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Spatriati

Zieht man eine Übersetzungs-App zu Rate, was Spatriati bedeutet, kommt man dem Kern nur sehr zögerlich nahe. Auswanderer, im Ausland lebende. In Apulien, wo Claudia und Francesco leben, nennt man so diejenigen, die nicht so recht ins Bild passen. Und Claudia und Francesco sind die idealen Aushängeschilder für diesen Begriff. Ist es bei Claudia vordergründig ihre äußere Erscheinung – allein ihr Teint und ihre Haarfarbe passen so gar nicht ins vorgefertigte Bild vom Süden – so ist es bei Francesco seine – ebenso wenig mit Süditalien in Verbindung gebrachte – Verschlossenheit.

Er ist verliebt in Claudia. Es ihr zu sagen, käme ihm aber nicht in den Sinn. Das ausgeflippte Mädchen mit den roten Haaren und der Mozzarella-Haut (farblich) sieht in ihm eigentlich nur einen Leidensgenossen. Zum ersten Mal kommen die beiden n Kontakt als Claudia Francesco eröffnet, dass seine Muter ihren Vater liebt. Und sie zusammenwohnen. Francesco hat das nicht mitbekommen. Aber so richtig wundern kann er sich nicht darüber. Er war und ist ein Einzelgänger mit eigenen Gedanken. Aber so kommt er wenigstens mit Claudia in Kontakt…

Doch die Freude währt nur kurz. Claudia hat ihren eigenen Kopf. Und ihre eigenen Ideen. Und Wünsche und Pläne. Da passt niemand mehr dazu. Schon gar nicht Francesco! Sie will raus! Raus aus Apulien, der sie erstickenden Enge. Weg, weit weg. London, vermutet Francesco. Doch bis zum Abschied dauert es noch. Claudia nimmt jede Gelegenheit zur Flucht wahr. Flucht in Gedanken. Jeden (An-)reiz zum Fliehen präsentiert sie sich selbst auf dem Silbertablett. Und Francesco zerreißt es jedes Mal das Herz, wenn Claudia sich in neue Abenteuer stürzt. Doch Treue ist ihm wichtiger als eigenes Glück.

Doch der Tag der wahren Flucht wird kommen. Und er kommt. Mit einem Mal. Statt London wird es Berlin. Claudia ist nun ca. zweieinhalb Flugstunden entfernt. Die Provinzenge ergreift auch von Francesco mit einem Mal Besitz. Die vertraute Beschränktheit der apulischen Provinz erdrückt auch ihn. Oder ist es die Sehnsucht nach Claudia? Beides. Und Berlino soll ihn nun befreien. Er folgt ihr in die gigantische Weltstadt und erfährt, was es heißt Freiheit selbst erhalten und gestalten zu müssen. Claudia ist ihm da keine große Hilfe. Aus den Aussetzigen sind Auswanderer geworden. Spatriati bleiben sie.

Auswandern als geographische Veränderung ist das Eine. Im Kopf diese Veränderung als Zugewinn zu betrachten etwas Anderes. Erwartungshaltung und Realität klaffen oft weiter auseinander als man es sich vorstellen kann – so manche Auswanderer-Soap beweist das seit Jahren. Mario Desiati blickt tief in die Seele derer, die von Träumen überfordert das Glück vor der Haustür nicht erkennen können.

Dieses Salzburg!

Schon in Salzburg verliebt? Schon dieses Buch gelesen? Oder noch nie in Salzburg gewesen und dieses Buch auch noch nicht gelesen? Salzburg und dieses Buch gehören zusammen wie Nockerln und Mozart – es geht nicht ohne!

Fast neunzig Jahre sind vergangen als dieses Buch zum ersten Mal erschien. Auf Englisch! Von einem Österreicher geschrieben. Ferdinand Czernin. Er musste Österreich verlassen – seine Einstellung zum Nationalsozialismus ließ ihm keine andere Wahl. Seit 1934 lebte er in London, später in den USA.

Über die Jahre hat dieses Buch seine Einzigartigkeit und Allgemeingültigkeit bewahrt. Das liegt zum Einen an dem einprägsamen Stil. Czernin nimmt sich selbst nicht so ernst, und zum Anderen ist es eine Wohltat zu lesen wie sehr doch der allgemeine Wandlungswahn nicht bis in jede kleinste Ritze vordringen kann. Zu der Zeit als dieses Buch erstmals erschien, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, war Salzburg einfach nur die Stadt mit dem weltberühmten Festival. Max Reinhardt inszenierte den Jedermann. Aus aller Herren Länder pflegte man den situierten Ausflug in die Alpen, um dem kulturellen Hochgenuss frönen zu können. Von gekrönten Häuptern bis hin zur Bohème traf man sich an der Salzach.

Ach und Mozart war für viele auch noch ein Grund hierher zu kommen. Um das Musikgenie kommt man eben nicht herum – auch wenn seine Lebensgeschichte auch eine Leidensgeschichte ist. Ein Genuss zu lesen wie Ferdinand Czernin die Ehehölle Mozarts als Triebfeder für seinen Komponierwahn heranzieht.

Aus heutiger Sicht ist diese – von Gabriele Liechtenstein kommentierte – Ausgabe ein echtes Fundstück. Als Zuckerli zum herkömmlichen Reiseband ist es fast schon unerlässlich. Czernin weist niemanden den Weg zum nächsten Highlight der Stadt. Er ist der gut informierte und eloquente Reisebegleiter, der neben einem herstiefelt und jede Anekdote kennt. Und vor allem nicht für sich behält!

Die elegante Aufmachung des Buches ist nicht mehr als die logische Konsequenz aus der Wiederentdeckung dieses Klassikers. Knallbunt und langlebig praktische Aufmachung wären nur fehl am Platze. Hier zählt der Inhalt, und der soll gefälligst in einem passenden Outfit seinen Dienst antreten. Und das tut er. Unermüdlich. Wissbegierig. Informativ. Und unterhaltsam. Der nächste Salzburg-Aufenthalt wird garantiert ein anderer sein.

Der Beifahrer

„Wer anderen eine Grube gräbt…“, „Rache ist ein Gericht, dass man …“, „Wie Du mir, so ich Dir“ – es gibt genug Rachesprüche in der Literatur. Sie alle zu einem neuen Gericht – Achtung, extrem heiß serviert! – zu vermengen, bedarf schon eines echten Chefkochs. Pascal Garnier ist so einer.

Fabien und Sylvie sind schon lange kein Paar mehr im eigentlichen Sinne. Man lebt so vor sich hin bzw. nebeneinander her. Nicht weniger, aber vor allem nicht mehr. Nachdem Fabien seinen nicht minder gefühlskalten Vater in der Normandie beim Ausmisten geholfen hat, hört er in seiner Pariser Wohnung den Anrufbeantworter ab. Die dritte Nachricht wird sein leben ändern. Das weiß er. Aber wie weit diese Veränderung gehen wird, kann er nicht einmal ansatzweise erahnen. Sylvie ist tot. Bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Jetzt ist er Witwer, lautet sein nüchternes Fazit.

Im Krankenhaus erfährt er, dass Sylvie nicht allein im Wagen saß. Und mit ein bisschen Geschick erfährt er auch, wer der mysteriöse Beifahrer war. Spoiler: Das wird nicht das letzte Geheimnis bleiben, das er ans Tageslicht befördern kann…

Fabien ist nun also Witwer. Er nistet sich bei seinem Freund Gilles ein. Der nimmt ihn bereitwillig auf und setzt dabei seine eigene Ehe aufs Spiel. Nachdem die beiden, ein Stroh- und ein echter Witwer, den lieben Gott einen guten Mann sein ließen, rauft sich Fabien als Erster wieder auf. Er weiß, wer der Beifahrer war. Dass er verheiratet war. Und wo die Witwe wohnt. Und er will Rache nehmen! An Martine. Der Witwe Martine, die ihren Mann bei einem Verkehrsunfall verloren hat. Stets an ihrer Seite: Madeleine. Die beste Freundin … und ein bisschen mehr. Anders als man das jetzt vermuten würde! Er folgt Martine und Madeleine. Denn Martine ohne Madeleine – undenkbar. Er bricht sogar in Martines Wohnung ein. Ordnet die Möbel neu, schenkt ihr auch eine neue Pflanze. Ziemlich dreist! Wer Rache nehmen will, muss subtil vorgehen. Wenn Fabien wüsste, was er alles in Gang setzt. Mittlerweile kennt er Martine gut genug. Auch Madeleine kann er ganz gut einschätzen. Im Urlaub auf Mallorca – dass er nicht ganz zufällig auch dort ist, überrascht nun wirklich niemanden mehr – kommen sich die beiden Neu-Singles allmählich näher. Bis … ja bis Madeleine der Kragen platzt!

Wow, was für eine Geschichte. Düster, geschliffen, messerscharf. Jedes Handeln in dieser multigonalen Suspense-Perle ist genau geplant. Eigentlich dürfte man sich über nichts mehr wundern, und doch zuckt man jedes Mal zusammen, wenn die frommen Lämmer zum reißenden Wolf werden. Der perfekte Auftakt der suspense-Reihe im Septime-Verlag verspricht jetzt schon unendliche Spannung und daumendicke Gänsehaut.

An der A26

Ein kleines Loch in der Wand ist die einzige Verbindung nach draußen für Yolande. Hier, irgendwo auf der Straße gen Norden haust sie. Mit ihrem Bruder. Die Welt da draußen ist für sie verbotene Zone, weil sie sich damals mit den Deutschköppen einließ und man ihr nach dem Krieg den Kopf kahl schor. Bernard, ihr Bruder kümmert sich rührend um sie. Doch die Hilfe ist endlich. Er hat Krebs und wird bald sterben.

Ganz in der Nähe wird die neue Autobahn gebaut, die A26. Das Land zwischen ihrem einsamen Haus und der gigantischen Baustelle ist schlammübersät. Überall ist die Erde aufgeweicht. Berge von Dreck türmen sich auf. Unendlich tiefe Löcher sind deren Gegenstück. Doch die Erde birgt so manches Geheimnis.

Denn Bernard hat sich nicht immer unter Kontrolle. Wenn es ihn packt, bei Vollmond, kommt er später nach Hause. Dort wartet dann schon Yolande mit dem Essen. Sie isst niemals allein. Wartet immer auf ihren geliebten Bruder. Der kommt dann meist mit fadenscheinigen Ausreden um die Ecke. Dass er zuvor jemanden selbst um die Ecke gebracht hat, bleibt unausgesprochen. Doch Yolande ahnt etwas. Mit einer gehörigen Portion Genuss liest sie ihm die Horrormeldungen aus der Zeitung vor. Bernard reagiert schon gar nicht mehr auf ihr Reden. Tief im Inneren malt er sich aus wie man den Serienmörder einmal nennen wird, findet man denn je die Toten. Wird man die leblosen Körper dann noch identifizieren können?

Pascal Garnier beschriebt eine Geschwisterlieb, die mit Boshaftigkeit einen untrennbaren Kitt bildet. Yolande hat früher einen Fehler begangen. Die Gründe liegen im Unklaren. Bernard ist – warum auch immer – ein Menschenfeind geworden. Einer mit Anstand, denn nicht jedes potentielle Opfer fällt ihm zum Opfer. Sie und Er, Yolande und Bernard, sind nicht greifbar. Ihr Tun ist bedingungslos und unabänderlich. In ihrem Tun sind sie verzweifelte Einzelgänger. Gemeinsam und schweigend sie ein duo infernale.

Von nun an werden Abstecher von der Autobahn von einer zarten Gänsehaut begleitet. Wer im Dickicht des Halbdunkels oder in tiefster Nacht den Pfad der mobilen Agilität verlässt, dem krampft sich der Stillstand in die Gedanken. Und das alles passiert auf nur etwas mehr als einhundert Seiten… So schnell kann’s gehen!

Wage es nur!

Man muss ja nicht immer gleich das Schlimmste annehmen. Doch wenn die eigene kleine Welt ins Wanken gerät – und sei es nur im eigenen kleinen Hirn – muss man vorsichtshalber schon mal die Messer wetzen.

So sieht es zumindest Beth Cassidy. Sie ist die Top-Cheerleader an der Sutton Grove High. Auf der Pyramide aus eingefrorenem Lächeln, bunten glitzernden Pailletten und befreiendem Whooo-Rufen steht sie ganz oben. In jeder Hinsicht. Beth sagt, alle (!) Anderen kuschen. Besonders Addy, Addy Faddy. Sie ist Beth fast schon verfallen. Sie gibt ihr Halt – beim Cheerleading ist es umgekehrt…

Eine Tages steht Colette French auf der Matte. Die neue Trainerin der Cheerleader. Trillerpfeife und – das sieht man schon, das sehen alle – eine ausgebuffte Ex-Cheeleaderin. Und sie ist streng. Strenger als ihre Vorgängerin, die nun ihre Rolle als fürsorgliche Mutter ihrer Teenager-Tochter mit Mutterrolle wahrnimmt. Es geht richtig zur Sache. Militärischer Drill ist angesagt. Trödeleien gibt es nicht mehr. Und siehe da: Das Team wird besser, stärker, selbstbewusster. Nur Beth ist irgendwie so gar nicht begeistert von der Neuen. Beths Hauptrolle als unbestrittene number one wackelt gehörig.

Und dabei ist Colette French eigentlich gar nicht das alles fressende Monster. Sie ist professionell und liebenswert. Wer ihr die Harke vor die Füße wirft, dem tut sie nicht den Gefallen drauf zu treten und sich das Gesicht zu ruinieren. Doch Beth sieht das anders. Ganz anders. Sie muss was tun. Sie wird was tun.

Bis es soweit ist, wirft Autorin Megan Abbott ist ihr ganzes Können ihr die Waagschale, um dem Leser auf rund dreihundert Seiten die ganze Kunst der schleierhaften Spannung durch die Adern rauschen zu lassen. Man weiß, dass etwas passiert. Sogar was passiert ist klar – steht ja schließlich auf den ersten beiden Seiten. Wie es dazu kam, und was dieses ETWAS nun genau ist, das baut sich Kapitel für Kapitel, Seite für Seite, Absatz für Absatz langsam auf.

Der Ort ist so typisch Highschool-Amerika, dass es fast schon weh tut. Chocolate-Chip-Cookies, Wodka, Einkaufen am Honeycutt Drive, lässig über die Schulter hängende Collegejacken, Schmollmund – eine Setting wie in einem Teenagerfilm, der am Sonntagnachmittag die Sonne da draußen vergessen lässt. Doch hier brodelt es gewaltig im Kessel der Eitelkeiten. Das Blut spritzt erstmal nur als Galle, die die Zunge tröpfchenweise verlässt. Der bittere Geschmack bleibt jedoch haften. Und irgendwann … es bedarf nur eines kleinen Funken … wage es bloß nicht! Allein schon der Gedanke an Megan Abbotts nächsten Streich lässt die Hände zittern, die diesen noir in den Händen halten. By the way: Männer sind hier nur Staffage.

Wir könnten Dschungel sein

Gibt es wirklich eine endgültige Flucht? Ella versucht zu fliehen. Sie schon weit weg vorn dem, as sie einst umgab. Jetzt ist sie mitten im kolumbianischen Dschungel. Weit weg von allem, was sie einmal verstörte. Doch die Ferne ist nur eine geographische Ferne. Emotional sind ihr die Erinnerungen näher als sie es möchte.

Wie eine tödliche Umarmung ergreift der Dschungel ihre Gedanken. Dringt in sie ein. Und lässt sie nicht mehr los. In Wien ist sie aufgewachsen. Mit einer Mutter, die nicht für sie da sein konnte. Ohne einen Vater. Ihre erste Flucht war organisiert. Paris. Doch auch hier griff eine unsichtbare, dennoch greifbare Macht, nach ihr. An freies Durchatmen war nicht zu denken.

Der Kontinentwechsel – Ella ist inzwischen erwachsen – soll die Befreiung bringen. So wie dem Land. Kolumbien erwacht, die Bevölkerung erhebt sich. Doch das ist noch weit weg. Der Dschungel ist eine Barriere des Fortgangs. In jeglicher Beziehung. Farne peitschen ihr ins Gesicht. Und reißen alte Narben auf. Denn die Vergangenheit ist kein Narbengewebe, sie sitzt tiefer im Fleisch als alles andere. Narben heilen. Erinnerungen verblassen. Doch wie verblassen sie? Verschwinden sie hinter einem Vorhang?

Jedes Kapitel beginnt mit einer Rückblende. Auf den leicht abgedunkelten Seiten wird bruchstückhaft das ganze Ausmaß Ellas Vergangenheit sichtbar. Der Schleier hebt sich Stück für Stück. Die erdrückenden Erinnerungen verharren nicht hinter dem Dickicht der Vergangenheit, sie scheinen hindurch. Die folgenden Seiten ergeben erst im Zusammenspiel mit dem Grau der Erinnerungen ein komplettes Bild. Kein schönes Bild. Aber ein eindrückliches Bild, das Ella ein Leben lang verfolgt hat und noch lange verfolgen wird.

Der Dschungel um sie herum wird zum Freund. Denn er lockt die düstersten Momente ihres Lebens heraus. Die Schmach, die Pein, die Verletzungen liegen nun offen da. Sie wegzuwischen ist allerdings kein einfaches Unterfangen.

Isabella Feimer fügt der lähmenden Atmosphäre eine poetische Note hinzu. Sie macht sich angreifbar mit den „schönen Worten“ des Grauens. Ella kennt bisher nur Schmerz und Unfreiheit. Jede Zeile in diesem Buch ist jedoch ein Ausbruch aus diesem Gefängnis. Das ist die wahre Pracht dieses kleinen Buches, das dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Hirn und zehn Finger

Man fragt sich immer wieder, wie es derart kleine Bücher (und damit ist allein nur die haptische Dimension gemeint) immer noch und immer wieder schaffen Vergangenheit und Gegenwart so eindrücklich zu vereinen. Jugoslawien 1943. Die italienische Armee führt Krieg auf fremden Boden. Eine kleine Gruppe von … ja, was sind sie denn?: Slowenen, Kroaten, Serben? Kämpfer? Widerständler? … Menschen! Mit Anstand, Mut und Charisma beraubt die Aggressoren ihrer Munition. Munition im wortwörtlichen Sinne. Um ihrem Mut selbst Munition zu geben – im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinne. In den Wäldern sind sie sicher. Zumindest sicherer als auf weiter Flur. Doch die Sicherheit trügt. Die italienischen Soldaten kommen näher, durchforsten jeden Quadratzentimeter. Flucht oder Angriff? Flucht. Ja, weil sie nur einem Ziel dient: Endlich entscheidend anzugreifen. Die Beute soll die Wende herbeiführen. Und wenn nicht, dann wenigstens einen herben Rückschlag erzeugen.

Es sind junge Männer, vielleicht sogar noch halbe Kinder, die mit dem Mut der Verzweiflung nur ein Ziel kennen: Durchkommen, damit der Diebstahl der Munition nicht umsonst war. Doch die Flucht durch die Wälder, über Berge und Flüsse ist kein Zuckerschlecken. Die einzige Brücke ist hinweggeschwemmt worden. Eine Durchquerung des Flusses äußerst riskant. Blauäugig oder wohl durchdacht? Die Flussquerung wird zum Abenteuer.

Die Gruppe von Partisanen ist ein wild zusammengewürfelter Haufen. Auf dem Papier passen sie gar nicht zusammen. Doch der gemeinsame Feind lassen das Pamphlet der Vorurteile zusammengeknüllt im Morast der Zweifel verrotten. Nicht alle werden durchkommen. Niemand wird Zeit haben die Toten zu betrauern. Und nicht alle werden das ersehnte Ziel erreichen.

Gerald Kersh wacht über diese Truppe vermeintlicher Nichtzusammenpassender wie eine mütterliche Drohne. Er dirigiert sie in die richtige Richtung. Schonungslos lässt er Träume platzen. Unbarmherzig erzählt er ihre Geschichte. Ein kleines Buch, das jedoch auf jeder Seite so bedingungslos offen der Welt die Fratze der Gewalt zeigt. Wer Mut hat, kennt keine Grenzen. Ein Fluss ohne Brücke muss nicht zwangsläufig unüberwindbar sein. Nationalitäten und Ressentiments sind auf Papier gehaltene Klischees, für die das Leben der ultimative Tintenkiller ist. Ein braucht nicht viel, um voran zu kommen. Manchmal reichen ein Hirn und zehn Finger, um Großes zu schaffen.

Nur in Wien

Das ist das Buch für alle, die schon alles über Wien wissen! Oder zumindest meinen alles zu wissen. Hier wird Wien jedem, den die Stadt in ihren Bann gezogen hat, das vor Augen geführt, was er zwar sehen kann, aber niemals sieht.

Wer sich die Mühe macht – und als Besucher muss man es – die Straßennamen zu lesen, dem fällt, wenn man ihn darauf hinweist, sicher auf, dass hier eine gewisse Norm vorherrschend ist. Das betrifft die Maße, aber auch Schriftbild und die Farbe des Untergrunds. Saphirblau? Kobaltblau? Na, es ist Wiener Blau, selbstverständlich. Das ist nicht schwer, sich das einzuprägen. Aber wie kommen die Maße zustande? „27 cm in der Breite, bei einer Höchstlänge von 98 cm“ – so steht es in en Vorschriften. Das waren die Maße der Abfälle bei der Badewannenproduktion. Denn die Firma, die die Schilder herstellte, begann mit Badewannen.

Offensichtlicher sind da schon die Geländer an den Wiener Stadtbahnen. Unverwechselbarer Stil von Otto Wagner. Und das Grün ist auch gefällig. Und so unterschiedlich? Das Wagner-Grün unterschiedlich? Der Stararchitekt der Donaumetropole hat doch alles akribisch notiert, erarbeitet und überwacht. Wie kann es sein, dass an einem am weitesten verbreiteten Hauptwerk solche Unterscheide auftreten? Zum Einen waren die Geländer zu Lebzeiten nicht grün. Mehrere Schichten Grau – das kannte er. Zum Anderen sind mehrere Institutionen mit der Erhaltung der Geländer beschäftigt. Da es aber keine Aufzeichnungen zur Farbgestaltung gibt, wurde es halt Grün. Reseda-Grün ist vorherrschend, aber nicht allgegenwärtig. Ein Fest für Instagrammer!

Wolfgang Freitag schreitet durch Wien wie ein allwissender Sherlock Holmes. Ihm fallen Dinge auf, die mindestens 99 Prozent der Anderen niemals auffallen würde. Das beginnt bei Kanaldeckeln – jeder, der „Der dritte Mann“ gesehen hat, sucht nach dem viereckigen Kanaldeckel, durch den Harry Lime griff (by the way: Die Fingergehören nicht dem Darsteller Orson Welles, sondern dem Regisseur Carol Reed – Mr. Welles war sich zu fein, um in die Kanalisation hinabzusteigen …) – die sind rund, im Film viereckig. Und heute genormt – warum? Ein Blick ins Buch macht jeden Ausflug durch die Stadt zu einem Abenteuer.

So hat man Wien noch nie gesehen, und Wien wird von nun an ein anderes Gesicht zeigen: Offener, vielfältiger und weil so manches Geheimnis jetzt gelüftet ist, wird die Stadt noch reizvoller.

k.o.

Eine Kindheit im Süden – das sind sonnenüberflutete Tage, unbeschwerte Stunden. Nicht für Biagio. In den 80ern lebt der Halbwaise mit seinem Vater in einem süditalienischen Dorf. Hier ist nichts. Sein Vater ist der Metzger des Ortes und genießt so etwas wie Ansehen. Der Kleine hat nichts vom „Ruhm“ des Vaters. Als ein verheerendes Unwetter den Ort dem Erdboden gleichmacht, zieht die Dorfgemeinschaft auf die andere Seite des Hügels. Das laue Lüftchen, das zumindest ein paar Momente Abkühlung verspricht, trägt den muffigen Hauch des alten Dorfes mit sich. Biagio ist kein guter Schüler. Und sein Vater kein guter Vater. Abwechslung scheint die neue Freundin des Vaters zu versprechen. Doch Biagio lernt früh, dass Versprechen nicht immer gehalten werden.

Der schmächtige Junge – ganz der Vater, zumindest figürlich – wächst heran und hält sich mit Boxen die unausweichlichen bösen Gedanken vom Leib. Doch auch hierin ist er kein Meister. Das lässt ihn sein Vater bei mehreren Gelegenheiten spüren.

Selbst die erste Liebe – Sara, die Tochter des Bäckers – bringt kein menschliches Gefühl der Zuneigung in ihm hervor. Sie ist Mittel zum Zweck. Man hält Händchen, fummelt – auf ihr Drängen hin – ein wenig. Aber Zuneigung oder gar Liebe, dazu ist Biagio nicht im Stande. Dennoch heiraten die beiden. Für sie der ganz normale Werdegang. Für ihn mangels Alternativen das, was man halt so macht, was man erwartet. Tief im Inneren spürt Biagio aber, dass er hier im Süden, in diesem verkommenen Kaff einfach nichts zu suchen hat. Er ist verloren im eigenen kleinen Kosmos.

Zu diesem Kosmos gehört auch Vittorio. Er trägt gern Frauenkleider und bezahlt die Männer dafür, dass sie ihm unter den Rock grabschen. Genau dieser Vittorio ist es aber, der Baigio die Augen ein wenig öffnen kann. Ganz anders sieht es mit Aleco aus. Er eröffnet Biagio eine neue Welt, eine ferne Welt, eine gefährliche Welt…

Maurizio Fiorino wirft seinen Helden Biagio in eine düstere Welt, deren Grenzen keinen Hoffnungsschimmer durchlassen. Und trotzdem liest man Seite für Seite mit einem Lächeln im Gesicht. Die Zuneigung zu seinen Figuren und die Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt, dass sich alles doch noch zum Guten ändern wird, tragen den Leser auf Händen. Und schlussendlich hat Biagio doch die Möglichkeit sein Leben selbst noch einmal zusammenzufassen. Ende gut alles gut? Das entscheidet jeder für sich selbst. Eine sensibles Thema, raue Umgebung und nicht einmal fallen die Worte, um die es letzten Endes geht… auch an dieser Stelle nicht. Schweigen ist Gold!

Metropolen des Ostens

Zuerst die schlechte Nachricht: Das ist kein Reiseband! Und jetzt nur noch gute Nachrichten. Denn dieser Biographienband über Städte, die man zwar vom Namen her kennt, die man jedoch sonst als weiße Flecken auf der Landkarte wahrnimmt, ist ein farbenfrohes Spektakel, das seinesgleichen sucht.

Vilnius gehört sicher zu den weißen Flecken auf der Landkarte der meisten, die sich die meisten Farbspritzer erarbeitet hat. Zusammen mit Riga und Tallinn bildet es das Triumvirat des Ostseestädtetourismus. Da tut ein weitreichenderer Blick auf die Geschichte gut und Not.

Minsk kennen die meisten nur als Zentrum der Hölle eines absolutistisch regierten Landes, dessen Oberhaupt nur allzu gern mit der Davidskeule dem Goliath den Schädel einschlagen möchte.

Kasan, Lemberg, Tblissi, Astana sind Städte, teils Hauptstädte!, die Fußballfans aus den Ansetzungslisten der ersten Runde in der European Conference League zumindest namentlich ein Begriff sind. Mehr aber auch nicht. Wobei Astana mittlerweile in Nur-Sultan (nach dem Machthaber Kasachstans) umbenannt wurde.

Odessa – da werden die Ästheten hellwach. Das Paris am Schwarzen Meer, wo die Kulturen aufeinandertreffen, wo ikonische Filmszenen entstanden, wo die Sonne angenehmer schient als an so mancher Mittlerperle.

Und Warschau ist einfach nur der Punkt auf der Landkarte in den Nachrichten, der die Mitte Polens markiert.

Baku … war da nicht mal der ESC? Fast so unbekannt wie Czernowitz. Dazu fällt den wenigsten noch etwas ein.

Es wird also Zeit diesen Städten, diesen Perlen des Ostens, diesen Metropolen, wo die Sonne schon schient, wenn hier der Bäcker seine Stube aufschließt, eine Stimme zu geben.

Und ein Gesicht. Schon beim ersten, losen durch die Daumen gleitend, findet man die offensichtlichen Höhepunkte, die das Reiseherz höher schlagen lassen. Der Bajterek-Turm in Nur-Sultan / Astana oder der Tempel der Arbeiterklasse in Minsk (würde die Bildunterschrift fehlen, könnte man auch meinen ein wirklich sehr gut erhaltener römischer Tempel wäre hier zu sehen) oder die Mariä-Verkündigung-Kathedrale in Kasan stechen einem sofort ins Auge. Also doch ein Reiseband? Nein, immer noch nicht. Es sind die zehn Essays von Autoren der jeweiligen Städte, die dieses Buch zu einem unverzichtbaren Reiseutensil machen, wenn man sich auf die Suche nach Farbe in diesen weißen Flecken macht. Die Autoren haben die gesamte Farbpalette bereits entdeckt. Sie gehen weit zurück in die Vergangenheit, zeichnen Entwicklungen nach und scheuen sich nicht ihre Werke nun der breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Und so mancher Betrachter dreht sich beschämt beiseite und ärgert sich nicht schon früher den Blick gen Osten gerichtet zu haben.