Eine abgeschottete Insel als Hort für etwas Großes, wenn nicht sogar etwas Größenwahnsinniges. Biblische Verhaltensregeln, die allein nur dazu dienen das Werk Moreaus zu schützen und auf gar keinen Fall Zuwiderhandlungen erlauben. Die Strafen sind drakonisch. Denn wer nicht hört, wird zum Tier … umgewandelt. Die Mischwesen aus Mensch und Tier mutieren zum Tier. Menschliche soziale Gefüge weichen tierischen Fügungen Gottes, also Moreaus.

„Die Insel des Dr. Moreau“ ist seit über hundert Jahren ein Klassiker unterm Tannenbaum. Es gehört in einer Reihe Jugendliteratur neben die Werke von Mark Twain, Jack London und Friedrich Gerstecker. Abenteuer und Science fiction in brillanter Art und Weise literarisch verwebt. Und dazu die Zeichnungen von Nicole Riegert. Die Holzschnitte in Grün- und Blautönen geben die gespenstische Stimmung auf der Insel am Ende der Welt wider, lassen aber gleichermaßen Raum für eigene Interpretationen. Die grimassenartigen Gestalten, die H.G. Wells so eindrucksvoll beschreibt, deutet Nicole Riegert an. Ihr Tun und Lassen bleiben dem Leser überlassen. So eindrucksvoll die Zeilen, so nachhallend sind ihre Illustrationen.