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Im Nebel

Unter ihm Wasser, nichts als Wasser. Vor ihm nur Nebel, hinter ihm nur Nebel, über ihm nur Nebel, ebenso links und rechts von ihm. Hanok watet durch das, was nach der Katastrophe übrig geblieben ist. Allein, ganz allein. Und er weiß, sobald er auf Menschen trifft, kann’s eng werden. Misstrauisch lauscht er jedem Geräusch. Ein Knacken, ein Winseln, ein Jaulen – überall kann die Gefahr wie ein wildes Tier aus dem Dickicht springen und ihm übel mitspielen. Dann doch lieber allein mit seinen Gedanken für den Nebel schreiten.

Die Szenerie kommt ihm vertraut vor. Und auch wieder nicht. Das Schilf bietet ihm Unterschlupf und Deckung. Doch vorankommen kann er nicht. Wie aus heiterem Himmel trifft ihn der Schlag! Er hatte es nicht kommen sehen, konnte nicht bemerken wie sich jemand (oder etwas?) heranschlich. Wieder bei Sinnen erblickt er Nairoc. So stellt er sich jedenfalls vor. Auch er ist misstrauisch. Traut keiner Menschenseele, ist aber im Gegenzug selbst ein Seele von Mensch. Hanok hat so etwas wie einen Freund, zumindest einen Begleiter – wenn auch auf Zeit – gefunden. Nairoc bietet ihm ein abscheuliches Gesöff an – Männerrunde mitten in den Ausläufern der Katastrophe. Niemand weiß, was wirklich passiert ist. Niemand kennt die Wahrheit. Und schon gar nicht das ganze Ausmaß. Das interessiert auch niemanden. Hier geht es ums nackte Überleben. Kurze zeit später ist Hanok allein auf dem Wasser. Auf einem Floß. Mit einem Hund. Ohne Nairoc…

Tobias Schwartz vermeidet es den Leser komplett im Nebel stehen zu lassen. Hanok ist auch nicht der Archetyp des gewissenlosen Rächers á la Mad Max. Er ist ein Suchender. Was er sucht? Ist es die Frauengestalt, die ihn im Kopf herumschwirrt? Ist es Linderung? Antworten – worauf? Hanok wird noch auf Menschen treffen. Und diese Begegnung wird so anders verlaufen als man sich es vorstellen kann. Darin liegt die große Besonderheit dieser Geschichte. Der postapokalyptische Name, dem man eher einem Krieger zuschreibt als einem Getriebenen, einem Verzweifelten, reißt den Leser ein ums andere Mal aus der Lethargie der vernebelten Einöde. Schon bald gibt man es auf nach der Ursache zu suchen, die Hanok in diese Situation gebracht hat. Es ist unerheblich. Hanoks Reise gilt die ganze Aufmerksamkeit. Auch wenn nach wenigen Seiten schon Schluss ist, wirkt diese Reise noch lange nach…

Rom erleben

Für eine Stadt wie Rom braucht man einen kundigen Guide. Die Überzahl an Attraktionen erschlägt jeden, der nicht vorbereitet ist. Und die Enttäuschung danach etwas übersehen zu haben oder einfach mal den Weg – wegen Nichtwissens – nach rechts oder Links nicht eingeschlagen zu haben, überwiegt dann vielleicht doch das Erlebte.

„Rom erleben“ ist für ein jüngeres Publikum gedacht. Die Interessen der „Zielgruppe“ sind eben anders gelagert. Nichts desto trotz gibt es Orte in Rom, die man einfach gesehen haben muss. Und wenn man dann von einer Warteschlange überrascht (also von deren Dimension) oder wegen nicht vorhandener Vorreservierung abgewiesen wird, kann der Tag schon mal so richtig verdorben werden. Hier kommt dieser Reiseband ins Spiel.

Allein schon die Handhabung ist durchdacht. Einmal im Uhrzeigersinn gedreht, macht sich die Ringbindung schon bezahlt. Wie ein überdimensionales Notebook erschließt sich dem Leser/Besucher Roms eine neue Welt. Skizzen, Karten, Wegstrecken sind anschaulich dargestellt, dass digitale Hilfsmittel überflüssig werden. Die Erläuterungen beispielsweise zum Pantheon oder zum Forum romanum sind zeitlos. Wer sich vom empfohlenen Alter des Reisebuches ob des ausgewiesenen Alters nicht abschrecken lässt, wird hier auch als „Altersgruppenüberschreiter“ einen kundigen Ratgeber finden. Zahlreiche Abbildungen sowie unzählige Ausflugstipps, denn auch außerhalb der alten Stadtgrenzen gibt es mehr als nur ein must see. Erwähnenswert sind auch die Tipps zu Orten, die man zwar besuchen kann, die man aber nicht vermisst, wenn man sie nicht besucht. Das kann bei der begrenzten Zeit in Rom viel wert sein.

Kurz und knapp, umfassend, sehr gut handhabbar. Das sind die Hashtags, die dieses Reisebuch treffend beschreiben. Egal, ob man sich erholen oder den Körper an die Grenzen führen will, hier wird alles geboten. Bis hin zur typisch römischen Küche. Selbst wer Rom schon kennt, wird hier Orte entdecken, die er so noch nie gesehen hat. Andiamo a roma! Enttäuschungen wird es garantiert nicht geben!

nackt!

Über die griechischen Götter wurden sicher schon mehr Bücher geschrieben als so mancher Fußballstar Follower hat. Und doch gibt es immer wieder Bücher, die den geneigten Leser verblüffen. So unverhohlen, so unverblümt, so lustig und dabei informativ wie Anna Derndorfer hat noch niemand die Olympioniken, die Bewohner des Olymps beschrieben.

Zeus, der alte Schwerenöter, der seiner Frau so oft fremdgegangen ist, dass selbst Pornolegende Ron Jeremy verlegen den Schwanz einziehen muss, war nicht der einzige Übeltäter im Himmel. Auf Athene, Hera und … ach wie sie alle heißen, waren (und sind!) keine Vorbilder.

Wie wäre denn ihr heutiger Status! In einer Zeit, in der mehr Regeln das Freisein bestimmen als noch vor einigen Jahrzehnten, würden die Helden in Roben tagein tagaus vor den Pranger gestellt werden. Selbst Sisyphos, das fleißige Arbeitsbienchen – wer weiß schon, dass seine Bewerbung bei Ramstein sicher von Erfolg gekrönt sein würde, denn er war eigentlich Sprengmeister – bekommt sein Fett weg.

Es ist köstlich zu lesen wie sich die Titanen und Götter immer wieder selbst ein Bein stellten. Ihr Vorteil: Sie machen die Regeln selbst und eine (ger-) echte Justiz gibt es nicht. Fast wie auf Erden, möchte man meinen. Denkt man an einige Regierungen, die gar nicht mal so weit entfernt liegen… Da halten sich Staatsoberhäupter auch für gottähnlich.

Es ist immer ein Fest kann man sich in einem Gespräch auf die Geschichte beziehen, Anekdoten zum Besten geben. Wer „nackt!“ (gern auch angezogen) gelesen hat, kann mitreden. Und so manche Schweinerei mit schmissigem Wortlaut in die Runde werfen. Ja, das Buch ist mythisch, nicht mystisch. Und ja, das Buch ist mit mehr als einem Augenzwinkern zu verstehen. Wer aber hat schon die Zeit alle Biographien der antiken Götter zu lesen? Und dann auch noch jede Verbindung sich zu merken?! Allein Zeus’ Affären würde schon an der Aufzählung der Zahl Pi auf die zigste Stelle nach dem Komma gleichkommen. Nee, nee. Anna Derndorfers Buch ist die Quintessenz dessen, was als Grundlage aller Göttergeschichten gilt. Hier wird man vortrefflich bedient und es bleibt sogar was hängen. Welchen Beruf hatte Sisyphos doch gleich bevor er Stein-Den-Berg-Hoch-Roller wurde? Und alle, denen immer wieder vorgeworfen wird, dass sie vorher zuviel nachdenken, sei der Verweis auf Prometheus ans Herz gelegt. Sein Bruder Epimetheus, der der hinterher nachdenkt, ist das griechische Sinnbild für das in den Brunnen gefallene Kind. Da hätte zwar Prometheus, der der vorher nachdenkt, ihm auch mal sagen können, aber die Bürde des Vorausschauens kann eben schon mal zu Erinnerungslücken führen…

Vom Reisen. Ein Fotojournal

Wenn man selbst zurückblickt und schaut wie man noch vor gar nicht allzu langer Zeit Urlaube geplant und gebucht hat, ist man verblüfft. Schleppte man sich noch vor rund zwei Jahrzehnten über Reisemessen, und danach die Kataloge die Treppen hoch in die eigenen vier Wände, klickt man sich jetzt durch die unendlichen Welten der Angebotsseiten im Netz. Und dennoch – auch wenn die Diaabende der Vergangenheit angehören – sind immer noch die Urlaubsbilder die Gedächtnisgrundlage für so manches Erlebnis. In jedweder Form verzieren diese Erinnerungen die Wände, oder die Fotoalben füllen meterweise die Regale. Reisen war, ist und bleibt die Erinnerung, die immer bestehen wird.

Ein bisschen Nostalgie schwimmt immer mit, wenn man zurückdenkt und an Unvorhergesehenes, Eindrucksvolles, Nachhaltiges erinnert wird. Dieses Fotojournal verbindet Vergangenheit und Gegenwart auf so wunderbare Weise. Zum Einen in Schwarz-Weiß gefangener Gedächtnistresor (Tresor im doppelten Sinn: Schatz und Aufbewahrung), zum Anderen viel Platz, um das soeben Erlebte schriftlich festzuhalten.

Eine echte Innovation. Während die meisten ihre Erlebnisse umgehend per social media der Welt ungefragt zur Verfügungen stellen, hat man mit diesem Fotojournal eine ganz persönliche Möglichkeit eine Erinnerung „für später“ zu schaffen.

Dieses „Weißt Du noch…?!“, dass unweigerlich zutage tritt, wenn man die Fotos erblickt in Verbindung mit den eigenen Niederschriften – Platz ist wirklich genug in diesem Fotojournal – ist unbezahlbar. Ja, die Fotos sind schon drin, im Buch der Erinnerungen. Sie sind aber Ideengeber, Ratgeber, Erinnerungsstützen. Den freien Platz daneben kann, darf, muss man selbst füllen. Doch vor die Worte hat der Reisegott die Erlebnisse gesetzt. Mit lockerer Feder füllt man in Windeseile den freien Platz im Journal.

Wer beispielsweise eine mehrwöchige Kreuzfahrt gemacht hat, sieht Bilder von anno dazumal von Menschenmassen am Anleger, die den Giganten der Meere zujubeln mit anderen Augen als Reisende, die jeden Schritt ihrer Reise selbst organisiert haben. Die wiederum vergleichen die die Fotos im Fotojournal mit ihren eigenen Empfindungen – früher war alles entspannter, weitläufiger, nicht so überlaufen.

Wer Reisen nicht nur als Sammelalbum für die Anzahl der Länder sieht, wo man seinen Fuß draufgesetzt hat, und diese Erinnerungen für sich und Nachfolgende festhalten will, hat beim Kauf dieses Fotojournals eine richtige Entscheidung getroffen.

Das kann immer noch in Wien passieren

Als Wien-Tourist kann man es nur schwer vorstellen, dass hier so etwas wie Alltag einkehrt. Alle paar Meter gibt es etwas zu entdecken, dass es so eben nur hier gibt. Mit großen Augen marschiert man an beeindruckender Architektur vorbei, schaut hier und da mal rein, überblickt von so manchem Hügel die Metropole, berauscht sich in einem der zahlreichen Museen und lässt es sich im Café gutgehen.

Der alltägliche Schmäh ist da nur ein Beiwerk, das man erst bei genauerem Hinhören zu verstehen weiß. Es sind jedoch die Alltagsgeschichten wie in diesem Buch, die den Wien-Touristen vom Wienexperten unterscheidet. Wer also dem Schlangestehen am Café Central oder (noch schlimmer, weil länger) am Sacher nichts mehr abgewinnen kann, wem das Belvedere schon näher ist als die heimische Umgebung, der wird den Wienern mit Genuss aufs Maul schauen. Und wenn’s nicht allzu wianerisch wird, versteht man es … zumindest akustisch. Inhaltlich wird’s da schon ein wenig verzwickter. Doch es gibt Abhilfe.

„Das kann immer noch in Wien passieren“ ist die Allzweckwaffe im Wunderschönfinden des Alltagssingsangs in der Donaumetropole! Denn nicht alles, was so melodisch ans Ohr geflogen kommt, ist mit Liebreiz und Wohlwollen behaftet. Es sind schon deftige Abreibungen, die man allerorten vernehmen kann. Das beginnt bei der familiären Aufarbeitung der eigenen Geschichte derjenigen, die nicht fliehen mussten. Was den Autor dieser Anekdote dazu veranlasst zu bemerken, dass sein Gegenüber zumindest dafür verantwortlich ist, dass seine Familie fliehen musste, wenn sie denn konnte. Starker Tobak, wenn so ein Dialog „zwischen Tür und Angel“ stattfindet.

Diese Alltagsgeschichten sind gespickt mit Perfidität, laissez-faire und einer ordentlichen Portion Schärfe und Wortwitz. Oberflächlich eine schonungslose Abrechnung mit der hauptstädterischen Arroganz gegenüber allen von außerhalb. Doch in der Tiefe liegt der wahre Schatz dieses Buches vergraben.

Nicht alles, was scharfkantig ist, verletzt. Als Trostpflaster kann man dieses Buch ebenso verstehen. Denn wird vorbereitet ist, entgeht so manchen Verbalscharmützel. Zartbesaitete können in Wien schnell unter die Räder kommen, wenn sie sich nicht bewusst sind, dass nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Und in Wien kocht man sehr heiß – also verbal. Als Zusatzlektüre für den einen oder anderen Reiseband ist dieses kleine Büchlein, das sich mit Macht gegen übertriebene Korrektheit wehrt, unverzichtbar. Und mit diesem Buch in der Hand, am richtigen Ort kommt man garantiert mit echten Wianern ganz schnell ins Gespräch.

Wie man die lebenswerteste Stadt der Welt überlebt

Eigentlich kann man es kaum noch hören: Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt! Und dann ist man da und sagt: „Ja, stimmt!“. In fast jeder Hinsicht. Ein geballtes Inferno an Museen, prächtige Straßen, eine funktionierende Infrastruktur. Ein lebenswerter Ort, ein Ort, an dem man nur die Ohren offenhalten muss, um dem Schmäh die Schärfe zu nehmen. So wie Andreas Rainer, ein Alltagspoet – der Alltagspoet. Er schnappt an der Tramhaltestelle, an der Ampel, im Café (wo sonst?!) was auf und verarbeitet es ruck zuck zu einem poetischen Pamphlet, das Kopfnicken und „Echt jetzt?“ zugleich hervorruft.

Diese kleinen Sticheleien gegen das lupenreine Image der Stadt sind mehr als nur eine kleine Brise Würze. Sie erzählen von dem, was dem Touristen verborgen bleibt. Es sei denn man kommt tatsächlich mit einem Herrn Ober ins „Gespräch“… Ihn heranwinken bringt nichts.

Andreas Rainer findet seine Geschichten auf der Straße. Da streiten sich Bauarbeiter und Polizei wer hier Vorrecht genießt. Oder es hagelt Beschwerden über die Arbeit – woanders ist auch nicht schlechter.

Dieses kleine Büchlein nimmt ein wenig die Schwere vom Titel „Liebenswerteste Stadt der Welt“. Hier leben auch nur Menschen, die allerdings mit einer ordentlichen Portion Schmäh dem Alltag die Stirn bieten. Derber Humor und Eleganz schließen sich also doch nicht komplett aus.

Und es gibt echte (Über-) Lebenshilfe für Wien. Wenn man einem Lehrer glauben darf, dann sollte man es tunlichst vermeiden psychisch Labile in der U-Bahn anzustarren. Das ist nicht nur Schulklassen zu empfehlen. Denn der Wiener steht über allen anderen Österreichern – was sicher nicht zu verallgemeinern ist, aber warum soll man sich als Gscherter zu erkennen geben (und den Unmut der Wianer sich zuziehen) – und das lässt er ganz gern auch mal sein Gegenüber spüren (schön mal verdutzt aus der Wäsche geschaut, wenn einem „a Sackerl“ angeboten wurde?).

Es gibt auch andere Städte, die für ihren Humor bekannt sind. Berlin zum Beispiel. Doch während man an der Spree mit der Dampframme zurechtgestutzt wird, wird man an der Donau sanft mit dem Hammer gestreichelt. Wien-Liebe to go steht wie ein Label auf dem Cover. Und so sollte man dieses Büchlein auch annehmen. Nicht zwingend am Graben sich auf einer Bank das Buch laut vorlesen. Auch nicht auf den Stufen der Albertina sich lauthals über (letztendlich sich selbst) lachen. Jedoch auf einer Bank leise vor sich hinschmunzeln während man darin blättert, sollte erlaubt sein. Und vielleicht trifft man auf diesem Weg genau den einen Wiener, der mit einem über diese „G’schichten“ bei einer Tschick lachen kann. Einen Versuch ist es allemal wert!

Keine Bleibe

Nicht wegen ihres Namens hat Angelika Sinn dieses Buch geschrieben, ein Buch, das obdachlose Frauen in den Fokus rückt. Es macht Sinn so ein Buch zu schreiben, obwohl es natürlich besser ist, ein derartiges Buch niemals schreiben zu müssen. Angelika Sinn arbeitet ehrenamtlich beim Tagestreff frauenzimmer in Bremen, der sich um Obdachlose kümmert. Sie bietet hier Schreibkurse an. Mit viel Einfühlungsvermögen und nicht weniger Geduld hat sich die Geschichten von acht Frauen zugehört und sie zu Papier gebracht.

So verschieden die Frauen sind, haben sie doch eines gemeinsam: Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem nichts mehr ging. Rechnungen wurden nicht mehr bezahlt, die Gewalt war unerträglich geworden, das Schicksal hat unverhofft und gnadenlos zugeschlagen. Die Straße war der einzige Ort, an dem sie noch existieren konnten. Dank Vereinen wie frauenzimmer und anderen fanden sie Hilfe. Die Verängstigung der Frauen konnten aber auch sie nicht ungeschehen machen.

Es sind wirklich keine schönen Geschichten im eigentlichen Sinn. Doch dass Hoffnung zurückkehren kann, eint die Frauen ein weiteres Mal. Es sind kleine und große Glücksmomente – auch der in Angelika Sinn ein offenes Ohr zu finden – die der Resignation den Nährboden entziehen.

Die stimmungsvollen und leisen Fotografien von Rike Oehlerking verleihen jeder einzelnen Beschichte in diesem Buch eine besondere Note. Detailaufnahmen ohne zu viel preiszugeben – wie ein Sinnbild für jedes Schicksal.

Es ist mühsam sich dem Thema Wohnungslosigkeit über Zahlen zu nähern. Je größer die Zahl desto mehr distanziert man sich von den Betroffenen. Wahre Hilfe kann nur jedem einzelnen gegeben werden, niemals einer ganze Gruppe oder gar einer Masse. Nicht aufzuhören über dieses Thema zu reden, zu schreiben, die Augen nicht zu verschließen, gehört genauso dazu.

Fannys Rache

Eines gleich vorweg: Wer das alles ernst nimmt, wird mit Schamesröte, Kopfschütteln und einer gehörigen Portion Wut den Roman beiseitelegen. Wer allerdings darin scharfsinnigen Humor, Wortwitz und Hintersinn erkennt, wird mit 100prozentiger Genugtuung den Tag verbringen.

Fanny Kajsman lebt in ihrem Stetl sehr schlecht als recht. Der Vater hat sie zur Schächterin ausgebildet. Vorsicht vor Frauen, die mit dem Messer umgehen könne, will man warnen. Nicht ohne Grund. Und wenn die Person – wie im Falle von Fanny – einen ausgeprägten Starrsinn in sich trägt, dann können diejenigen, die sich ihr den Weg stellen meinen zu müssen, nur noch beten.

Ihr Schwager hat sich aus dem Staub gemacht. Und Fannys Schwester sitzen lassen. Einfach so. Er ist nach Minsk abgehauen. Vom Mittelmeer in den kalten Norden – brrr, wegen des Klimas hat er bestimmt nicht diese Entscheidung getroffen. Wie gesagt, Fanny trägt ein ordentliche Portion Starrsinn und mittlerweile auch Wut in sich. Sie packt ihre sieben Sachen und macht sich auf den Schwager zu suchen. Nicht, um ihn zurückzuholen, sondern um Rache zu nehmen – Fannys Rache. Auf ihre eigene Art und Weise. Da wir uns im frühen 20. Jahrhundert befinden, gibt es nicht viele Möglichkeiten gen Minsk „zu reisen“. Linienflüge, feste Busverbindungen, per Anhalter etc. – das gab’s damals noch nicht. Und mit einem gigantischen Messer einfach mal so Grenzen überqueren – ha, das ging nur damals.

Unterwegs sammelt Fanny so allerlei Unrat auf. Einen stummen Fährmann – welch Symbolbild – und  die liebe Verwandtschaft. Denn im Russland des frühen 20. Jahrhunderts waren Juden über ganz Europa verteilt. Klar, dass man hier und da immer wieder auf Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen etc. trifft. Allesamt nicht gerade vorzeigbar. Günstlinge der Hölle, die geschickt ihre Fähigkeiten und ihre Chuzpe nutzten, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Fanny stapft beseelt von ihrem Vorhaben durch die Weite des russischen Reiches und nimmt keinerlei Rücksicht auf Verluste. Eine weibliche Heldin durch ein Land, das mit, um es vorsichtig auszudrücken, mehr als eine Handvoll Ressentiments gegenüber Juden hegt. Die resolute Art wie Fanny jedwedem Problem entgegentritt und mit dem riesigen Messer im Gepäck, lässt den Leser ein ums andere Mal vor Freude aufjaulen. Man selbst möchte ihr nicht begegnen, ihr bei ihren Begegnungen zuzuschauen, ist ein Fest. Manchmal tut es gut und ist es hilfreich einem Buch einen Stempel aufdrücken zu können. In diesem Fall ist das unmöglich. Das ganze Cover wäre dann voller Stempel. Großartig, witzig, böse, hintersinnig, brutal ehrlich, … die Rose und das Schwert auf dem Cover (keine Anlehnung an die sächsische Asterix-Ausgabe „De Rose und’s Schwärd“) sind mehr als schmückender Kaufanreiz. Wer „Fannys Rache“ nicht liest, dem entgeht eine wortgewaltige und intelligente Erfahrung, die die Gegenwart teils in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Huldrychs Ende

Das Wichtigste vorweg: Das hier ist Satire! Ein satirisches Buch über den Literaturbetrieb in München. Da könnte so manchem Frömmling die Oblate im Hals stecken bleiben. Und das ist auch gut so! Denn echte Satire darf alles!

Huldrich Librorius ist Verleger – der Name sagt es ja bereits. Schweizer und der unangefochtener König auf dem Markt. Gerade hat er seine 250. Filiale in Bayerns Landeshauptstadt eröffnet. Mit viel Tamtam, wie es sich gehört. Auf einem Schloss im Süden. Man grüßt sich höflich, hält Smalltalk, verspritzt ein bisschen Gift – verbal. Halt! Nicht nur verbal! Denn am nächsten Morgen ist der König tot. Der letzte Orangensaft war wohl mit etwas versetzt, das dem schwachen Herz Huldrychs nicht bekam.

Und schon springt die Getuschel-Maschinerie Münchens an. Die Esoterik-Buchladen-Besitzern Gundula Hexenstaller (wie gesagt, es handelt sich um Satire) sprintet zu ihrer Bank und will einen Kredit, um die nun besitzerlosen Immobilien zu erwerben. Hat sie etwa ein Motiv den Verlegerkönig zu beseitigen?

Caspar Kurt Caspar, auch dieser Name spricht Bände, zerfetzt sich dermaßen das Maul, dass die Charakterisierung am Beginn des Buches (die ihn als Arschloch UND geilen Kerl bezeichnet) nur als Punktlandung bezeichnet werden kann. Und zwischendrin – wir lesen ja nun mal einen Krimi – Hauptkommissar Lukas Lukaschonsky und Oberkommissarin Jana Vecera. Eine Wahnsinnsfrau, die hat Nerven … hieß einmal in einer Fernsehserie.

Bis man nach reichlich 150 Seiten weiß, wer dem Verleger so vitaminreich den Garaus gemacht hat, muss man in so manches schwarzes Loch schauen. Das geht, wenn man dieser Löcher als bitterböse schwarzhumorige Irrlichter begreift. Wer München kennt, wer die Literaturszene und ihr wirtschaftliches Beiwerk kennt, dem werden so manche Figuren vielleicht nicht ganz unbekannt vorkommen. Wer sie nicht kennt, lernt sie kennen. Versprochen! Lug und Trug sind die Geschwisterpaare dieses unheimlichen Krimis, der zu Tränen rührt. Es sind Tränen der Freude ob der Absurdität, die das Leben schreibt.

Groll

Vittorio Leonardi starb eines natürlichen Todes, sagt der Arzt, der ihn untersuchte und den Tod feststellte. Und darüber hinaus sein Freund seit Schultagen war. Auch gibt es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.

Jahre später sitzt seine Tochter Marina der Anwältin Penelope Spada gegenüber und spricht von ihrem Unwohlsein wegen des Todes ihres Vaters. Jahre später!

Ist schon seltsam. Da unterhalten sich zwei Frauen über den Todes des Vaters der Einen. Die Andere hört gewissenhaft zu und mittendrin fällt ihr urplötzlich der Name der Einen auf. L-E-O-N-A-R-D-I. Das war mal was! Fünf Jahre zuvor war Penelope Spada noch bei der Staatsanwaltschaft. Unter der Flut von Anzeigen stach ihr damals eine besonders hervor. Es ging um die Loge P2 und ihr illegales Schneeballsystem. Das wurde zerschlagen und ein entsprechendes Gesetz zur Vermeidung solcher Untriebe erlassen. Die Loge hatte (und hat?) weitreichende Verbindungen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Ermittlungen führten Spada auch zu dem Namen Leonardi. Vittorio Leonardi. Anerkannter Chirurg und ehemals Abgeordneter. In Spadas Kopf klingeln alle Alarmglocken.

Eigentlich müsste sie den fall ablehnen. Es gibt einfach keine Hinweise auf ein Verbrechen. Aber dieser Familienname – es ist ihre Nemesis.

Vittorio Leonardi starb also an einem Herzinfarkt. Fakt. Kurz zuvor wollte er sein Testament ändern lassen, dass auch seine Ex-Frau, Marinas Mutter, berücksichtigen sollte. Marina selbst hat – auf dem Papier – ihren Pflichtteil bekommen. Doch sie vermutet, nein, sie weiß!, dass ihr eigentlich mehr zusteht. Und die Witwe des Doktors, ist nur schwer aufzufinden. Penelope Spada steht vor einem kniffligen Fall, wenn es denn überhaupt einen Fall gibt.

Gianrico Carofiglio führt die aufgewühlte Situation – Penelope Spada hat wirklich allen Grund aufgewühlt zu sein – mit weisen Worten und bedachtem Tun in ruhige Gewässer. Jede Ermittlung, jedes Gespräch, jeder Hinweis sind winzige Teile eines unüberschaubaren Puzzles, das Penelope Spada zusammensetzen muss. Gern würde sie zuerst die Ecken legen, dann den Rahmen zusammenfügen und sich dann Stück für Stück dem Mittelteil widmen. Doch binnen Bruchteilen von Sekunden befindet sie sich in einem Labyrinth aus Schweigen und Intrigen. Und wenn sie sich nicht allzu ungeschickt anstellt … wer weiß … vielleicht verschwinden dann auch die kreischenden Geister der Vergangenheit?!