Wir könnten Dschungel sein

Gibt es wirklich eine endgültige Flucht? Ella versucht zu fliehen. Sie schon weit weg vorn dem, as sie einst umgab. Jetzt ist sie mitten im kolumbianischen Dschungel. Weit weg von allem, was sie einmal verstörte. Doch die Ferne ist nur eine geographische Ferne. Emotional sind ihr die Erinnerungen näher als sie es möchte.

Wie eine tödliche Umarmung ergreift der Dschungel ihre Gedanken. Dringt in sie ein. Und lässt sie nicht mehr los. In Wien ist sie aufgewachsen. Mit einer Mutter, die nicht für sie da sein konnte. Ohne einen Vater. Ihre erste Flucht war organisiert. Paris. Doch auch hier griff eine unsichtbare, dennoch greifbare Macht, nach ihr. An freies Durchatmen war nicht zu denken.

Der Kontinentwechsel – Ella ist inzwischen erwachsen – soll die Befreiung bringen. So wie dem Land. Kolumbien erwacht, die Bevölkerung erhebt sich. Doch das ist noch weit weg. Der Dschungel ist eine Barriere des Fortgangs. In jeglicher Beziehung. Farne peitschen ihr ins Gesicht. Und reißen alte Narben auf. Denn die Vergangenheit ist kein Narbengewebe, sie sitzt tiefer im Fleisch als alles andere. Narben heilen. Erinnerungen verblassen. Doch wie verblassen sie? Verschwinden sie hinter einem Vorhang?

Jedes Kapitel beginnt mit einer Rückblende. Auf den leicht abgedunkelten Seiten wird bruchstückhaft das ganze Ausmaß Ellas Vergangenheit sichtbar. Der Schleier hebt sich Stück für Stück. Die erdrückenden Erinnerungen verharren nicht hinter dem Dickicht der Vergangenheit, sie scheinen hindurch. Die folgenden Seiten ergeben erst im Zusammenspiel mit dem Grau der Erinnerungen ein komplettes Bild. Kein schönes Bild. Aber ein eindrückliches Bild, das Ella ein Leben lang verfolgt hat und noch lange verfolgen wird.

Der Dschungel um sie herum wird zum Freund. Denn er lockt die düstersten Momente ihres Lebens heraus. Die Schmach, die Pein, die Verletzungen liegen nun offen da. Sie wegzuwischen ist allerdings kein einfaches Unterfangen.

Isabella Feimer fügt der lähmenden Atmosphäre eine poetische Note hinzu. Sie macht sich angreifbar mit den „schönen Worten“ des Grauens. Ella kennt bisher nur Schmerz und Unfreiheit. Jede Zeile in diesem Buch ist jedoch ein Ausbruch aus diesem Gefängnis. Das ist die wahre Pracht dieses kleinen Buches, das dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben wird.