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Carapax

Eine Reise nach Rom soll es sein. Ganz allein. Ohne Pierre, ihren Gatten. Und ohne die Kinder. Auch ohne Nina, ihre Schwester. Maddalena fühlt es in jeder Faser ihres Körpers. Sie muss nach Rom. Was für viele Reisewütige ein „ganz normaler Vorgang“ ist, ist für Maddi eine Notwendigkeit ungeahnten Ausmaßes.

Schon immer war sie die Beherrschte, die große Schwester, die, die alles gesagt bekommt, die sich alles anhören muss. Jetzt ist sie einmal an der Reihe. Doch den genauen Grund ihrer Reise wird sie sich noch erarbeiten müssen. Sie weiß nur: Sie muss nach Rom.

Stets ist sie für alle da. Ihren Mann, einen Diplomaten. Das hübsche Anhängsel. Gute Miene zu jedwedem Spiel. Für die Kinder, klar, kein Zweifel. Und für Nina. Die sie pausenlos mit Nachrichten bombardiert, ungeachtet von Zeitverschiebung und Plänen der Schwester in Europa. Nina, das sprunghafte, nur ein paar Monate jüngere Pendant zur überlegten Maddi. Nina ist es auch, die ihre Beziehung zu Brian, ihrem Partner beenden will. Es ist wie ein Fanal für Maddalena. Sie erinnert sich zurück in ihre Kindheit. Als die Mutter sich mit einem Kuss verabschiedete und für immer weg war. Spontane Besuche inklusive. Damals als Papa die Wohnung in Rom kaufte, jemanden einstellen wollte, als Betreuerin für die Mädchen. Als Mama nicht da war. Schon damals war klar: Maddalena und Nina sind so verschieden, dass man es kaum fassen konnte, dass sie tatsächlich Schwestern sind. Maddis Erinnerungen haben scharfe Konturen. Ninas Leben hingegen ist verschwommen wahrnehmbar. Maddis zögert noch sich selbst anzuerkennen. Nina ist sich ihres Tuns bewusst. Und dennoch trägt die jeweils Andere die Konsequenzen der Entscheidungen der Schwester.

Der Name Ginzburg wiegt in Italien, in Europa schwer. Sie ist die Tochter des Historiker Carlo Ginzburg und Enkelin von Natalia Ginzburg, der intellektuellen Stimme der Frauen Italiens nach dem Krieg. Ein Erbe, das schwer wiegen kann. Mit scheinbarer Leichtigkeit erlaubt sie dem Leser Einblick zu nehmen in die Gefühlswelt einer Frau, die Pflichtbewusstsein als eben dieses begriff, darin jedoch nie einen Nachteil sah. Schritt für Schritt emanzipiert sie sich von dieser Rolle, ohne auch nur einmal die schmerzhaften Erinnerungen außer Acht zu lassen als ihre Mutter sie alle verließ. Zwei Schwestern, die sich erst jetzt richtig vereinen werden. Oder ist alles ganz anders?

Italiens Provinzen und ihre Küche

Schon beim Erblicken des Titels weiß man, das kann nur gutgehen. Und dieses Vorurteil wird auf den folgenden 160 Seiten ein ums andere Mal bestätigt. Denn Italien und Essen – das passt wie Roma e storia und  Napoli e vesuvio. Dolce vita zwischen zwei Buchrücken, mit Gaumenfreuden alla nonna. Davon kann man nie genug bekommen!

Das hat sich auch Alice Vollenweider gedacht. Und räumt mit dem Vorurteil auf, dass nur Pasta und Pizza auf dem Stiefel auf die Teller kommen.

So unterschiedlich die Regionen sind, so unterschiedlich sind auch die kulinarischen Gepflogenheiten. Im Laufe der Zeit hat sich sogar der vino zur Pizza in eine gepflegte Hopfenkaltschale verwandelt. Ja, mittlerweile hat der Bierkonsum den Weinverzehr überholt. Das aber nur als Randnotiz für all diejenigen, die mit offen stehendem Mund und stotternder Stimme in bella italia sich entrüsten wollen, dass der Traubensaft so sehr nach zuhause ausschaut…

Liest man das Buch nun mit oder ohne Lätzchen? Das muss jeder für selbst entscheiden. Wer jedoch bei Minestra di fagioli (Triestiner Bohnensuppe), Conchiglie e broccoli (Teigmuscheln mit Broccoli) oder Torta di ricotta (muss man wohl nicht übersetzen) ein leichtes, freudiges Grummeln in der Magengegend verspürt, sollte vorsorgen.

Denn es geht weiter. Region für Region, vom Trentino bis Sizilien, von Venetien bis Sardinien reicht die Menükarte. Und auf ihr hinterlassen Kalb, Hühnerleber und Kaninchen einen leckeren Nachgeschmack.

Schon beim Lesen fällt auf, dass es zwischen den Regionen sehr wohl gewaltige Unterschiede gibt. Während im Norden Polenta auf den Tisch kommt, vertreten Makkaroni bei einer Blindverkostung eindeutig Sizilien.

Neben den Unterschieden verbinden aber auch – zwischen den Zeilen – die Gemeinsamkeiten die cucina italiana. Wo andernorts mächtig Butter verwendet wird, schwören italienische Köche auf Olivenöl. Die barbarische Verwendung von Butter – die ersten italienischen Einwanderer in Deutschland staunten nicht schlecht wegen der Brocken Butter in deutschen Tiegeln – wird hier niemals das reine Öl ersetzen.

Wer Italien liebt, tut dies auch wegen der kulinarischen Entdeckungen. Dieses Buch strotzt nicht nur wegen der einfühlsamen Beschreibungen der Küche Italiens, sondern punktet nicht zuletzt wegen der enormen Anzahl an leicht nachzukochenden Rezepten. Achtundachtzig an der Zahl – und jedes einzelne ein Stück Italien. Buon appetito!

Nostalgia

Columbo lässt grüßen: Man weiß, wer der Mörder ist. Jetzt muss nur noch geklärt werden wie es dazu kam. Und bei dieser besonderen Erzählstruktur beweist Ermanno Rea begnadetes Geschick. Eigentlich beginnt die Geschichte mittendrin…

Felice Lasco kehrt nach 45 Jahren in sein Rione Sanità zurück. Dieses Viertel ist selbst in Neapel verrufen. Wer nicht von hier ist und trotzdem hier hin geht, braucht schon einen verdammt guten Grund. Felice hat so einen wichtigen Grund: Seien Mutter. Sie ist schwer krank und wird bald sterben. Er will sich um sie kümmern. Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, dass er Sanità verlassen hat. Nun ist er zurück und will erst einmal nur schauen, was sich verändert hat, was er noch kennt. Und ob er alte Freunde wiedersehen wird.

Allen voran Oreste – sein Bruder im Geiste. Unzertrennlich waren die beiden. Damals, als Teenager. Oreste der Draufgänger, der kein Risiko scheute, um die eine oder andere Lira an sich zu nehmen. Und Felice, der Besonnene, der in Oreste aber sehr wohl sein Gegenstück fand. Bis eines Tages … naja, jugendlicher Leichtsinn oder doch schon erkennbare kriminelle Energie? Der geplante Einbruch ging gehörig in die Hose. Sosehr, dass Felice fliehen musst. Bis zum heutigen Tag.

Don Luigi Rega, der Pfarrer der Gemeinde ist Felices erster Gang. Er wird ihm helfen sich wieder zurechtzufinden. Denn noch immer schwebt das Damokles Schwert des Verrates über Felice. Und erst recht über Oreste, die Kanaille, wie man ihn nannte. Das Henkerschwert schwebt indes über beiden.

Oreste hat inzwischen Karriere gemacht. Die vorhersehbare Karriere. In einem Viertel, in dem solche Karrieren so vorhersehbar sind wie ein Wintereinbruch in der Stadt am Vesuv.

Emanno Rea packt den Leser tief in der Seele. Die engen Gassen, der Duft der Verzweiflung, die einzigartige Aura Neapels fängt er mit Worten ein, die man so nur selten zu Gesicht bekommt. „Nostalgia“ ist der Roman über Neapel, den man lesen muss, will man die Stadt auch nur ansatzweise verstehen. Kein permanentes (durchaus oft gerechtfertigtes) Klagen über die Hoffnungslosigkeit, sondern schnörkelloses Aufzeigen eines Lebensstils, der jedem Bewohner von Sanità in die Wiege gelegt wird. Fernab von Klischees zeigt er aber auch den Kampfeswillen der Bewohner dem Schicksal die Stirn zu bieten und ihm ab und zu einen gewaltigen Hieb in die Magengrube zu geben. Neapels Touristen sehen meist nur (zum Glück?) die perfekte Symbiose von Verfall und Charme. Ermanno Rea zeigt die Welt hinter der bröckelnden Fassade. Dass hier das happy end nicht hinter jeder Ecke auf Kundschaft lauert, ist klar. Doch auch hier ist Ermanno Rea unbeirrbar. Manchmal ist das Offensichtliche eben auch nicht mehr als eben dieses.

Die Versuchung von Syrakus

Reiseimpressionen sind immer ein Appetitmacher auf ein Reiseziel, bei dem man sich entweder nicht sicher ist, ob es das richtige ist oder sie sind der Tropfen, der das Fass der Sehnsucht zum Überlaufen bringt. Oft spaziert man neben dem Autor einher und nickt zustimmend – Ja, das sehe ich genau so. Und dann gibt es Reiseimpressionen, die packen einem am Schlafittchen und treiben einen in den Wahnsinn. Warum nur war ich nicht schon früher hier? Was habe ich schon alles verpasst? Wie um alles in der Welt konnte ich nur so lange warten? „Die Versuchung von Syrakus“ gehört eindeutig in die letzte Kategorie, wenn dieses Buch nicht sogar diese Kategorie auf ein neues Level hebt.

Joachim Sartorius, ehemaliger Intendant der Berliner Festspiele verbringt einen großen Teil seines Lebens in Syrakus aus Sizilien. Wie viel andere auch. Er muss also wissen, was man in der Stadt sehen muss, was sie erlebbar macht. So wie viele andere auch. Doch er schafft mit einer Leichtigkeit dem Leser, dem Sehnsüchtigen diese Stadt schmackhaft zu machen, dass man sich gar nicht getraut zur Serviette zu greifen und sich den Sabber vom Mund zu wischen.

Selbst so eine profane Handlung wie zum Friseur zu gehen, wird zu einer Sache, die man seiner To-Do-Liste unbedingt hinzufügen muss. Wer bisher dachte, dass sich der Ruhm der Stadt einzig allein auf „Heureka-Ich-Hab’s“-Archimedes gründet, wird schnell eines anderen belehrt. Einmal mit Joachim Sartorius durch de engen Gassen der Altstadt zu wandeln, gleicht einer 3D-Animation, in der man sich wie im bequemsten Federbett fühlt. Ortigia, die Altstadt, ist auf einer Insel der Stadt vorgelagert. Sie zu umlaufen, dauert nicht lang. Sie in sich aufzusaugen, ist eine Lebensaufgabe. Einen umfassenden Vorgeschmack bekommt man hingegen auf den reichlich einhundertsiebzig Seiten dieses Buches. Immer wieder streut der Autor kleine Anekdoten ein, verweist auf Eisdielen, Orte zum Erholen und Staunen und richtet den Blick auf großes Offensichtliches und die Kleinigkeiten, die zu einem Giganten anwachsen, wenn man sie entdeckt.

Bei jedem gelesenen Kapitel, bei jedem Umblättern möchte man einen Freudentanz aufführen, weil man sich nun zu hundert Prozent sicher sein kann, dass man den Besuch von Syrakus mit einem echten Kenner in der Hand vollends genießen kann.

Die Hungrigen

Es waren einmal zwei Brüder. Die lebten in einem Städtchen in Süditalien. Um sie herum war nichts. Auch das, was da war, war nichts. Paolo schuftete auf dem Bau. Sein Chef gängelte ihn, wo er nur konnte. Paolo ließ ihn reden. Fraß die Wut in sich hinein. Antonio, der Jüngere der beiden, würde bald die Schule abschließen. Er kannte keine Wut. Nur Hoffnungslosigkeit. Aber die würde sich legen. Davon war er überzeugt. Dass er selbst etwas dazu beitragen müsse, war ihm nicht klar.

Die Mutter verließ die Brüder schon vor Jahren. Ließ sie zurück mit dem gewalttätigen Vater. Doch auch dieses Kapitel ist schon gelesen – den Vater gibt es nicht mehr. Das Nichts um sie herum kompensieren Paolo und Antonio mit Kiffen, Pizza und belanglosem Sex. Das Morgen ist ebenso weit entfernt wie das Gestern.

Unmerklich geraten beide – unabhängig voneinander – in einen Strudel, der ihr Leben gar nicht noch mehr durcheinander wirbeln könnte. Dennoch tut er es. Gewalt und Hass, stumpfsinniger Leichtsinn und eine gehörige Portion Trauer werden alsbald mit Paolo und Antonio ein Triumvirat der Verzweiflung bilden. Immer wieder wünscht man sich beim Lesen, dass der Anfang bitte niemals das Ende sein darf. Denn im Tiefsten ihres Herzens sind die beiden nur verlorene Seelen, die sich krampfhaft aneinander schmiegen, um bloß nicht den Kitt, der sie zusammenhält, fressen zu müssen, um überleben zu können. Doch das Schicksal hat andere Pläne…

Mattia Insolia lässt zwei hoffnungslose Gestalten die Szenerie beherrschen, die eine viel zu große Bühne für zwei Brüder ist, denen jegliche Erfahrung im Leben versagt geblieben ist. Ihnen ist der einfache Weg mit Schuldzuweisungen der einzig verbliebene Weg, um voranzukommen. Die Hürden umlaufen sie, an Klippen hangeln sie sich hinunter. Dem Kick des Springens können sie nichts abgewinnen. Und so betreten sie die unheilvolle dunkle Halle des Abstiegs, um erst am Boden des Grundes zu erkennen, dass ihre Zweisamkeit das einzige Mittel ist, um überleben zu können. Doch da ist es schon zu spät.

Ellis

Wie soll man in der Fremde Halt finden, wenn der Boden aus einem Gemisch auf Ablehnung gebaut ist? Ellis kennt die Antwort auf diese Frage nicht. Sie ist mit ihrer Mutter aus Italien nach Deutschland gekommen. Alles um sie herum ist fremd. Die Menschen, die Sprache, die Kultur. Vor allem aber diejenigen, die jede Minute um sie herum sind.

Das ändert sich als Grace in ihr Leben tritt. Auf Anhieb sind sich beide so nah wie es sonst nur Schwestern sein können. Von nun an gibt es sie nur noch im Doppelpack. Selbst Ellis’ Mutter bekommt die Tochter nur noch selten zu sehen. Niemals würden sie getrennt sein. Ellis weiß das und klammert sich daran fest wie ein Koala an einem Eukalyptusbaum.

Doch Grace verändert sich. Und wechselt – wie Ellis es sieht – die Seiten.

Jahre später kommen sich beide – nun schon – Frauen wieder näher. Sie verbringen eine Zeit in Italien. Bei Ellis’ Familie. Bei der Nonna. Vorsichtig rücken Ellis und Grace näher aneinander. Gehen gemeinsam die Umgebung erkunden, die für beide fremd ist. Ellis hat ihre Heimat nun in Deutschland. Und Grace kennt in dieser Gegend nichts und niemanden. Außer Ellis. Dennoch schaffen es beide nicht das, was damals geschah aufzuarbeiten. Warum wechselte Grace die Seiten? Die Frage wird in den Raum gestellt. Dort bleibt sie allerdings auch. Oder sind es gar die Worte, die nicht ausgesprochen werden, die die Verständigung so einfach machen?

Selene Mariani ist in Verona und Dresden aufgewachsen. Ihr Romandebüt weißt Spuren dieses Weges auf. Wohlwollend gibt sie beiden Frauen den Raum, den sie benötigen, um sich frei entfalten zu können. Dass das nicht immer schmerzfrei über die Bühne gehen kann, wird ihnen erst im Laufe der Zeit klar.

Mit behutsamen Worten, im rasanten Wechsel der Zeitebenen und unverwüstlichem Glauben daran, dass die beiden wieder zueinander finden werden, berauscht man sich am Festival der Gedanken zweier Frauen, die sich nur eines wünschen: Endlich wieder beisammen zu sein und die Geister der Vergangenheit in den azurblauen Himmel aufsteigen zu sehen.

Das Sizilien des Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Es ist die Schlussszene des Films „Der Leopard“, der die Faszination dieses Epos ein ums andere Mal zu übertreffen scheint. Die versammelte Gesellschaft gibt sich im Reigen dem eigenen Verfall, des Wegschauens und Wegduckens hin. Man ist höflich-höfig distanziert. Man kennt sich, weiß wen man mag und braucht. Bloß nicht verändern. Opulente Ausstattung, begnadete Schauspieler, eindringliche Bilder.

Doch ist das das Sizilien, das den Besucher mit überbordender Wärme empfängt? Ja. Nur anders. Im Film, und vor allem im Buch ist es ein Sizilien, das von einem Mann beschrieben wird, der genau in diesen Kreisen erwachsen geworden ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa gehörte zum Hochadel der Insel. Als er geboren wurde, war Italien schon eins. Zumindest auf dem Papier. Die Vielstaaterei war „nur noch in den Köpfen“. Aber da saß sie noch fest im Sattel.

Autor Jochen Trebesch begibt sich auf Spurensuche. Bis ins kleinste Detail seziert er den Werdegang des großen sizilianischen Schriftstellers, der immer noch mit nur einem Roman ein Ganzes abbildet, das bis heute ein Rätsel bleibt. Sizilianer als stur und veränderungsunwillig abzutun, träfe niemals komplett den Kern. Sofern dem Unterfangen Sizilien umfassend zu verstehen überhaupt Erfolg beschieden werden kann.

Immer tiefer taucht mit dem Text in ein Leben ein, das so weit entfernt liegt wie Schneesturm in Palermo. Und immer verfestigt sich der Gedanke, dass das Leben des Schriftstellers mehr Symbolgehalt hat als man anfangs dachte. So vollzieht sich im Laufe des Lesens ein Sinneswandel. Der goldene Löffel, der dem kleinen Giuseppe schon in der Wiege im Mund steckte, versperrte ihm nicht die Sicht auf die Umwälzungen, die seinem Land bevorstanden. „Il Gattopardo“, wie „Der Leopard“ im Original heißt und auf das Wappen der di Lampedusa zurückgeht, ist die perfekte Symbiose von erstarkender Vorstellungskraft und Biographie der eigenen Familie.

Die Fotografien in diesem Buch stammen von Angelika Fischer. Die Wahl für Schwarz-Weiß hätte nicht besser sein können. Denn nur so kommen die Kontraste erst zur Geltung. Kein quitschbunter Farbenrausch, der die Stimmung ins gewöhnliche rauschen lässt. Sondern konzentrierter Fokus auf das Objekt. Das Buch mag auf den ersten Blick dünn erscheinen. Doch sein Inhalt ist lehrreicher als so mancher Pageturner, der nach 500 Seiten nur noch als dekorativer Schnickschnack im Bücherregal herhalten kann.

Fast nur eine Liebesgeschichte

Das Zitat aus dem Corriere della Sera auf der Rückseite gibt schon die Richtung des Romans vor. Es werden vor allem die Fragen in Erinnerung bleiben. Fragen nach dem Wie und Warum, und nach dem Warum nicht.

Ist Nino wirklich dieser Hallodri, der frei von allen Konventionen nach dem Schauspielstudium in London nach Rom zurückkehrt? Warum nimmt er den Job Senioren Schauspielunterricht zu geben an? Ist er nicht ausgebildeter Schauspieler? Und warum kann er Teresa, der Nicht seiner Mentorin nicht offenen Auges entgegenkommen? Lacht Teresa ihn aus oder lacht sie ihn an? Ist sie an Nino interessiert? Wenn ja, warum schaffen es beide nicht sich anzunähern? Und warum um alles in der Welt muss die Tante herhalten ihre Geschichte zu erzählen? Weil sie die einzige ist, die beide – ihren Schützling und ihre Nichte – versteht? Oder sind es tatsächlich nur die unterschiedlichen Lebenseinstellungen, die Nino und Teresa trennen? Könnte es nicht auch sein, dass genau diese Lebensentwürfe beide einander näher bringen … können?

Sind sie und er überhaupt in der Lage Theater und reales Leben auseinander zu halten? Oder sind sie doch noch nicht so erwachsen wie sie selbst davon überzeugt sind?

Warum rauscht es beim Lesen permanent im Kopf? Weil es einem selbst so geht oder so ergangen ist? Wann hört das auf? Kann man es selbst stoppen? Braucht es dieses Buch, um sich selbst zu erkennen? Und letztendlich: Warum ist dieses Buch einem erst jetzt in die Hände gefallen?

Paolo di Paolo – der Name macht neugierig. Zurecht! Seine Bücher machen süchtig – keine Frage. Immer weiter dringt man in ein Leben vor, das anderen gehört. Da mischt man sich nicht ein. Und dennoch ertappt man sich Seite um Seite dabei ihm, Nino, und ihr, Teresa, Ratschläge geben zu wollen. Ihnen die Angst zu nehmen. Angst vor dem, was kommen könnte. Das ist schließlich die ärgste Angst. Denn sie ist nicht konkret, nur spürbar. Nicht zu greifen.

Greifbar ist hingegen dieser Roman. Mit steigendem Interesse folgt man Nino und Teresa auf Schritt und Tritt, um der eigenen Neugier Nahrung zu geben. Irgendwann muss es doch klappen, dass diese zwei Wesen, die offensichtlich zusammengehören auch wirklich zueinander finden. Allein das Schicksal scheint – scheint – etwas dagegen zu haben. Und niemand auf der Welt, außer Nino und Teresa, kann das ändern. Doch wissen die beiden das?

Valdarno, Casentino, Florenz

Da muss man schon mal kurz nachdenken … Valdarno, Casentino – wo liegt das denn? Die Lösung folgt prompt: Florenz. Dort in der Gegend muss es sein. Wer bei Valdarno schon das Smartphone gezückt hat, um zu schauen, wo es liegt, kann es gleich eingeschaltet lassen. Denn seit einiger Zeit ist es beim Michael-Müller-Verlag üblich zeitgleich zum Buch auch die passende App zu veröffentlichen. Das Buch im Smartphone, mit allen Tipps und Wegbeschreibungen für alle, denen der digitale Wanderweg näher liegt als die gedruckte Faktenvielfalt der besuchten Region.

Wenn man nun also herausgefunden hat, dass, wenn man Valdarno und Casentino zwei Regionen östlich von Florenz sind, kann die Reise voll durchstarten. Mit diesem Reisebuch beginnt das Abenteuer schon beim ersten Durchblättern. Egal, ob Buch oder App!

Und bei diesem ersten Durchblättern fällt dem geneigten Michael-Müller-Reisebuch-Benutzer auf: Irgendwas ist neu. Jeder Absatz wird durch blau abgesetzte Hinweisgeber wie „unbedingt…“, „… und außerdem“ oder „Was läuft“ unweigerlich in den Sog der Buches gezogen. Wenn man in einer Region ist, die man noch nie besucht hat, ertrinkt man nicht selten im Informationsüberfluss. Diese klare Gliederung vereinfacht das Erforschen der Orte, die man erkunden möchte. Nur ein scheinbar kleiner Fort-Schritt, der jedoch seine Wirkung nicht verfehlt.

Und so erblüht Casentino auf wundersame Weise. Der Arno schneidet die Region in Ost und West bei seinem Nord-Süd-Lauf. Rustikal, ursprünglich und erstaunlich ruhig ist es hier. Pralle Landschaften, die zum Schritt-Für-Schritt-Erkunden einladen. Unnötig zu erwähnen, dass die lukullischen Bedürfnisse hier vortrefflich befriedigt werden. Dass man auch ja nichts übersieht, dafür sorgt die Autorin Barbara de Mars. Kein Zweifel – sie war wirklich vor Ort und hat alle Sinne geschärft nicht nur so manchen Kochtopfdeckel gelüftet, sondern jeden ihrer Schritte dokumentiert.

Valdarno ist allein schon durch die geographische Nähe zum opulenten Florenz etwas geschäftiger. Nichts desto trotz jedoch immer noch beruhigter als die Renaissance-Metropole. In Bucine und dem Val d’Ambra muss man „unbedingt…“ die zauberhaften Reste des Castello di Cennina besuchen. Tausend Jahre alt, und nur noch in vereinzelten Überbleibseln zu besichtigen. Doch die haben es in sich. Wer sich vorher kundig macht, kann diesen zauberhaften Ort bei klassischer Musik erleben. Genau dann, wenn das Musikfestival stattfindet. „…und außerdem“ lohnt sich ein Besuch der schlichten Pfarrkirche Pieve di Petrolo“. Im Inneren zeigt sich ein Terrakotta-Schatz, der seit fünfhundert Jahren die Zier des Ortes ist. Wer auf seinem Weg das vermeintlich lapidare „was läuft“ entgegengeschleudert bekommt, kann ganz unprätentiös antworten: „das Froschfest“. Was das ist? Einfach unter im Absatz „was läuft“ nachschauen. Reisen und Infos sammeln kann manchmal ganz einfach sein. In diesem Buch ist es Standard.

Napoli: zwischen Feuer und Wasser

Quadratisch, praktisch, gut – nein, Napoli kann man wirklich nicht mit diesen Worten beschreiben. So quirlig wie die Stadt ist, kann man sie in keine geometrische Form pressen. Ebenso wenig kommt man um den Begriff chaotisch nicht herum. Doch was heißt schon chaotisch, wenn das Ergebnis schlussendlich mehr als zufrieden stellend ist.

Ruprecht Günther portraitiert die Stadt am Fuße des Vesuv mit zwei lächelnden Augen. Man merkt es den Bildern an, dass er sich beim Blick durch den Sucher das Zusammenkneifen des anderen Auges ehrlich verkniffen hat.

Tief religiös, launisch, befreit, bedächtig, lebensfroh – die Liste der Attribute, die diese Stadt beschreiben ließe sich endlos fortsetzen. Und zu jeder dieser Charaktereigenschaften verführt er den Leser / Betrachter zu Schwärmereien. Graffiti des Komikers Toto, ein Prinz, der der Stadt mit seinem Humor im napolitanischen Dialekt eine weithin vernehmbare Stimme gab, folgen Bilder von prall gefüllten Marktständen, grandiose Stadtansichten, die anschließend von zarten Portraits der Bewohner eine Stille erzeugen, die man in der Stadt nur selten erlebt.

Zum Stadtbild gehören auch – zu jeder Jahreszeit – die über die engen Straßen gezogenen Wäscheleinen, die nur darauf warten ein buntes Farbenmeer in den dichten Häuserdschungel zu zaubern.

Wer Napoli kennt, erkennt die Entstehungsorte der Bilder wieder. Sie rufen Erinnerungen wach und nähren die Sehnsucht bald schon wieder zurückzukehren. Die kurzen Texte im Buch unterstreichen die Herzlichkeit der Menschen der Stadt und legitimieren die Fotos als Alltagsschnappschüsse, und nicht als Zufallsprodukte eines Momentes. So ist Napoli, so wird es immer bleiben.