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Amazonia

Was haben Alexander von Humboldt, Jules Verne und Klaus Kinski gemeinsam? Ihr Ruhm ist eng mit dem Amazonas verbunden. Der Eine durchstreifte den Dschungel, mit diesen Erkenntnissen konnte der Zweite einen faszinierenden Roman schreiben und der Dritte fühlt e sich hier wie der König der Welt, vor und neben der Kamera. Der Amazonas zieht alle in seinen Bann. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis (endlich!) Patrick Deville auch dem Amazonas-Fieber verfiel.

Einmal mehr nimmt er den Leser mit ins Dickicht der Unwissenheit, um mit der Machete der Neugier und dem Drang nach Abenteuern das Licht der Erkenntnis zu finden. Es wird eine Entdeckungsreise der persönlichen Art. Denn viele der Pflanzen und Tiere, die – meist nur hier – vorkommen, wurden schon einmal entdeckt. Aber eben noch nicht von Patrick Deville.

Vielmehr liegen ihm aber die Begegnungen am Wegesrand am Herzen. So versinkt er in der Geschichte der Stadt Manaus mitten im Herzen Brasiliens, dort, wo der Amazonas in schier unendlicher Breite Siedler dazu brachte sich niederzulassen. Heute eine schwitzige Metropole, die in Sachen Quirligkeit den Hafenstädten am Atlantik und am Pazifik in Nichts nachsteht. Und das obwohl sie tausende Kilometer von jedwedem Meer entfernt ist. Hier steht das dschungeligste Theater der Welt, hier herrscht eine Lebendigkeit, die weder durch extreme Luftfeuchtigkeit noch exorbitante Kriminalität beeinflusst wird.

Immer wieder kommt Patrick Deville mit Menschen zusammen, die das Schicksal hier her verschlagen hat. Botschafter, Glücksritter, Einheimische, die ihre Nachbarschaft noch nie verlassen haben. Sie alle zeichnen dem Autor und somit auch dem Leser ein Bild einer Landschaft, das so farbenfroh ist, dass man geblendet ist von der Pracht der Eindrücke. Von Hernán Cortés über die ersten Siedler bis zu Werner Herzog, der wie kein anderer (Verrückter) dem Dschungel und dem Fluss ein Denkmal setzte, stapft Patrick Deville durch die Geschichte dieser Region, um Behutsam ihre Geschichten aufzudecken. Schon nach wenigen Seiten ist man ein Fan. Fan von dieser einzigartigen Landschaft, die dem Verfall preisgegeben wird. Fan von Patrick Deville – sofern man es nicht schon lange ist, schließlich führen seine Bücher Leser seit Jahren durch das Kambodscha der Roten Khmer, das Mexiko Leo Trotzkis, das Afrika bedeutsamer Forscher und und und – weil er es versteht Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. So eine Forschungsreise macht man am Liebsten mit Patrick Deville!

Mein Meister und Bezwinger

Da sitzt er nun der arme Kerl! Vor dem Untersuchungsrichter. Hat gar nichts getan. Und muss rede und Antwort stehen. Und einen Namen hat er auch nicht. Den braucht er auch nicht! Denn er weiß alles! Er kennt Vasco. Und er kennt Tina. Und Edgar. Aber den will er eigentlich gar nicht kennen. Und er weiß, was der Revolver von Verlaine und das Herz von Voltaire mit der ganzen Misere zu tun haben. Und er kann reden, schwelgen, fabulieren, faszinieren, verwirren.

Sein Gegenüber aber auch. Er wirft nicht die Flinte ins Korn, wenn die Ausführungen mal ausufern. Er kennt die Tricks und Kniffe der Literatur. Der Richter ist nicht minder belesen als sein Zeuge. Nur beim Thema Haiku hat er Nachholbedarf. Meister und Bezwinger? Nein, nein, nein. Der Titel dieses unfassbar eindrucksvollen Buches bezieht sich nicht auf Richter und Zeuge oder gar Richter und Angeklagten. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Verlaine. Und da kommt auch der Revolver ins Spiel. Einst Tatwerkzeug, jetzt Museumsstück.

Vasco und Tina sind knallverliebt. Ineinander. Tina hat jedoch Edgar die Ehe versprochen. Nicht nur, weil sie die Mutter ihrer Zwillinge ist. Und nun ist alles im Umbruch. Der Bibliothekar mit der Liebe zu seltenen – und alten – Schriften und die Schauspielerin, die stundenlang Verlaine und Rimbaud (re)zitieren kann. Das ideale Paar? Das ideale Paar! Mit einer Wucht, die Ketten sprengen kann. Mit einer Gewalt, die Mauer zerbröseln lässt. Aber eben nur zusammen. Vasco sitzt allein in seiner Zelle. Und der Richter will verdammt nun endlich wissen, was da passiert ist!

Doch der Zeuge kann nur Fakten heranschaffen. Die Interpretation muss der Richter sich selbst erarbeiten. Und der Leser? Na der ist der Schlaueste von allen…

François-Henri Désérable schickt alle Beteiligten auf eine wilde Reise durch die Literatur. Die verhängnisvolle Liaison von Verlaine und Rimbaud als Bretter, die die Literaturwelt bedeuten sind die Planken eines wackligen Kahns, der teils schon gekentert ist. Die gischtpeitschende See der Eifersucht und Irrationalität ist glitschig und nicht zu zähmen. Es gibt keinen Bezwinger der Wellen, der sie meisterhaft in ruhige Fahrwasser leiten kann. Eine Dystopie? Ach, mit Analysen sollte man sich beim Lesen nicht beschäftigen. Denn hier werden auf gar wundersame Weise Altes und Neues in ein phantasievolles Korsett gesteckt, das sich im Winde wiegt wie ein zarter Grashalm.

Auch wer nicht zwingend die Tragik hinter dem Herzen Voltaires versteht und die Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud kennt, kommt beim Lesen schnell auf den Geschmack welch Freude es bereiten kann umzublättern.

Thomas Mann – Glanz und Qual

Da ist er wieder, oder immer noch. Der Dauerbrenner der deutschen Weltliteraturszene, dessen Feuer niemals verglüht. Hanjo Kesting hat sich ein Leben lang mit dem Schriftsteller beschäftigt und im vorliegenden Buch eine Charakterisierung des Mannes erstellt, der bis heute Literaten, Literaturkritiker und Fans beschäftigt.

Ein streitbarer Autor war Thomas Mann zeitlebens. Das Kaiserreich war ihm näher als er sich vielleicht selbst eingestehen wollte. Die Demokratie in Deutschland sah er kritisch, weil er ihre Schwachstellen erkannte. Die Diktatur verabscheute er wie kein anderer wortgewaltig und mahnend, dass man es bis in die Nachkriegszeit übelnahm. Sein Exil in der Schweiz war mehr als nur ein Ausweg.

In dieser eigenwilligen (und das im rein positiven Sinne) Biographie zerpflückt Hanjo Kesting das Werk Thomas Manns. Aber nicht, um allwissend umherzuprahlen, warum genau dieser Satz, genau dort, genau so steht, weil er – Kesting – beim Herumströmern den Heiligen Gral des Erfolgsromans gefunden hat. Nein er geht ans Werk wie man es tun sollte. Er betrachtet die zeit, in der die Bücher entstanden. Beschaut sich ganz genau, was Thomas Mann „nebenbei so schrieb“ (und trieb). Er zieht Parallelen und folgert auf unnachahmliche Art und Weise.

Ebenso vermeidet er es den Götterstatus des großen Schriftstellers in den Vordergrund zu schieben. Denn dann müsste er sich dahinter verstecken. Selbstbewusst und unbeirrbar stellt er dem Leser einen Mann (DEN Mann) vor, der in der Welt der Literatur fest auf dem Thron sitzt. Dabei scheut er sich nicht seinem Helden (und nichts anderes muss Thomas Mann für Hanjo Kesting sein, denn nur so entsteht eine Biographie wie diese) auch mal hier und da nachzuahmen. Die gezielte, weil notwendige, Kommatasetzung, stellt ab und an eine Herausforderung dar. Auch Thomas Mann liebte es scheinbar sich in Haupt- und Nebensätzen zu ergehen, die erst Seiten später ein Ganzes ergaben. Studenten riet er beispielsweise den „Zauberberg“ zweimal zu lesen. Denn beim zweiten Mal ist der Fluss ein anderer. Und man solle den „Zauberberg“ in Ruhe lesen. Inder Abgeschiedenheit von Davos, beispielsweise – das rät Hanjo Kesting.

Glanz und Qual – ein gelungener, wenn nicht sogar der einzige wählbare Untertitel des Buches, der einmal mehr dazu verleitet, Thomas Mann (noch einmal) zu lesen. Doch wo anfangen? Bei diesem Buch!

Die Flucht der Dichter und Denker

Es gab nicht viele, die mit dem 1979 veröffentlichten Disco-Hit der Village People „Go West“ etwas anderes verbanden als die sagenumwobene Freiheit in San Francisco. Es gab eine Zeit, in der Go West der einzige Weg war, um überhaupt gehen zu können. Es gab zu viele, die diesen steinigen Weg gehen mussten.

Als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen, gab es nicht wenige, die es für eine Frage der Zeit hielten bis der Spuk vorbei sei. Aber es gab auch die großen Mahner, die die dunklen Wolken nicht mehr nur am Horizont verorteten. Eine Massenflucht der Intellektuellen, Künstler, der Elite rollte an. Erst Frankreich, dann Spanien als Transitland nach Portugal. Dort wartete der erhoffte Dampfer in die USA. Hier war die Freiheit wohl grenzenlos. Dass dem nicht immer so war, erfuhren sie erst hinterher. Auch Jahre nach dem braunen Spuk wurden Widerständler unter der Fuchtel von Senator McCarthy mit Argusaugen beobachtet, bespitzelt und in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Der Weg, die Strapazen, die die Flüchtigen – Thomas, Heinrich, Erika und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen – sind oft beschrieben worden. Genauso oft aber blieben noch einige Fragen offen. Warum und an welchem Zeitpunkt wurde die Route bestimmt? Gab es Helfer? Herbert Lackner gibt in diesem Buch einige Antworten, die man so noch nie oder nur in Nebensätzen gelesen hat.

Es liest sich wie ein Krimi, wenn man von dieser Hetzjagd liest. Menschen, denen das Wohl eines ganzen Landes am Herzen lag, die sich zeitlebens der Kunst verschrieben hatten, die in ihrem Tun die Gegenwart als Basis ihres Schaffens verstanden, wurde die Lebensgrundlage entzogen. Ihr Freundeskreis war zersplittert, in alle Richtungen verstreut. Wiedersehen gab es nur sporadisch – umso heftiger die Freude. Denn überall lauerte Verrat. Misstrauen und Verzweiflung zerrütteten Allianzen.

Mit jedem Schritt gen Westen – im Osten lauerte Stalin, in Holland und Belgien war es ebenso unsicher wie im größten Teil Frankreichs und in Spanien warteten willfährige Helfer Francos auf fette Beute – wuchs die Hoffnung bald schon wieder einem halbwegs geregelten Tagwerk nachkommen zu können. Nicht jede Flucht war erfolgreich. Und die ersehnte Freiheit war auch nicht immer am ganzen Leib spürbar.

Man stelle sich vor wie die deutsche Kulturlandschaft heute aussehen würde, wenn die in diesem Buch so eindringlich beschriebenen Fluchtrouten nicht nötig gewesen wären…

Alles Eisen des Eiffelturms

Dieses Buch liest man nicht! Man flaniert durch dieses Buch hindurch. Sind die Füße ermattet, liest man es ein zweites Mal. Werden die Augenlider schwer, träumt man sich in ihm in die Stadt der Liebe, der Künstler, der Flaneure, des Lichts… Und eines Tages trägt am es in der Hand und tut es den Akteuren gleich. Dann, erst dann hat das Buch seinen Zweck mehr als erfüllt. Abgegriffen liegt in den Händen, die die Stadt einfangen wollen. Eselsohren sind die Leitpunkte der zahllosen Spaziergänge durch das Paris, das nicht mehr existiert. Ein Paris, das im Massentrubel ertrunken ist und mit immer wieder neuen erwachenden Angeboten um die Gunst der dürstenden Menge buhlt. Und sich dabei selbst stellenweise aufgibt.

Das Paris dieses Buches ist rund ein Jahrhundert jünger. Walter Benjamin und Marc Bloch. Geistige Väter – für manche Unruhestifter – eines Deutschlands, das in zwölf Jahren den Gegenentwurf zu allem Menschlichen liefert und in Tiefen stürzen wird, aus denen es bis heute nicht vollständig herausgeklettert ist.

Michele Mari ist der Marionettenspieler dieser zwei Köpfe, die in Paris als Passagiere der Verzweiflung gestrandet sind. Mit ihrem Willen gestrandet – ein Widerspruch? Mit Nichtem! Ihre Heimat ist nicht hier. Hier ist lediglich eine erste Endstation. Bis die Braunen und Grauen auch die Farbenpracht der Stadt an der Seine mit ihrem Schlamm bedecken. Es sind sie Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre zuvor. Sie lassen die beiden träumen, ackern, wünschen, hoffen, aber auch verzweifeln, argwohnen, frösteln, trauern. Ihre Bücher sind nur noch Asche. Ihre Namen Schall und Rauch. Doch nicht vergessen.

Sie treffen Menschen, die wir heute als Götter verehren. Namen wie Donnerhall, die in Paris das alte Paris der Künstler suchen, es zum Teil aufbau(t)en, es zu ihrem Paris machten. Und nun? Die Enge der Heimat schnürt Walter Benjamin die Kehle zu. Und bevor dies andere tun, ist er lieber Vertriebener in Paris als getriebener in Berlin. Marc Bloch wird das Versagen der französischen Streitkräfte beim Blitzüberfall der Wehrmacht auch Anfeindungen einbringen.

Michele Mari würfelt Realität und Fiktion derart durcheinander, dass dem Leser schwindelig wird. Hat man erst einmal begriffen, dass es unerheblich ist dies auseinanderhalten zu müssen, ist „Alles Eisen des Eiffelturms“ Pflichtlektüre für den nächsten Trip in die Stadt der Liebe.

Der Walder vom Schwarzwald

Es ist ein Leichtes jemandem etwas vorzuwerfen, das gegen einen selbst gerichtet ist. Genauso einfach ist es immer nur das Contra seines Gegenübers in Feld zu führen, will man ihn in Misskredit bringen. Einen Menschen zu würdigen, der mit seinem ganzen (!) Tun aber immer (!) nur das Gute bewirken wollte, dafür muss man schon tief in den Erinnerungen graben. Annette Maria Rieger tut das. Und zwar in ihrem Buch über Walter Trefz. Walter wen? Trefz? Nie gehört.

Im Schwarzwald und bei denen, denen der Naturschutz im Allgemeinen und Waldschutz im Speziellen am und im Herzen liegt, ist Walter Trefz eine Legende. Unerwartet im Juli 2021 verstorben. Er war der Förster im Kniebis, einer Waldgegend zwischen Karlsruhe und Freiburg i. Br. gelegen. Hier wollte er keine Visionen verwirklichen. Nicht Unwirkliches erschaffen. Keine Kommune mit wilden Ideen gründen. Er wollte den Wald schützen. Einfach, weil es ihm möglich erschien. Und vor allem, weil es notwendig war, ist und wahrscheinlich auch immer sein wird.

Er war ein Rebell. Dieses Label ließ er sich anheften. Denn er wusste, dass Label für Öffentlichkeit sorgen. Eine Rampensau war er deswegen nie. Aber wenn man ihm ein Podium bot, sprang er selbstverständlich als Sprachrohr ein. Der Wald wisse schon wie er sich zu verhalten habe. Der Mensch habe gefälligst seine Finger aus ihm herauszuhalten. Als Spaziergänger, Pilzesammler, auch als Jäger ist der Mensch in Maßen willkommen und mancherorts und manchertags sogar von Nöten. Ansonsten ist er Besucher und habe sich wie selbiger zu verhalten.

Der Walder, wie man ihn, wie die Autorin, die ihn mehrmals besuchte und interviewte, war ein streitbarer Kämpfer. Aber auch ein exzellenter Erzähler. Wenn man von ihm behauptet, er wusste alles (über den Wald), dann kommt keiner dieser Wahrheit näher als der Walder.

Vielen war er ein Dorn im Auge. Immer wieder geriet er mit seinen Vorgesetzten aneinander. Umschiffte so manche Klippe. Und doch zerschellte er auch an einigen Brocken, die man ihm vor die Füße warf. Blauäugig – das kann man ihm nicht vorwerfen. Je mehr er mit scheinbar unverwirklichbaren Ideen die Oberen gegen sich aufbrachte, desto öfter tappte er in Fallen, die ihm schlussendlich den Job kosten sollten.

Annette Maria Rieger gelingt ein Portrait eines Idealisten zu zeichnen, dessen Waffe der Verstand war. Mit spitzer Zunge – und nicht immer politisch korrekt, aber als Rebell ist das ja eine Grundvoraussetzung für den Kampf – und mit messerscharfen Argumenten hielt er sich länger über Wasser, was so manchem Bürotäter die Schweißflecken in frisch gebügelte Hemd presste. Dieses Buch ist ein Denkmal – mehr wert als jeder Marmorsockel und jede Gedenktafel.

Boulevard des Philosophes

Immer ganz nah am Geschehen, nichts hinzugefügt, aber noch weniger etwas ausgelassen. So kann man in zwei Sätzen diesen Rückblick, die Biographie, diese Ehrerbietung vor dem Vater beschreiben. Aber zwei Sätze reichen nun mal nicht aus, um dieses Buch, das vor mehr als einem Jahrhundert erschien – und nun endlich wieder auf Deutsch erhältlich ist – einzuordnen.

Biographen ist es in die Wiege gelegt Daten und Fakten der Reihe nach aufzuzählen. Wer hat wann das erste oder letzte Mal dies oder das getan. Heraus kommt allzu oft eine Tabelle in Prosaform, die sich zwar gut lesen lässt, jedoch das Wesen der beschriebenen Person nicht erfasst. Kaum hat man mal den Olymp der Charts erklommen, stehen schon die ersten Schreiberlinge auf der Matte, die jede Einzelheit aus dessen Leben genauestens kennen und daraus Profit schlagen wollen. Oft klappt das. Doch den Gipfelstürmer kennt man immer noch nicht.

Ganz anders in diesem Buch. Georges Haldas – fast vergessener Schweizer Poet – legt mit diesem Buch nicht nur Zeugnis ab. Er beschreibt seinen Vater als einen gebrochenen Mann. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war Kephalonia die Heimat des kleinen Georges. Dann wanderten die Eltern in die Heimat der Mutter, die Schweiz, Westschweiz, aus. Hier begann für den Vater ein Leidensweg, den er zeitlebens nie mehr verließ. Als Buchhalter schlug er sich durch, um die nötigen finanziellen Mittel aufzutreiben. Als Ausländer war er ständigen Sticheleien ausgesetzt. Als gebildeter Mann war er nicht mehr gefragt. Selbst im eigenen Hause nicht.

Oft drohte er aufzubrechen, in den norden, nach Spitzbergen. Nur, um Ruhe zu finden. Gen Süden, Griechenland, Kephalonia zog es ihn hingegen nicht. Die Heimat war ihm fremd geworden.

Der kleine Georges sah dem Trauerspiel unverstanden zu. Erst im Alter begriff er den Vater samt Schmerz und Zorn. Daraus erwuchs dieses Buch, das an Intensität kaum zu überbieten ist. Den einen oder anderen großen Knall sieht man als Leser vielleicht kommen. Doch er kommt in Etappen und bröckchenweise. Das macht es sehr angenehm in diesem Buch von einer Kindheit zu lesen, die lange zurückliegt – Georges Haldas wurde 1917 geboren. Immer wieder ertappt man sich dabei diesen einen großen Knall vermeintlich überlesen zu haben. Beim Zurückblättern merkt man einmal mehr, dass dieser nicht vorhanden ist. Das ganze Buch ist dieser ersehnte Knall. Und wenn man ganz leise ist, aufmerksam liest, dann bemerkt man ihn schon während des Lesens.

Nazi-Führer sehen dich an: 33 Biographien aus dem Dritten Reich

In einem Land, in dem Bücher verbrannt werden, wird man niemals das Erinnern auslöschen. In einem Land, in dem Hassschriften verbreitet werden, wird es immer Bücher geben, die dagegenhalten können. Als 1933 das perfide Machwerk „Juden sehen Dich an“ dauerte es fünf Jahre bis das gewiefte Buch „Naziführer sehen Dich an“ veröffentlicht wurde. Anonym, versteht sich. Walter Mehring portraitiert darin 33 Nazigrößen – ob die 33 mutwillig gewählt wurde oder Zufall ist? – die man kennen, um deren Tun man wissen und die man verteufeln muss.

Er kategorisiert diese Bekanntheiten – typisch deutsch – und klassifiziert sie nach Göttern, Halbgöttern, Provinzgötter (die dürfte dieses Buch wohl am stärksten persönlich getroffen haben), Heroen, betrogene Betrüger und Drahtzieher. Letztere Namen klingen bis heute nach … Thyssen. Hjalmar Schacht war in den 60ern Berater von verschiedenen Regierungen, die sich sein Wissen und seiner Ansichten zur Finanzpolitik gern annahmen.

Das Buch hat bis heute nichts an Tragweite verloren. Einzig die Tatsache, dass es im Präsens geschrieben ist, verwirrt anfangs. Schließlich ist es fast neunzig Jahre alt und ist in dieser Ausgabe dahingehend nicht verändert worden.

Man muss an dieser Stelle nicht auf jeden einzelnen eingehen. Das wäre zu viele der Ehre für die Schlächter von Millionen von Menschen und Brunnenvergifter ganzer Generationen. Aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es dieses Buch immer noch und wieder gibt.

Der anonyme Mehring geht in seinem Buch auf die Werdegänge der kleinen und größeren Führer ein. Er zeigt ihren Werdegang auf und mit welch drastischen Mitteln sie ihren Aufstieg ebneten. Von Erpressung bis Mord ist da alles dabei, was eigentlich auch im Dunkeldeutschland der Zeit von 33 bis 45 justiziabel gewesen war. Aber manche waren eben doch gleicher als andere…

Es sind vor allem die vermeintlich Unbekannten bzw. nur einem kleineren Kreis bekannten Machthaber, die dieses Buch immer noch so lesenswert machen. Über die Götter weiß man mittlerweile schon so viel, aber wer kennt schon Scheppmann noch? Oder Edmund Heines, Paul Hinkler und Martin Mutschmann? Nicht weniger bedeutend als die Lamettahengste der ersten Garde. Und bei Weitem nicht minder schuldig. Ein Lesebuch, das zusammen mit Klemperers LTI niemals an Aktualität verlieren wird.

Das Sizilien des Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Es ist die Schlussszene des Films „Der Leopard“, der die Faszination dieses Epos ein ums andere Mal zu übertreffen scheint. Die versammelte Gesellschaft gibt sich im Reigen dem eigenen Verfall, des Wegschauens und Wegduckens hin. Man ist höflich-höfig distanziert. Man kennt sich, weiß wen man mag und braucht. Bloß nicht verändern. Opulente Ausstattung, begnadete Schauspieler, eindringliche Bilder.

Doch ist das das Sizilien, das den Besucher mit überbordender Wärme empfängt? Ja. Nur anders. Im Film, und vor allem im Buch ist es ein Sizilien, das von einem Mann beschrieben wird, der genau in diesen Kreisen erwachsen geworden ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa gehörte zum Hochadel der Insel. Als er geboren wurde, war Italien schon eins. Zumindest auf dem Papier. Die Vielstaaterei war „nur noch in den Köpfen“. Aber da saß sie noch fest im Sattel.

Autor Jochen Trebesch begibt sich auf Spurensuche. Bis ins kleinste Detail seziert er den Werdegang des großen sizilianischen Schriftstellers, der immer noch mit nur einem Roman ein Ganzes abbildet, das bis heute ein Rätsel bleibt. Sizilianer als stur und veränderungsunwillig abzutun, träfe niemals komplett den Kern. Sofern dem Unterfangen Sizilien umfassend zu verstehen überhaupt Erfolg beschieden werden kann.

Immer tiefer taucht mit dem Text in ein Leben ein, das so weit entfernt liegt wie Schneesturm in Palermo. Und immer verfestigt sich der Gedanke, dass das Leben des Schriftstellers mehr Symbolgehalt hat als man anfangs dachte. So vollzieht sich im Laufe des Lesens ein Sinneswandel. Der goldene Löffel, der dem kleinen Giuseppe schon in der Wiege im Mund steckte, versperrte ihm nicht die Sicht auf die Umwälzungen, die seinem Land bevorstanden. „Il Gattopardo“, wie „Der Leopard“ im Original heißt und auf das Wappen der di Lampedusa zurückgeht, ist die perfekte Symbiose von erstarkender Vorstellungskraft und Biographie der eigenen Familie.

Die Fotografien in diesem Buch stammen von Angelika Fischer. Die Wahl für Schwarz-Weiß hätte nicht besser sein können. Denn nur so kommen die Kontraste erst zur Geltung. Kein quitschbunter Farbenrausch, der die Stimmung ins gewöhnliche rauschen lässt. Sondern konzentrierter Fokus auf das Objekt. Das Buch mag auf den ersten Blick dünn erscheinen. Doch sein Inhalt ist lehrreicher als so mancher Pageturner, der nach 500 Seiten nur noch als dekorativer Schnickschnack im Bücherregal herhalten kann.

Der Mann, der die Frauen-Europameisterschaft gewann

Achtung, das ist ein Roman! Geschrieben in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts, angesiedelt Ende der Dreißigerjahre des vergangenen. Schon allein die zeitliche Einordnung macht das Thema – und erst recht der Titel – zu einem spannenden Kapitel.

Wer heute die Ergebnislisten von Sportereignissen sich anschaut, wird mit ein paar Klicks die Brisanz der Story erkennen. Wien 1938. Im Hochsprung triumphiert die Ungarin Ibolya Csák mit übersprungenen 1 Meter 64. Doch im Stadion darf sie noch nicht jubeln. Denn jemand anderes ist sechs Zentimeter höher gesprungen: Dora Ratjen. Weltrekord zur damaligen Zeit.

Zeitsprung. Zwanzig Jahre zuvor ist sich Heinrich Ratjen nicht sicher, ob er sich über einen Jungen oder eine Tochter freuen soll. Denn die äußeren Geschlechtsmerkmale sind nicht eindeutig zuzuordnen. Die Hebamme meint aber es sei ein Mädchen. So ist es protokolliert. Und so wächst Dora wie ein Mädchen auf, wird genauso wie zu dieser zeit üblich als Mädchen erzogen.

Wieder ein Zeitsprung zurück ins Jahr 1938. Im Zug gen Norden sitzt eine Person. Die Medaille aus Wien um den Hals gehangen. Weltrekord. Gold bei den Europameisterschaften der Frauen gewonnen. Doch ein mulmiges Gefühl umgibt sie. Viele Passagiere gaffen sie an. So richtig wissen viele nicht warum. Sie müssen einfach gaffen.

Passkontrolle. Die Frau mit der Medaille wird aus dem Abteil geführt. Hier stimmt was nicht. Das haben die Passagiere schon gewusst. Auch die Frau wusste es. Nur anders.

Petr Manteuffel beschränkt sich nicht auf die Faktenwiedergabe. Die ist so spärlich, dass ein Sachbuch mehr einem Heftchen denn einem Buch ähneln würde. Er webt ein dichtes Netz aus falschem Nationalstolz, Verweigerung, Verschwörung, blindem Gehorsam und Ränkespielen. Bekannte Namen treten auf wie Reinhard Heydrich, Statthalter von Prag und prominentes Opfer der Nazis in den eigenen Reihen, selbst Mitglied der Fechtermannschaft. Aber auch involvierte Ärzte – Hitlers Leibarzt, der selbst nicht frei von den Verlockungen der chemischen Industrie war – kommen zu Wort und schreiten zur Tat.

In diesem Netz ist der Leser gefangen. So unrealistisch alles klingen mag, so real war die Geschichte, die schlussendlich kaum wahre Sieger kennt. Was steckte hinter dem ganzen Theater um Dora Ratjen? Nur ein geheimer Plan, um mit aller Macht Gold zu erringen? Ein Sportwettkampf als Experimentierfeld für kommende Ereignisse? Der Roman kann keine Fragen beantworten. Aber er kann Fragen stellen. Und die sind es, die das Weiterlesen derart vorantreiben, dass man nach 160 Seiten erst einmal kräftig durchatmen muss.