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Meine Freundin Lo

Paris zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts – Belle Époque. Es herrscht Frieden. Die, die sich regelmäßig treffen, kennen den Krieg nur aus Erzählungen. Eine Schauspielerin, besagte Lo, ein Journalist, eine Theaterdirektor, ein Dichter und ein Politiker. Sie frotzeln, sie diskutieren, reden ohne Unterlass und genießen das Leben. Zwei von ihnen werden ein Paar, genießen den Sommer. Am Ende verlässt sie ihn, um mit einem der Anderen davonzugehen. Kurz und knapp ist diese Geschichte zusammengefasst. Nicht weniger, aber viel mehr!  René Schickele, der Autor dieses kleinen, faszinierenden Büchleins schreibt – ob bewusst oder unbewusst – eine Gesellschaft, die sich seit einiger Zeit wiederholt. Heute nennt man sie die Generation Y. Zur damaligen Zeit – der Roman erschien 1910 – steckten sie allerdings schon in der Diskussion mit Themen, die heute die Generation Z bewegt: Freiheit, Zwanglosigkeit, Regellosigkeit. War man vor reichlich elf Jahrzehnten reifer als heutzutage?

Die Parallelen zur Gegenwart – denkt man sich den ganzen technischen Schnickschnack weg, den man heutzutage unbedingt braucht – sind unübersehbar. Lo, die Schauspielerin, ist ein Star. Wie viele Follower sie wohl heute hätte? Wie oft sie wohl in Boulevard-Magazinen auftreten würde? Ihr liegen die Männer zu Füßen. Sie genießt das. Es ist aber nicht ihr Lebenselixier ihre Verehrer mit falsch verstandener Emanzipation vor den Kopf zu stoßen. Sie hat ihren eigenen Kopf, und mit dem will sie durch die Wand. Kopfschmerzen bei sich selbst nimmt sie gern in Kauf.

Erst im Nachwort treten die Hintergründe der Geschichte klar zu Tage. Der Dichter ist einfach in mehr las nur groben Zügen als der Autor des Buches selbst zu erkennen. Die Schauspielerin ebenso. „Meine Freundin Lo“ als rein autobiographischen Roman zu sehen, wäre dann aber doch überzogen. Schickele gibt sich selbst mehr Raum, um der Schmach der Abfuhr zu entgehen. Dennoch liest sich das Nachwort wie eine Bestätigung dessen, was man da eben auf mehr als hundert Seiten gelesen hat. Nur wer es selbst erlebt, kann so schreiben. Und doch eine Erkenntnis zeigt sich erst ganz am Ende. Das erste Kapitel steht hier nicht am Beginn des Buches, sondern als süßer Abschluss. René Schickele fand es nicht als passend. Also ließ er es einfach weg. Nun sind beide wiedervereint. Zwar nicht in der eigentlichen Reihenfolge, dennoch untrennbar miteinander verknüpft.

Wenn ein Buch das Prädikat „unbegrenzt haltbar“ verdient – so der Name der Bücherreihe, zu der dieses Buch wie die Faust aufs Auge passt – dann dieses!

Wenn Ewigkeit vergänglich wird

Im Urlaub suchen viel Ruhe und Erholung. Andere suchen die Action, um mit erhöhtem Adrenalinspiegel die Sorgen hinwegzuspülen. So ein erhöhter Adrenalinspiegel wäre auf einem Friedhof durchaus unangebracht. Hier flaniert man. Schaut links und rechts. Atmet tief ein. Lauscht der Stille. Und fürs Auge ist auch meist was dabei. Zum Beispiel wenn man die Gartenfriedhöfe Londons erkundet. Was scheinbar verklärt – „Wenn die Ewigkeit vergänglich wird“ – daherkommt, ist ein Juwel unter den Büchern zu diesem Thema.

Die Fülle an Abbildungen – das reicht von historischen bis aktuellen Fotos über Zeitungsausschnitte bis hin zu Skizzen – bricht wie eine gigantische Welle über den Betrachter herein. Die Autorin Georgia Rauer lässt zwar keine Toten wieder auferstehen, gibt aber den Weg frei, um diese architektonischen Stätten der Ewigen Ruhe wirken zu lassen.

London wuchs vor zweihundert Jahren wie kaum eine andere Stadt. In der Stadt fanden unzählige Menschen Arbeit. Schufteten sich die Buckel krumm … und ja, sie starben auch. Ganz natürlich oder manchmal auch unfreiwillig. Doch wohin mit den leblosen Körpern? Windige Geschäftemacher ließen die Leichen mehr oder weniger verrotten, was oft zu einem bestialischen Gestank führte – Enon Chapel brachte es zu einem zweifelhaften Ruf. Später entstand hier ein Tanztempel, der mit den Worten „Tanz auf den Toten“ warb.

Das viktorianische Zeitalter – und in dieser Zeit entstanden die sieben Gartenfriedhöfe Londons war auch geprägt durch die Trauer der Queen, die nach dem Tod ihres Alberts kategorisch schwarzgekleidet auftrat. Als Stilikone ihrer Zeit, und das war sie nun mal, ob sie es wollte oder nicht, prägte sie auch die Bestattungskultur.

Wer heutzutage diese Friedhöfe besucht, kann sich stundenlang auf ihnen bewegen. Botanisches Meisterwerke auf verwunschenen Pfaden, kleine architektonische Perlen, Ruheoasen. So kennt man London nun wirklich nicht. Dieses Buch ist das gelungene Rüstzeug für diejenigen, die London wirklich einmal anders erleben wollen. Abseits von Trubel, Shopping-Overkill und maßlos überteuerten Restaurantbesuchen. Hier herrschen andere Regeln. Bedächtig setzt man einen Schritt vor den anderen und liest ein wenig in diesem Buch. Von der extrem hohen Kindersterblichkeit, von der Verzweiflung der Menschen, aber auch von seelischem Frieden und erhabener Gediegenheit. Spaziergänge über die viktorianischen Gartenfriedhöfe gehören zu den eindrucksvollsten Erinnerungen in einer der eindrucksvollsten Städte der Welt.

nackt!

Über die griechischen Götter wurden sicher schon mehr Bücher geschrieben als so mancher Fußballstar Follower hat. Und doch gibt es immer wieder Bücher, die den geneigten Leser verblüffen. So unverhohlen, so unverblümt, so lustig und dabei informativ wie Anna Derndorfer hat noch niemand die Olympioniken, die Bewohner des Olymps beschrieben.

Zeus, der alte Schwerenöter, der seiner Frau so oft fremdgegangen ist, dass selbst Pornolegende Ron Jeremy verlegen den Schwanz einziehen muss, war nicht der einzige Übeltäter im Himmel. Auf Athene, Hera und … ach wie sie alle heißen, waren (und sind!) keine Vorbilder.

Wie wäre denn ihr heutiger Status! In einer Zeit, in der mehr Regeln das Freisein bestimmen als noch vor einigen Jahrzehnten, würden die Helden in Roben tagein tagaus vor den Pranger gestellt werden. Selbst Sisyphos, das fleißige Arbeitsbienchen – wer weiß schon, dass seine Bewerbung bei Ramstein sicher von Erfolg gekrönt sein würde, denn er war eigentlich Sprengmeister – bekommt sein Fett weg.

Es ist köstlich zu lesen wie sich die Titanen und Götter immer wieder selbst ein Bein stellten. Ihr Vorteil: Sie machen die Regeln selbst und eine (ger-) echte Justiz gibt es nicht. Fast wie auf Erden, möchte man meinen. Denkt man an einige Regierungen, die gar nicht mal so weit entfernt liegen… Da halten sich Staatsoberhäupter auch für gottähnlich.

Es ist immer ein Fest kann man sich in einem Gespräch auf die Geschichte beziehen, Anekdoten zum Besten geben. Wer „nackt!“ (gern auch angezogen) gelesen hat, kann mitreden. Und so manche Schweinerei mit schmissigem Wortlaut in die Runde werfen. Ja, das Buch ist mythisch, nicht mystisch. Und ja, das Buch ist mit mehr als einem Augenzwinkern zu verstehen. Wer aber hat schon die Zeit alle Biographien der antiken Götter zu lesen? Und dann auch noch jede Verbindung sich zu merken?! Allein Zeus’ Affären würde schon an der Aufzählung der Zahl Pi auf die zigste Stelle nach dem Komma gleichkommen. Nee, nee. Anna Derndorfers Buch ist die Quintessenz dessen, was als Grundlage aller Göttergeschichten gilt. Hier wird man vortrefflich bedient und es bleibt sogar was hängen. Welchen Beruf hatte Sisyphos doch gleich bevor er Stein-Den-Berg-Hoch-Roller wurde? Und alle, denen immer wieder vorgeworfen wird, dass sie vorher zuviel nachdenken, sei der Verweis auf Prometheus ans Herz gelegt. Sein Bruder Epimetheus, der der hinterher nachdenkt, ist das griechische Sinnbild für das in den Brunnen gefallene Kind. Da hätte zwar Prometheus, der der vorher nachdenkt, ihm auch mal sagen können, aber die Bürde des Vorausschauens kann eben schon mal zu Erinnerungslücken führen…

Böhmisches Bäderdreieck

Františkovy Lázně, Mariánské Lázně und Karlovy Vary bilden das Böhmische Bäderdreieck. Das muss man niemandem mehr erklären. Und statistisch war jeder schon mal hier. Die Region ist – wie in diesem Reiseband beschrieben – zusammen mit Plzeň das touristische Zentrum im westlichen Tschechien. Prag ist nur ein Katzensprung entfernt, Franken gar noch näher und das Erzgebirge bildet im Norden eine natürliche Grenze, die man nur allzu gern überquert – egal in welche Richtung.

Diese drei Orte – Franzensbad, Marienbad und Karlsbad, die Namen sind geläufiger – sind der Innbegriff des Kurens in Mitteleuropa. Die Quellen der Region versprechen für allerlei Wehwehchen rasche Linderung. Doch was diese drei Orte auszeichnet ist ihr anhaltender Ruf. Von Goethe über Chopin bis hin zu diversen adeligen Staatsoberhäuptern genoss und genießt man hier die entspannte Atmosphäre. Auch wenn man teils im Dreieck springen muss, um voranzukommen. Denn es gibt Zeiten im Jahr, in denen die drei Städte und die Orte dazwischen wirklich überlaufen sind.

Was tun also, wenn man mitten in der Saison zwischen Menschenmassen umherspringen muss, um sich schlussendlich doch erholen zu können? Ein Patentrezept gibt es dafür nicht. Aber es ist ein guter Anfang sich mit diesem Reiseband auf das Triangolat (gibt es das Wort überhaupt?) der mineralischen Genesung vorzubereiten.

André Micklitza schafft es in der Kürze des Buches ein Füllhorn an Aktivitäten, Besichtigungen und Wanderungen zusammenzustellen, das es einem tatsächlich erlaubt mehrere Wochen den Massen aus dem Weg gehen zu können und dennoch die Pracht der Region ausgiebig kennenzulernen. Und dabei auch wirklich nichts auszulassen!

Es ist klar wie das Quellwasser, dass man in den Kurzentren – allein schon der Wandelgang in Franzensbad ist ein Augenschmaus – niemals allein sein wird. Doch die großzügigen Anlagen bieten viel Platz für ruhige Erholungsminuten.

Es sind vor allem die kleinen Tipps – meist farbig unterlegt – die dem Besucher einen Vorsprung vor der Tourimeute bieten. Kleine Gassen, entlegene Pfade, erhabene Aussichtspunkte oder einfach nur Orte, an denen man sich leicht überzeugen lässt, warum so manches Schwergewicht aus Kultur, Politik und Adel hier dem Müßiggang frönten.

Hat man sich genug erholt, sofern das möglich ist, oder einfach mal zwischendrin, steht einem Besuch von Plzeň nichts mehr im Weg. Die Stadt setzte sich mit ihrer Braukunst selbst ein Denkmal – eines der Denkmäler, das man gern besichtigt… Doch auch hier gilt: Nur eine Attraktion ist zu wenig. Plzeň bietet mehr als literweise Hopfenkaltgetränke.

Je nach Entfernung ist das Böhmische Bäderdreieck zu jeder Jahreszeit eine unbedingte Reiseempfehlung. Ein Muss hingegen ist dieser Reiseband.

Die Welt als Zahl

Na, heute schon addiert, subtrahiert, multipliziert oder gar dividiert? Nein? Aber zumindest doch mit Mathe irgendwas zu tun gehabt. Nein? Wirklich? Fahalsch! Jeder hat heute schon auf sein Smartphone geschaut – das läuft nicht ohne Mathe. Aus dem EINEN Bett gestiegen, sich mit EINER Zahnbürste die – im besten Fall ZWEIUNDDREIßIG Zähne geputzt. Oder sich beim Einkaufen über die ZEHNprozentige Preissteigerung geärgert. Alles Mathe. Es geht nicht ohne. Und der Spruch aus der ACHTEN, das man das alles niemals mehr brauchen wird, ist somit hinfällig. Es geht nicht ohne Mathe, und schon gar nicht ohne Zahlen!

Ian Stewart sieht das genauso. Aber ist Mathematiker – der muss das sagen. Seine Verständnis von der Welt der zahlen, der Zahlen in der Welt geht aber viel weiter als der Benzinpreisvergleich per App. Zum Beispiel beim immer wieder heiß diskutierten Thema Organspende. Was hat das denn mit Zahlen zu tun? Nun, zum Ersten müssen die Werte stimmen. Also, passen das zu spendende Organ und der Empfänger überhaupt zusammen. Zugegeben, kein einfaches Thema. Ian Stewart schafft es aber fast spielerisch die komplexe Rechenaufgabe sehr gut darzustellen und vor allem zu vermitteln. Denn es spielen vielmehr Faktoren eine Rolle als man gemeinhin annimmt. Selbst Mathemuffel werden staunen wie einfach derartige Rechen“Spiele“ sein können…

Schon mal was von secp256k1 gehört? Nicht? Aber die Schlussfolgerung daraus ist in aller Munde. Es geht um Kryptowährung bzw. seine Verschlüsselung. Die Datenkrake, die in unser Portemonnaie greift, um es in zu verschlingen. Reich wird man mit dem Wissen darum allein noch nicht. Aber das Verständnis um die Sensibilität wird geschärft. Und vielleicht die Angst ein wenig … geschürt, gemindert … das muss jeder für sich selbst herausfinden.

Ganz egal wie scharf oder lasch man die Zahlen der Welt sieht – und das hat nun wirklich nichts mit der Unschärfetheorie von Heisenberg (nicht der aus „Breaking Bad“, sondern dem Wissenschaftler, der schon mit 25 Jahren in Leipzig als Professor für theoretische Physik lehrte) – mit jeder Seite, die man umblättert, die man mit wachsender Begeisterung liest, werden Zahlen zu einem sichtbaren Teil unseres Lebens. Zumindest für die, die es sich nie vorstellen konnten. Die, die schon immer von Zahlen begeistert waren, sich der Realität nie verschlossen haben, spenden symbolisch anhaltenden Applaus.

Ian Stewart hat die Zahlen nicht neu erfunden. Sein Verdienst ist es ihnen einen Raum zu geben, in dem man sich wie selbstverständlich bewegen kann.

Hotel Amerika

Eine Hochzeit ist ein festlicher Anlass, ein freudiges Ereignis, in den meisten Fällen eine einmalige Sache. Für die direkt Beteiligten auf jeden Fall. Für alle drumherum, die die daran arbeiten, die Angehörigen etc. oftmals eine stressige Angelegenheit. Für Shirley, Ingrid und Franz ist es der ganz normale Wahnsinn im Hotel Amerika. Sie sind nach Amerika gekommen, um das große Glück zu finden. So ein Glück wie Braut und Bräutigam wollen sie auch haben … anfangs.

Shirley, aus Irland eingewandert, posaunt vielsagend in die Welt hinaus, dass sie es ihr letzter Tag sei im Hotel Amerika. Dann käme sie als Gast wieder. Ingrid, Schwedin, ein junges Ding, die immer noch Schwierigkeiten mit der Sprache hat, findet in Shirley eine gute Freundin. Sie sind guter Dinge, dass ihr amerikanischer Traum in Erfüllung gehen kann. Und dann ist da noch Fritz. Aus Berlin. Am frühen Morgen kreuzt er die Finger, dass es endlich klappt mit einer Festanstellung im Hotel Amerika. Sie alle haben keine Flausen im Kopf – Shirley vielleicht ein bisschen. Ihr Job ist ein harter Job. Ihre Träume sind greifbar und doch so fern. Und mit dem heutigen Tag sollen diese Träume ein Stück weit Realität werden.

Doch es kommt anders. Die Braut wird mit einer Nachricht konfrontiert, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Die Hochzeit steht auf der Kippe. Und im Hotel geht es drunter und drüber. Es ist nur ein Tag, der das ganze Leben aller verändern wird. Und diesen Tag beschreibt Maria Leitner auf wunderbare Weise.

Die Autorin selbst hatte ein bewegtes Leben. Sie genoss als eine der Wenigen eine fundierte Ausbildung. Sprach mehrere Sprachen. Reiste um die Welt. Doch die gesellschaftlichen Veränderungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts – Krieg, Weimarer Republik, das Terrorsystem der Nazis – machten ihren Plänen fette Striche durch die Rechnung. Sie floh, kehrte aber ebenso oft, mit falschen Papieren ins brauen Deutschland zurück, um über das Voranschreiten des menschenverachtenden Systems berichten zu können. Doch ihre Flucht endete in einem Desaster. Ihre Bücher brannten als erste auf den Scheiterhaufen der unerwünschten Schriften. Sie hungerte, wandte sich an helfende Hände, wurden von den Nazischergen gefasst und starb einsam und vergessen in deren Gewahrsam. Erst Jahrzehnte nach ihrem Tod konnte dieser einwandfrei festgestellt werden. Die hilfreichen Hände, die Größen wie Feuchtwanger, Brecht und Mann den Weg in die Freiheit ebneten, waren für Maria Leitner nicht greifbar. Ihr Name geriet in Vergessenheit. Ihr erster Roman „Hotel Amerika“ ist nun endlich wieder verfügbar. Ein Juwel, dass eindrucksvoll beschreibt, wozu Menschen fähig sein können, wenn die Umstände die Wahl der Mittel bestimmen.

Phantome der Nacht – 100 Jahre Nosferatu

Immer wieder findet Listen mit „den besten Filmen aller Zeiten“. Die sind fast immer gleich – weil alle von einander abschreiben oder die Auftraggeber dieselben sind. Je nachdem wer die Listen erstellt, wer in der Jury sitzt, woher die Jurymitglieder stammen. Doch, ganz ehrlich, Listen in denen die Filmkunst nicht gewürdigt wird, sondern der Erfolg an der Kasse sind nichts weiter als Marketinginstrumente. Wenn tatsächlich einer der zahllosen Batman-Filme bedeutender – also „besser“ – als beispielsweise „Metropolis“ von Fritz Lang sein soll, sollte man mit seinen Zweifeln nicht hinterm Berg halten.

Vor wenigen Jahren wurde „Nosferatu – Symphonie des Grauens“ eine Ausstellung anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Uraufführung gewidmet. Eine Ausstellung für einen Film! Nicht etwa eine Devotionalienecke in einem Kaufhaus mit allerlei Krimskrams, um genervten Eltern ein paar Stunden Ruhe vor den quengelndem Nachwuchs zu gönnen. Einem Film also, der bis heute die Herzen des Publikums höher schlagen lässt. Nicht nur die ikonischen Bilder. Nicht allein die Effekte, die einzig allein mit handwerklichen Mitteln für Erstaunen sorgen. Nicht allein der Hauptdarsteller, der garantiert nicht wegen seines Namens ausgesucht wurde: Max Schreck. Nein, es ist das Gesamtwerk, angefangen beim opernhaften Vorspann über die expressionistischen Bilder bis hin zum dramatischen Ende. Die Handlung und die Musik (ein besonderes Ereignis, wenn man dies mit Orchesterbegleitung wie dem Babylon-Orchester im Kino erleben kann), die Farbgebung und die dramaturgische Aufbereitung sind ein Fest für die Sinne.

In diesem Buch, dem Begleitband zur Ausstellung im Jahr 2022, erlebt das Kunstwerk „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ seine Auferstehung in Dauerschleife. Immer wenn man darin blättert, erscheinen wie auf der großen Leinwand die Szene nicht nur vor dem geistigen Auge.

Der Film hatte Auswirkung auf fast jedes Kunstgenre. Graphic Novels beziehen sich bis heute auf die optische Umsetzung der Vampirlegende, die Parallelen zum Film von Friedrich Wilhelm Murnau sind derart offensichtlich, dass es keinen Sinn hat sie zu leugnen. Wohl nur noch das Konterfei von Marilyn Monroe von Andy Warhol oder von Che Guevara nach dem Schnappschuss von Alberto Korda haben ähnlichen Weltruhm.

Soll eine mystische Stimmung in einem Bild erzeugt werden, hier ist die Inspirationsquelle aller Düsternis.

Wer dem Mythos „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens “ verfallen ist, dem rauscht bei diesem Buch das Blut in doppelter Geschwindigkeit durch die Adern…

Chronik von Auerbachs Keller

Als Gast in Leipzig, als literaturbegeisterter Gast in Leipzig und vor allem als hungriger Gast gibt es eine Adresse, um die man einfach nicht herumkommt: Auerbachs Keller. Hier ist sogar schon der Teufel „eingeritten“. Olle Goethe – also eigentlich der junge Goethe – hat ihn eindrucksvoll und nachhaltig beschrieben.

Wer sich am Marktplatz sattgesehen hat – und das dauert ein Weilchen – biegt irgendwann automatisch in die Mädlerpassage (um es gleich vorweg zu nehmen: Auch dieser Passage widmet sich der Autor dieses Buches.) ein. Und schon säumen Links und Rechts des Weges zwei Figurengruppen den Weg. Raufbolde auf der Einen, Faust und Mephisto auf der Anderen. Geschwungene Treppen führen hinunter in den Keller, in Auerbachs Keller. An dieser Stelle gibt es seit über einem halben Jahrtausend – unter dem macht man es nicht! – eine Einkehrmöglichkeit, um die Kehle zu befeuchten.

Heute ist es ein straff durchorganisiertes Restaurant, in dem die Kellner rekordverdächtig die Speisen an die Tische bringen und der Gast einen beweglichen Hals braucht. Denn die Wände vom Auerbachs Keller sind reich verziert, oft bis meist mit Motiven aus Goethes Faust. Wer für seine Abschlussprüfung das Thema Faust erhalten hat, und sich speziell die Szenen im Auerbachs Keller vorbereiten will, der braucht eigentlich gar nicht mehr ins Buch zu schauen – hier können die Wände rerden…

Für viele ist ein Besuch hier einer von unzähligen Höhepunkten in der Messestadt. Wer also zur Messezeit, etwas der Buchmesse im Frühjahr, hier speisen möchte, muss vorbestellen, oder kommt kurz nachdem die Türen geöffnet werden.

Bernd Weinkauf bekommt sicherlich immer einen Platz im Lokal. Seine Chronik des Auerbachs Keller ist das Nonplusultra unter den Lokalreiseführern der Messestadt. Selbst Leipziger staunen über die Fülle an Informationen, die man über ein einziges Lokal zusammentragen kann. Die unzähligen Abbildungen, die kundigen Texte, die üppige Aufmachung sind nur drei Gründe hier – ob hungrig oder nicht – hier die Erkundung Leipzig kurz zu unterbrechen oder ausklingen zu lassen.

Waldeck

Deutschland, Westdeutschland im Mai 1964. Die Euphorie über den Weltmeistertitel zehn Jahre zuvor ist dem Wohlstand der Gegenwart gewichen. Eine neue Generation ist auf dem Weg neue Pfade zu beschreiten und alte Zöpfe abzuschneiden.

Journalist Ferdinand Broich hat von einer Frau erfahren, dass sie ihrem Peiniger aus dem KZ begegnet sei. Für ihn, den in Ungnade gefallenen Autor vielleicht die Chance wieder in gesicherte Gefilde schippern zu können. Für die Frau leider der Weg ins Verderben. Als Broich sie interviewen will, ist sie bereits tot. Ist das vielleicht die Story seines Lebens? Der Zynismus dieses Gedankenspiels ist Broich durchaus bewusst. Doch erst vom das Fressen, dass die Moral, sagte schon Brecht.

Währenddessen macht sich eine junge Frau auf den Weg aus ihrem „wohlbehüteten“ Leben auszubrechen. Fast wortwörtlich. Silvia entdeckt Papiere, die nur eines beweisen: Ihr Vater hat eine mehr als dunkle Vergangenheit. Hastig packt sie zwei Koffer, schnappt sich die Aktentasche, die sie versteckt hat und kauft sich eine Zugfahrkarte.

Waldeck soll der erste Ruhehalt auf ihrer reise werden. Sie hat gehört, dass auf der Burg im Hunsrück ein Musikfestival stattfindet. Dort erhofft sie sich die ersehnt Ablenkung.

Andernorts hat man die Hosen gestrichen voll. Zwei Männern sind nicht gerade erfreut über das Tun des jeweils Anderen. Man hätte vorsichtiger sein müssen. Sich nicht erwischen lassen dürfen. Die Tat ist schrecklich genug. Aber einen Augenzeugen entwischen zu lassen … das kann böse enden.

Jürgen Heimbach spinnt in seinem dritten Roman über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ein dichtes Geflecht aus Angst, Hoffnung, Gier, Verrat, falschem Pflichtgefühl und ungebremster Aufbruchsstimmung. Das Festival auf der Burg Waldeck gab es tatsächlich von 1964 bis 1969. Folksänger, Liedermacher nannte man das damals noch. Eine Generation von Künstlern weigerte sich im Tralala der Zeit einzuordnen und machte mit harschen Texten auf die Probleme der Zeit aufmerksam. Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt, ja sogar Katja Ebstein und Reinhard Mey sind bis heute in aller Munde. Die Zeit vor 45, wie man es fast schon neutral beschrieb, war noch nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil. Die braunen Schergen hatten es sich in der Demokratie gemütlich gemacht. Jürgen Heimbach führt im Nachwort auf, dass fast jeder zehnte Zahnarzt aktiv bei der SS war. Sie selektierten in den KZs, stahlen das Zahngold und waren rührige Mitglieder des Regimes. Die Angst davor, dass ihre Tarnung im neuen Deutschland auffliegt, wurden sie nie los. Und was machen betroffene Hunde?… Sie bellen. Manchmal beißen sie sogar.

Die Spannung im Buch lebt vom Vorwissen des Lesers. Die Unerträglichkeit des Unwissens ist der Spannungsbogen, der bis zum Ende radikal durchgehalten wird. Vermutungen schweben über jedem Umblättern und die Erlösung ist wie ein Befreiungsschlag. Die Krimireihe von Jürgen Heimbach – jeder Roman ist für sich eine abgeschlossene Geschichte, doch die Reihung der Ereignisse lässt durchaus die Vermutung nahe liegen, dass man es hier mit einer Reihe („Die rote Hand“ gefolgt von „Vorboten“) zu tun hat – wird fortgesetzt. Man kann sich ja schon mal ein paar Gedanken machen… Eines steht jetzt schon fest: Viele kleine Geschichten türmen sich fast unmerklich zu einer großen umfassenden Geschichte auf, dessen Faszination man sich einfach nicht entziehen kann.

Costiera amalfitana – Geschichte einer Landschaft

Eigentlich würde man die Region an der Küste bei Amalfi gar nicht erforschen. Zu steile Felsen, kaum Wege und Straßen. Und vor zweihundert Jahren gab’s nicht mal Übernachtungsmöglichkeiten. Olle Goethe hat deswegen diesen Landstrich mehr oder weniger mit Missachtung gestraft. Ha! Der arme Tropf! Reist nach Italien und schaut sich nicht einmal die Amalfiküste an! Das ist ja wie … Paris ohne Eiffelturm, San Francisco ohne zerrissene Jeans oder Barcelona ohne Tapas.

Dieter Richter – so steht es im Pressetext zum Buch – hat diese Region studiert. Ja, studiert. Die Amalfiküste – wenn man Traumjob googelt, muss das wohl dabei rauskommen.

Nun ja, es gibt viele Orte und Regionen, wo Italien am italienischsten ist. Meist hängt diese Bewertung vom eigenen gusto und Wissensstand ab. Und die costiera amalfitana ist sicherlich von Italienern überflutet, aber eben auch von so manchen sehnsüchtig nach Italien hechelnden Fremden, der, wenn er denn einmal einen Sitzplatz im ristorante am Meer ergattert hat, diesen nicht mehr hergeben will. Und somit zwar die Aussicht genießen kann, aber eben auch den Rest (die größere „Hälfte“) verpassen wird.

Dieses Wissensvakuum wird durch dieses kleine rote Büchlein gehörig mit Fakten, Analysen, Deutungen in hingebungsvollen Worten gefüllt, doch selber anschauen ist um Einiges mehr wert. So unwirtlich diese Gegend erscheinen mag – stramme Waden sind das Mindeste, was man erhält, nimmt man die Fußwege der Region – so sehr beeindrucket sie von jeher ihre Besucher. Hier versteckten sich Piraten, hier entstand die älteste Seerepublik Italiens, hier berauschten sich Künstler an ihrer Schönheit.

Eine Rundreise mit Dieter Richter ist ein Wissensflash der obersten Kategorie. Es gibt wohl kaum einer Zeile auf dieser Welt, die der Autor nicht vorher gelesen hat, um seinem Kompendium die nötige Fülle verleihen zu können. Von der regionalen Küche über römische Villen (und ihre durchaus pikanten bis geheimnisvollen Geschichten) bis hin zum touristischen Overkill der Gegenwart lässt er keinen Aspekt einer „natürlichen Entwicklung“ der costiera amalfitana aus.

Wer die Amalfiküste besucht, muss sich im Klaren sein, dass er niemals, oder nur sehr selten, allein sein wird. Man muss die Stille wirklich suchen – dafür gibt es Reisebände. Wer die Region verstehen, sie mit allen Sinnen aufsaugen will, der kommt um dieses Buch nicht herum. Das Standardwerk über eine der schönsten Landschaften der Erde!