Mein Meister und Bezwinger

Da sitzt er nun der arme Kerl! Vor dem Untersuchungsrichter. Hat gar nichts getan. Und muss rede und Antwort stehen. Und einen Namen hat er auch nicht. Den braucht er auch nicht! Denn er weiß alles! Er kennt Vasco. Und er kennt Tina. Und Edgar. Aber den will er eigentlich gar nicht kennen. Und er weiß, was der Revolver von Verlaine und das Herz von Voltaire mit der ganzen Misere zu tun haben. Und er kann reden, schwelgen, fabulieren, faszinieren, verwirren.

Sein Gegenüber aber auch. Er wirft nicht die Flinte ins Korn, wenn die Ausführungen mal ausufern. Er kennt die Tricks und Kniffe der Literatur. Der Richter ist nicht minder belesen als sein Zeuge. Nur beim Thema Haiku hat er Nachholbedarf. Meister und Bezwinger? Nein, nein, nein. Der Titel dieses unfassbar eindrucksvollen Buches bezieht sich nicht auf Richter und Zeuge oder gar Richter und Angeklagten. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Verlaine. Und da kommt auch der Revolver ins Spiel. Einst Tatwerkzeug, jetzt Museumsstück.

Vasco und Tina sind knallverliebt. Ineinander. Tina hat jedoch Edgar die Ehe versprochen. Nicht nur, weil sie die Mutter ihrer Zwillinge ist. Und nun ist alles im Umbruch. Der Bibliothekar mit der Liebe zu seltenen – und alten – Schriften und die Schauspielerin, die stundenlang Verlaine und Rimbaud (re)zitieren kann. Das ideale Paar? Das ideale Paar! Mit einer Wucht, die Ketten sprengen kann. Mit einer Gewalt, die Mauer zerbröseln lässt. Aber eben nur zusammen. Vasco sitzt allein in seiner Zelle. Und der Richter will verdammt nun endlich wissen, was da passiert ist!

Doch der Zeuge kann nur Fakten heranschaffen. Die Interpretation muss der Richter sich selbst erarbeiten. Und der Leser? Na der ist der Schlaueste von allen…

François-Henri Désérable schickt alle Beteiligten auf eine wilde Reise durch die Literatur. Die verhängnisvolle Liaison von Verlaine und Rimbaud als Bretter, die die Literaturwelt bedeuten sind die Planken eines wackligen Kahns, der teils schon gekentert ist. Die gischtpeitschende See der Eifersucht und Irrationalität ist glitschig und nicht zu zähmen. Es gibt keinen Bezwinger der Wellen, der sie meisterhaft in ruhige Fahrwasser leiten kann. Eine Dystopie? Ach, mit Analysen sollte man sich beim Lesen nicht beschäftigen. Denn hier werden auf gar wundersame Weise Altes und Neues in ein phantasievolles Korsett gesteckt, das sich im Winde wiegt wie ein zarter Grashalm.

Auch wer nicht zwingend die Tragik hinter dem Herzen Voltaires versteht und die Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud kennt, kommt beim Lesen schnell auf den Geschmack welch Freude es bereiten kann umzublättern.