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Spatriati

Zieht man eine Übersetzungs-App zu Rate, was Spatriati bedeutet, kommt man dem Kern nur sehr zögerlich nahe. Auswanderer, im Ausland lebende. In Apulien, wo Claudia und Francesco leben, nennt man so diejenigen, die nicht so recht ins Bild passen. Und Claudia und Francesco sind die idealen Aushängeschilder für diesen Begriff. Ist es bei Claudia vordergründig ihre äußere Erscheinung – allein ihr Teint und ihre Haarfarbe passen so gar nicht ins vorgefertigte Bild vom Süden – so ist es bei Francesco seine – ebenso wenig mit Süditalien in Verbindung gebrachte – Verschlossenheit.

Er ist verliebt in Claudia. Es ihr zu sagen, käme ihm aber nicht in den Sinn. Das ausgeflippte Mädchen mit den roten Haaren und der Mozzarella-Haut (farblich) sieht in ihm eigentlich nur einen Leidensgenossen. Zum ersten Mal kommen die beiden n Kontakt als Claudia Francesco eröffnet, dass seine Muter ihren Vater liebt. Und sie zusammenwohnen. Francesco hat das nicht mitbekommen. Aber so richtig wundern kann er sich nicht darüber. Er war und ist ein Einzelgänger mit eigenen Gedanken. Aber so kommt er wenigstens mit Claudia in Kontakt…

Doch die Freude währt nur kurz. Claudia hat ihren eigenen Kopf. Und ihre eigenen Ideen. Und Wünsche und Pläne. Da passt niemand mehr dazu. Schon gar nicht Francesco! Sie will raus! Raus aus Apulien, der sie erstickenden Enge. Weg, weit weg. London, vermutet Francesco. Doch bis zum Abschied dauert es noch. Claudia nimmt jede Gelegenheit zur Flucht wahr. Flucht in Gedanken. Jeden (An-)reiz zum Fliehen präsentiert sie sich selbst auf dem Silbertablett. Und Francesco zerreißt es jedes Mal das Herz, wenn Claudia sich in neue Abenteuer stürzt. Doch Treue ist ihm wichtiger als eigenes Glück.

Doch der Tag der wahren Flucht wird kommen. Und er kommt. Mit einem Mal. Statt London wird es Berlin. Claudia ist nun ca. zweieinhalb Flugstunden entfernt. Die Provinzenge ergreift auch von Francesco mit einem Mal Besitz. Die vertraute Beschränktheit der apulischen Provinz erdrückt auch ihn. Oder ist es die Sehnsucht nach Claudia? Beides. Und Berlino soll ihn nun befreien. Er folgt ihr in die gigantische Weltstadt und erfährt, was es heißt Freiheit selbst erhalten und gestalten zu müssen. Claudia ist ihm da keine große Hilfe. Aus den Aussetzigen sind Auswanderer geworden. Spatriati bleiben sie.

Auswandern als geographische Veränderung ist das Eine. Im Kopf diese Veränderung als Zugewinn zu betrachten etwas Anderes. Erwartungshaltung und Realität klaffen oft weiter auseinander als man es sich vorstellen kann – so manche Auswanderer-Soap beweist das seit Jahren. Mario Desiati blickt tief in die Seele derer, die von Träumen überfordert das Glück vor der Haustür nicht erkennen können.

Die Gärten des Alkinoos

Reisen bildet, auch wenn das ab und zu mit einem oberlehrerhaften Fingerzeig verbunden ist. Doch was ist schlimmer? Sich von einem erfahrenen Reisenden einen wirklich exponierten Aussichtspunkt zeigen zu lassen oder sich im Nachhinein eingestehen zu müssen, dass die hundert Meter und das zweimalige Abbiegen – das man abgelehnt hat – vielleicht doch besser gewesen wären als die Cola in der schäbigen Bar an der befahrenen Hauptstraße?

Odysseus war einer der ersten, der die Welt bereiste. Und dessen Abenteuer aufgeschrieben wurden. Seitdem hangeln sich Autoren aus aller Herren Länder an diesem Beispiel entlang und führen ihren Zeigefinger über die Landkarten der Erde. Wolfgang Geisthövel verbindet die Antike mit der modernen Zeit. Er folgt historischen Routen in der Gegenwart. Ja, sie sind noch da, die Hinweise. Und wenn man die Texte von Vergil und Homer intensiv liest, findet man die Orte fast so genau wie ein modernes Navi.

Was waren das noch für Zeiten als man den Zedernduft noch allerorts wahrnehmen konnte. Keine Rauchschwaden mit überzogenem Apfel-Zimt-und-was-weiß-ich-sonst-noch-Duft. Hügellandschaften, deren Bewohner den Reisenden im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verdrehten. Orte, die dem Reisenden mehr als ein „krass“ entlockten.

Apulien, Kalabrien, Kampanien, Sizilien, Korsika, Sardinien, Griechenland – nicht nur Sonnenanbeter werden bei der bloßen Erwähnung dieser Ziele unruhig und packen in Gedanken schon mal ihr Reisegepäck. In dieses Reisegepäck gehört so ganz nebenbei auch dieses Buch.

Denn wer sich nicht gern durch die oft rätselhaften Texte der alten Meister durchwühlen und durch die allzu lockeren Interpretationen ohne Ortsangaben sich nicht stressen lassen will, wird mit diesem Buch in der Hand – und da gehört es hin – eine Odyssee mit happy end erleben.

Es ist ein Erlebnis zu lesen, dass man in Taormina, Giardini-Naxos nicht zwangsläufig in Badeschlappen, schon am frühen morgen völlig erschöpft auf dem Bordstein sitzend auf den nächsten Bus warten muss. Und dass Palermo nicht nur aus lärmenden Märkten besteht, sondern auch Ruheoasen hatte, die man heutzutage zwar suchen muss, die aber schon Goethe kannte. Und vor allem seine Wegweiser bis heute weisend sind…

Es sind Bücher wie dieses, die Reisen in eine besondere Zeit verwandeln. Dort, wo schon viele waren, müssen nicht immer noch viele sein. Und wenn doch, hält man inne, blättert ein wenig durch die Seiten und lässt den Lärm der Moderne um sich herum im Rausch und Rauch der Worte aufsteigen.

Dante Alighieri „Die Göttliche Komödie“ Horbuch

In Italien werden Schulkinder mit jedem Satz der „Göttlichen Komödie“ schon früh bekannt gemacht. Weltweit ist dieses Werk sicherlich eines der bekanntesten. Zumindest dem Namen nach. Kaum ein Werk wurde so oft in andere Sprachen übersetzt. Und noch immer seziert man die Lieder, die Abschnitte, die Sätze, ja, sogar die Zeichensetzung und analysiert Dantes Meisterwerk. Selbst in Sitcoms („How I met Your mother“) wird sie mit Respekt zitiert.

Dabei hat der Maestro selbst Anleihen bei Kollegen genommen. Und fast erscheint es als ob die Diskussionen über Dante Alighieri und „Die Göttliche Komödie“ den Hörer mehr in den Bann ziehen als das Werk selbst. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner und der Dramaturg John von Düffel stellen sich auf ihrer Bühne dem Werk. Voller Ehrfurcht und mit einem Übergepäck an Deutungen, Impressionen und einer schier unendlichen Gedankenflut lassen sie den Zuhörer Teil ihrer Welt werden.

Den Auftakt bildet eine eigenwillige Verlinkung von „Der Göttlichen Komödie“ und der von Computerspielen, Avataren und Vernetzung geprägten Gegenwart. Der Bühnenpoet Timo Brunke überspannt sieben Jahrhunderte mit einer hochmodernen Sprache. So wie es Dantes Zeitgenossen vor 700 Jahren ergangen sein musste. Bis dato wurde der eigene Intellekt in Latein verbreitet. Dante hingegen lässt das Italienische den Vorrang. Der Graus des christlichen Glaubens – wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt den Zorn Gottes um ein Vielfaches zu spüren – wird mit einem Mal einem gigantischen Publikum zugängig.

Man muss das Werk nicht zwingend gelesen haben. Es reicht vor erst einmal die pure Kenntnis dessen Existenz’. Ohne viel vorweg zu nehmen, macht die Diskussion über das Werk Appetit auf ein Meisterwerk, das man nun vielleicht doch einmal in die Hand nehmen sollte.

Auch der Autor selbst wird zum Objekt der Begierde der Verbalduellanten. 1321 ist er in Ravenna gestorben. Und seitdem lebt er in den Gedanken weiter. Seine Gedankenspiele beispielsweise zum Übermenschen, zu Schuld und Sühne, der Suche nach Vollendung wird niemals an der Sinnsuche scheitern. Vielleicht sollte man diese Doppel-CD im Hintergrund im Pause-Modus parat halten. Und wenn einem beim Lesen die Schwere des Textes zu erdrücken droht, drückt man PLAY. Es wird wie ein Licht in dunkler Nacht sein. Vielleicht sind es aber auch die züngelnden Flammen des Höllenfeuers…

Marken

Klingt auf den ersten Blick gar nicht italienisch: M-A-R-K-E-N. Ist es aber! Und wie! Die Region bietet alles, was das italienische Sehnsuchtsgefühl verlangt: Berge, weite Landstriche und Meer. Und jede Menge Kultur. Und sogar stundenlange Spaziergänge, in denen man nicht einen einzigen Touristen im abgeschmackten Fußballtrikot sieht.

Urbino ist sicherlich das Herzstück der Region. Eine Stadt, die vor Renaissance-Pracht strahlt. Da läuft einem das Auge über. Paläste und Straßencafés, großzügige Plätze und kuschelige Gassen. Und wer ein bisschen nach außerhalb wandert, wird mit einzigartigen Aussichten belohnt, die noch lange anhalten werden. Wie beispielsweise oberhalb der Marmitte-Schlucht bei Fossombrone. Ein grandioses Tal, dessen Hänge sich ihre Wildheit bewahrt haben. Und direkt an der Via Flaminia, die – wie soll es anders sein – direkt nach Rom führt.

Fano hingegen ist wohl nur denjenigen bekannt, die sich Rimini im Norden (gehört aber schon zur Emilia Romagna) schon abgewöhnt haben. Eine 60.000-Einwohner zählende Stadt, die mit ihrer Lage am Meer zu punkten weiß. Es lohnt sich den sauberen Sand- und Kiesstrand zu verlassen, um die Stadt zu erkunden. Und wer ganz genau hinsieht – oder in diesem Reiseband blättert – findet so manches historische Leckerli.

Sabine Becht und Sven Talaron machen einer Region die Aufwartung und zeigen jedem Willigen Orte, Plätze, Aussichtspunkte, die man nie wieder vergessen wird. So vergessen wie es scheint, ist Marken nicht. Zwischen hübsch herausgeputzt, urigen Wanderpfaden und einer traditionellen Küche finden sie noch viel mehr Wissenswertes, das bisher kaum oder noch nie in einem Reiseband vorgestellt wurde. Die Wege sind manchmal etwas weiter als anderswo auf dem Stiefel. Dafür ist hier öfter der Weg das Ziel.

Und wer sich die zahlreichen farbigen Kästen im Buch genau durchliest, staunt immer wieder wie viel typisch Italienisches aus dieser Region stammt. Der Maler Raffael wurde hier geboren, um die vielleicht wichtigste Person einmal zu nennen.

Sassoferrato ist mit Bestimmtheit einer der typischsten Orte in der Region. Ein zweigeteilter Ort – unten geschäftig, oben ganz ruhig – der seine Schönheit jedem ganz offen zeigt. Hier findet jeder, was er braucht. Wenn man sich unter die siebentausend Einwohner mischt, fällt man sicherlich auf – wie an vielen Orten der Marken – doch man fühlt sich im Handumdrehen heimisch. Wer sich bisher noch nicht für die Marken als nächstes Italienziel entschieden hat, dem wird hier eine gehaltvolle Entscheidungshilfe geboten. Wer Marken schon auserkoren hat, wird staunen, was er auf seiner To-Do-Liste noch vergessen hat.

k.o.

Eine Kindheit im Süden – das sind sonnenüberflutete Tage, unbeschwerte Stunden. Nicht für Biagio. In den 80ern lebt der Halbwaise mit seinem Vater in einem süditalienischen Dorf. Hier ist nichts. Sein Vater ist der Metzger des Ortes und genießt so etwas wie Ansehen. Der Kleine hat nichts vom „Ruhm“ des Vaters. Als ein verheerendes Unwetter den Ort dem Erdboden gleichmacht, zieht die Dorfgemeinschaft auf die andere Seite des Hügels. Das laue Lüftchen, das zumindest ein paar Momente Abkühlung verspricht, trägt den muffigen Hauch des alten Dorfes mit sich. Biagio ist kein guter Schüler. Und sein Vater kein guter Vater. Abwechslung scheint die neue Freundin des Vaters zu versprechen. Doch Biagio lernt früh, dass Versprechen nicht immer gehalten werden.

Der schmächtige Junge – ganz der Vater, zumindest figürlich – wächst heran und hält sich mit Boxen die unausweichlichen bösen Gedanken vom Leib. Doch auch hierin ist er kein Meister. Das lässt ihn sein Vater bei mehreren Gelegenheiten spüren.

Selbst die erste Liebe – Sara, die Tochter des Bäckers – bringt kein menschliches Gefühl der Zuneigung in ihm hervor. Sie ist Mittel zum Zweck. Man hält Händchen, fummelt – auf ihr Drängen hin – ein wenig. Aber Zuneigung oder gar Liebe, dazu ist Biagio nicht im Stande. Dennoch heiraten die beiden. Für sie der ganz normale Werdegang. Für ihn mangels Alternativen das, was man halt so macht, was man erwartet. Tief im Inneren spürt Biagio aber, dass er hier im Süden, in diesem verkommenen Kaff einfach nichts zu suchen hat. Er ist verloren im eigenen kleinen Kosmos.

Zu diesem Kosmos gehört auch Vittorio. Er trägt gern Frauenkleider und bezahlt die Männer dafür, dass sie ihm unter den Rock grabschen. Genau dieser Vittorio ist es aber, der Baigio die Augen ein wenig öffnen kann. Ganz anders sieht es mit Aleco aus. Er eröffnet Biagio eine neue Welt, eine ferne Welt, eine gefährliche Welt…

Maurizio Fiorino wirft seinen Helden Biagio in eine düstere Welt, deren Grenzen keinen Hoffnungsschimmer durchlassen. Und trotzdem liest man Seite für Seite mit einem Lächeln im Gesicht. Die Zuneigung zu seinen Figuren und die Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt, dass sich alles doch noch zum Guten ändern wird, tragen den Leser auf Händen. Und schlussendlich hat Biagio doch die Möglichkeit sein Leben selbst noch einmal zusammenzufassen. Ende gut alles gut? Das entscheidet jeder für sich selbst. Eine sensibles Thema, raue Umgebung und nicht einmal fallen die Worte, um die es letzten Endes geht… auch an dieser Stelle nicht. Schweigen ist Gold!

Und doch so fern

Da waren sie wieder: Meine drei Probleme. Nö, nö, nö. So einfach macht es Paolo di Paolo dem Leser nicht. Aber die Zahl Drei spielt schon eine nicht ganz ungewichtige Rolle in „Und doch so fern“.

Rom, 1983 (das ist sie, die Drei). Das Schicksal hat bei Luciana zugeschlagen. Die Redakteurin, die bei Feierlichkeiten zu Gulio Andreottis Politikjubiläum genauso zugegen ist wie bei der Filmpremiere von Fellinis neuem Film, ist schwanger. Unverhofft. Vom Iren. Der hat keinen Namen, einfach nur der Ire. Das mag daran liegen, dass er eh nicht da ist. Nicht greifbar ist. Für sie ist er in Dublin, wieder zurück in der Heimat. Aus den Augen, nicht ganz aus dem Sinn. Im siebten Monat verbringt sie immer noch mehr Zeit in der verqualmten Redaktion (1983 – da ging das noch) als in den heimischen vier Wänden, wo sie sich ausruhen und auf die kommende Lebensaufgabe vorbereiten könnte. Ablenkung ist ihr näher als Vorsicht.

Valentina geht es nicht viel anders. Auch sie trägt die Frucht einer Nacht wie eine Monstranz vor sich her. Doch Ermes, der Erzeuger dieser Frucht, ist ihr ferner als je zuvor. Sie ignoriert ihn beharrlich. Der Schüler, der immer noch glückselig wegen des gewonnenen Scudetto der AS Roma ist, wird ein ums andere Mal vor den Kopf gestoßen, wenn er Valentina begegnet. Sie vertraut sich lieber einer Prostituierten an. Mit ihrer Mutter kann sie darüber nicht reden, und schon gar nicht mit ihrem Vater.

Nummer Drei ist Cecilia und oh, Wunder, auch sie ist schwanger. Von Gaetano. Unermüdlich versichert sie ihm, dass sie nichts, nie wieder etwas von ihm will. Nichts bedeutet in ihrem Falle gar nichts. Niente di niente. Gaetano dreht es jedes Mal den Magen um, wenn er derart barsch abgewiesen wird.

Drei Frauen in den 80ern in Rom. Ungewollt schwanger und völlig überfordert mit der Rolle, die sie in absehbarer Zeit einnehmen sollen. Hilfe können sie nicht erwarten, aus unterschiedlichen Gründen. Sie wollen auch keine Hilfe. Ebenso aus unterschiedlichen Gründen. Und zwischendrin der Erzähler. Der so detailreich aus dem Leben der zweimal Drei (!) Personen berichten kann. Warum weiß der eigentlich so viel? Dieses Rätsel wird am Ende des Buches gelüftet. Ein grandioser Kniff, den Paolo di Paolo da anwendet. Während man beim Lesen schon daran denkt wie denn nun die Geschichte (die drei Geschichten) ausgeht, kommt er mit einem Twist um die Ecke, die jeden verblüfft.

La fenice

Da steht man nun vor diesem Bild. „Die Venus von Urbino“, gemalt von Tizian, Mitte des 16. Jahrhunderts. Alles so rein, so frisch, ein bisschen anstößig. Wenn man an die zeit denkt, in der es gemalt wurde. Und schon springt das Räderwerk im Kopf an. Wer ist das? Wer sind die Personen im Hintergrund? Alles nur Phantasiegeschöpfe oder reale Personen?

Venedig zur Zeit Tizians. Schon früh bemerkt Angela, dass es klüger ist den Mund zu halten als sich gleich zu beschweren. Ihr Vater ermöglicht ihr eine Schulbildung. Doch ihr Lehrer ist mehr an ihren Brüsten und dem Körper interessiert als dem jungen Ding die Lektionen zu erteilen, für die er bezahlt wird. Angela erduldet es. Die Stimme der Mutter, die ihr rät still zu bleiben stets im Hinterkopf. Jahre später kommt ihr diese harte Schule zugute. Als Kurtisane – auch so ein Wort, das man heute kaum noch verwendet, mit Sicherheit wer sie heute Influencerin – hat sie sich einen respektablen Ruf erarbeitet.

Es ist ein Venedig, das vom Handel lebt. Und so ziemlich alles ist eine Ware. Informationen sind die haltbarsten Güter. Der Poet Aretino ist das Lästermaul der feineren Gesellschaft. Er weiß Dinge zu berichten … und tut es auch. Immer, wirklich immer, mit der Maßgabe selbst einen Vorteil für sich selbst herausziehen zu können. Die Wuchermieten der Serenissima zahlt er nicht! So einer hat natürlich Feinde, und die wenigen Freunde, die er hat, sich wohlweislich ausgesucht.

Dann ist da noch Fedele. Einst eine blühende Schönheit. Heute verschrobene Alte, der man lieber aus dem Weg geht, wenn man sie nicht kennt und ihr mit ihren Bücherpaketen begegnet. Doch Fedele ist gerissen. Sie hat vorgesorgt. Ihr Wissen ist fast so viel wert  wie das von Aretino.

Nun hat sich Angela, La Zaffetta, kein rühmlicher Spitzname, den sie von ihrem Vater übernehmen musste, in den Kopf gesetzt ihr Leben zu ändern. Einen ihrer Stammkunden lehnt sie unverhohlen ab. Sie kann sich das erlauben, meint sie. Doch eben dieser Lorenzo Venier ist ein enger Freund von Aretino. Und den hat man lieber nicht zum Feind. Ein kurzes No und die Welt von La Zaffetta wird nie wieder dieselbe sein…

Lea Singer gibt in ihrem historischen Roman „La fenice“ der Geschichte eine gehörige Portion Geschichte hinzu. La Zaffetta, Aretino und Venier – die gab es alle tatsächlich. Sie prägten Venedig Mitte des 16. Jahrhunderts. Und Angela aka La Zaffetta wurde sogar von Tizian verewigt. Beim Lesen kommt niemals die Frage auf, ob denn nun wirklich alles sich genauso zugetragen hat. Das ist auch nicht wichtig. Die Sprachwucht, die keinerlei Zweifel aufkommen lässt, zieht den Leser lautstark in die Kanäle der Stadt, in die Paläste, deren Mauern niemals schweigen werden und in die feine Gesellschaft der Renaissance. Und hier stinkt es mancherorts gewaltig.

Die Schlacht um den Hügel

Es hätte auch anders kommen können! Florenz in Schutt und Asche gelegt werden können. Fiesole ebenso. Doch es kam anders. Florenz war offene Stadt, d.h. sie durfte weder angegriffen noch verteidigt werden. Dass das Kriegsrecht im Krieg nicht immer paragraphengerecht angewendet wird, ist die Kehrseite der Medaille. Unvorstellbar der Blick von den Hügeln in Fiesole auf die Renaissance-Perle Florenz wäre es anders gekommen.

Hanna Kiel war als Kunsthistorikerin, aber vor allem als Übersetzerin in Fiesole tätig. Ein zweischneidiges Schwert. Eines mit ganz scharfen Klingen! Ihre Chronik der Ereignisse zwischen Anfang August und September 1944 schrieb sie in einem literarischen Stil. Auch ohne exakte Zeitangaben gibt sie ein exaktes Bild von dem wider, was damals geschah.

Die Wehrmacht, die Partisanen und die Alliierten standen in ständigem Feuergefecht. Die Bevölkerung Fiesoles musste sich verkriechen, verstecken, in Deckung gehen, unter unmenschlichen Bedingungen das Pfeifen der Garanten ertragen. Inmitten dieser Situation kehrte tatsächlich so etwas wie Normalität ein. Eine Normalität, die man sich nicht wünscht, bis dato nicht vorstellen konnte und die man niemandem wünscht, aus heutiger Sicht. Auch wenn die Realität wieder einmal anders aussieht.

Die Distanz der Autorin und gleichzeitige Nähe, die ihre Worte verströmt, sind der Spannungsbogen, der dieses Buch am Leben erhält. Täter und Opfer haben Namen, ihre Herkunft ist nahbar. Ihr Tun unverständlich, dennoch nachvollziehbar. Nicht ganz so einfach ist die Einordnung wer denn nun Täter aus Überzeugung ist, wer Mitläufer und wer eindeutig ausschließlich in Verteidigungsstellung ist. Jeder muss sich mit der Situation abfinden. Doch nicht jeder tut es!

„Die Schlacht um den Hügel“ ist in Italien, das Laben, in dem Hanna Kiel lebte (und begraben ist) ein bekannteres Thema als in Deutschland, dem Land, aus dem Hanna Kiel kam. Sie war mit Klaus und Erika Mann befreundet, bot ihren Eltern Unterschlupf. Sie kämpfte ihren eigenen Kampf mit ihren eigenen Waffen.

Es sind nicht viele Seiten, die man braucht, um die schwierige Lage der Bewohner zu begreifen. Jedes Wort, jeder Satz, jede Seite sind ein Schlag ins Gesicht jeden Aggressors. Sei er nun damals in Fiesole dabei gewesen oder hat heute vor an anderer Stelle Unheil zu verbreiten. Die Schlussfolgerung, dass Kriege niemals eine für alle Seiten befriedigende Lösung bieten können, wird im Moment des Kampfes ausgeblendet. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Mit dem Abstand von achtzig Jahren ist dieses Buch ein nicht zu unterschätzender Beitrag im Kampf gegen den Wahnsinn.

La Storia

Es sind nur zwei Worte, „La storia“. Einfach nur eine Geschichte. Eine Geschichte wie sie zigfach im Rom der Vierzigerjahre vorgekommen ist. Nein, es ist nicht einfach nur eine Geschichte. Ida muss ihre beiden Sprösslinge irgendwie durchbringen. Nino, der Ältere, hängt mit seinen faschistischen Freunden rum. Das Schwarzhemd gibt ihm Halt, die Gemeinschaft stützt ihn. Useppe, der Jüngere, ist ein verträumter Schatz mit unbändiger Phantasie. Oft ist er allein, wenn seine Mutter unterwegs ist, um das Geld für die Familie zu erarbeiten. Um ihn herum sind Trümmer, Hoffnungslosigkeit, Krieg, Propaganda, aber auch bedingungslose Liebe. Was bleibt für Ida noch?

In den Armenvierteln der Ewigen Stadt ist die ehemalige Lehrerin auf sich allein gestellt. Die Preise explodieren, ihr bleibt nur ein Mittel: Stehlen. Flinke Hände und Improvisationstalent, auch wenn man dabei mal Stacheldraht anheben muss nur um ein Ei zu erhaschen.

Oft und gerne spricht man von harten Zeiten, wenn Krieg herrscht. Elsa Morante macht die Zeiten greifbar. So intensiv, dass man das Rascheln, dass das Umblättern verursacht fast zusammenzuckt. Immer tiefer liest man sich in eine Zeit, die man sich nicht zu erleben wünscht. Und das in einer Zeit, in der die Gefahren aus allen Ecken der Erdkugel wieder hervortreten.

Idas größte Sorge gilt ihrer Herkunft. Denn ihre Familie ist jüdisch. Sich wegducken ist unmöglich. Aber unter dem Radar der Faschisten bleiben, ist die einzige Möglichkeit ihre beiden Söhne zu vernünftigen Menschen zu erziehen. Was bei Nino weitaus schwieriger ist. Der Alltag von Ida und ihren Söhnen ist fast schon als normal zu bezeichnen. Sie geht einkaufen, stehlen, versucht Arbeit zu bekommen, den Lohn sinnvoll einzusetzen, die Rationen effizient zu verteilen. Was in ihrem Fall bedeutet: Erst die Kinder, den Rest teilt sie sich bestmöglich ein.

So wurde Rom noch nie beschrieben. „La Storia“ ist ein Klassiker der italienischen Kultur. Niemand kann sich dem Sog der Worte, Sätze, Seiten entziehen. Ja, über siebenhundert Seiten sind eine Aufgabe. Aber eine, die man mit inniger Hingabe meistert. So wie Ida die ihren erledigt, nicht weil sie muss, sondern weil sie es will. Das ist echte Menschlichkeit!

Das flüchtige Licht

Sie sind eine verschworene Gemeinschaft: Elio, Gianni, Aurelio und Spucino. Irgendwo, in einem Vorort Roms. Dort, wo die Hoffnung als trübes Licht am unerreichbaren Horizont nur ein verschwommenes Abbild seiner selbst verspricht. Die Vier kennen sich seitdem sie denken können. Als Enzo zu ihnen stößt, ist er nicht mehr als das fünfte Rad am Wagen. Er ist schmächtig. Passt überhaupt nicht zu ihnen. Was sie ihn auch spüren lassen. Doch der Kleine lässt sich nicht abschütteln. Denn irgendwie gehört er doch zu ihnen.

Enzo ist es schließlich, der der Tristesse der Kleinstadt entkommen kann. Er stromert herum und läuft unversehens … vor die Linse des Monsignore. Der sitzt fest verwurzelt in seinem Stuhl. Lässt sich darin herumtragen. Ein Fingerzweig von ihm, und alle spuren. Armbewegungen wie ein Sturm. Sein Wort hat Gewicht. Er ist Regisseur. Nun sollte man meinen, dass er einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil ihm so ein räudiger Straßenköter wie Enzo ins Bild läuft und alles noch einmal neu positioniert werden. Alles und alle noch einmal auf Position muss. Doch der Monsignore ist gnädig, fast schon unterwürfig. Enzo hat ihn verzaubert. Für einen Menschen wie den Monsignore sind Bilder wichtiger als alles andere auf der Welt.

Florian L. Arnold schreibt über die Macht der Bilder. Irgendwann trennen sich die Wege der Fünf. Es zieht sie fort von diesem tristen Ort, der als Synonym für Ausweglosigkeit steht. Nach und nach sehen sie sich. Das, was sie nun verbindet, ist Enzo. Er trat vor die Kamera, mehr als einmal und mehr als unerwartet, ungewollt. Denn der Monsignore sah in ihm etwas, was sonst niemand sah. Was selbst er noch ne gesehen hat. Doch das Licht, das einst auf ihn fiel, ist flüchtig…

Roma, Cinecitta, Lazio – Sehnsuchtsorte nicht nur für Erholungssüchtige. Hier entstehen Träume. Hier zerplatzen Träume. Für einen Augenblick sind sie real. Und im nächsten sind sie nicht mehr als Erinnerungen. Die Leichtigkeit mit der diese Träume entstehen und auch zerplatzen, ist das große Plus dieses Romans. Wie im Rausch liest man sich in eine Welt, die man so noch nie erlesen hat. Man kann nicht aufhören, muss immer weiter lesen. Dabei weiß man doch, dass die Lichter bald ausgehen werden, ja, ausgehen müssen. Und doch hofft man immer wieder, dass sich alles zum Guten wendet. Vielleicht tut es das ja auch, ohne, dass man es spürt…