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La Storia

Es sind nur zwei Worte, „La storia“. Einfach nur eine Geschichte. Eine Geschichte wie sie zigfach im Rom der Vierzigerjahre vorgekommen ist. Nein, es ist nicht einfach nur eine Geschichte. Ida muss ihre beiden Sprösslinge irgendwie durchbringen. Nino, der Ältere, hängt mit seinen faschistischen Freunden rum. Das Schwarzhemd gibt ihm Halt, die Gemeinschaft stützt ihn. Useppe, der Jüngere, ist ein verträumter Schatz mit unbändiger Phantasie. Oft ist er allein, wenn seine Mutter unterwegs ist, um das Geld für die Familie zu erarbeiten. Um ihn herum sind Trümmer, Hoffnungslosigkeit, Krieg, Propaganda, aber auch bedingungslose Liebe. Was bleibt für Ida noch?

In den Armenvierteln der Ewigen Stadt ist die ehemalige Lehrerin auf sich allein gestellt. Die Preise explodieren, ihr bleibt nur ein Mittel: Stehlen. Flinke Hände und Improvisationstalent, auch wenn man dabei mal Stacheldraht anheben muss nur um ein Ei zu erhaschen.

Oft und gerne spricht man von harten Zeiten, wenn Krieg herrscht. Elsa Morante macht die Zeiten greifbar. So intensiv, dass man das Rascheln, dass das Umblättern verursacht fast zusammenzuckt. Immer tiefer liest man sich in eine Zeit, die man sich nicht zu erleben wünscht. Und das in einer Zeit, in der die Gefahren aus allen Ecken der Erdkugel wieder hervortreten.

Idas größte Sorge gilt ihrer Herkunft. Denn ihre Familie ist jüdisch. Sich wegducken ist unmöglich. Aber unter dem Radar der Faschisten bleiben, ist die einzige Möglichkeit ihre beiden Söhne zu vernünftigen Menschen zu erziehen. Was bei Nino weitaus schwieriger ist. Der Alltag von Ida und ihren Söhnen ist fast schon als normal zu bezeichnen. Sie geht einkaufen, stehlen, versucht Arbeit zu bekommen, den Lohn sinnvoll einzusetzen, die Rationen effizient zu verteilen. Was in ihrem Fall bedeutet: Erst die Kinder, den Rest teilt sie sich bestmöglich ein.

So wurde Rom noch nie beschrieben. „La Storia“ ist ein Klassiker der italienischen Kultur. Niemand kann sich dem Sog der Worte, Sätze, Seiten entziehen. Ja, über siebenhundert Seiten sind eine Aufgabe. Aber eine, die man mit inniger Hingabe meistert. So wie Ida die ihren erledigt, nicht weil sie muss, sondern weil sie es will. Das ist echte Menschlichkeit!

Das flüchtige Licht

Sie sind eine verschworene Gemeinschaft: Elio, Gianni, Aurelio und Spucino. Irgendwo, in einem Vorort Roms. Dort, wo die Hoffnung als trübes Licht am unerreichbaren Horizont nur ein verschwommenes Abbild seiner selbst verspricht. Die Vier kennen sich seitdem sie denken können. Als Enzo zu ihnen stößt, ist er nicht mehr als das fünfte Rad am Wagen. Er ist schmächtig. Passt überhaupt nicht zu ihnen. Was sie ihn auch spüren lassen. Doch der Kleine lässt sich nicht abschütteln. Denn irgendwie gehört er doch zu ihnen.

Enzo ist es schließlich, der der Tristesse der Kleinstadt entkommen kann. Er stromert herum und läuft unversehens … vor die Linse des Monsignore. Der sitzt fest verwurzelt in seinem Stuhl. Lässt sich darin herumtragen. Ein Fingerzweig von ihm, und alle spuren. Armbewegungen wie ein Sturm. Sein Wort hat Gewicht. Er ist Regisseur. Nun sollte man meinen, dass er einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil ihm so ein räudiger Straßenköter wie Enzo ins Bild läuft und alles noch einmal neu positioniert werden. Alles und alle noch einmal auf Position muss. Doch der Monsignore ist gnädig, fast schon unterwürfig. Enzo hat ihn verzaubert. Für einen Menschen wie den Monsignore sind Bilder wichtiger als alles andere auf der Welt.

Florian L. Arnold schreibt über die Macht der Bilder. Irgendwann trennen sich die Wege der Fünf. Es zieht sie fort von diesem tristen Ort, der als Synonym für Ausweglosigkeit steht. Nach und nach sehen sie sich. Das, was sie nun verbindet, ist Enzo. Er trat vor die Kamera, mehr als einmal und mehr als unerwartet, ungewollt. Denn der Monsignore sah in ihm etwas, was sonst niemand sah. Was selbst er noch ne gesehen hat. Doch das Licht, das einst auf ihn fiel, ist flüchtig…

Roma, Cinecitta, Lazio – Sehnsuchtsorte nicht nur für Erholungssüchtige. Hier entstehen Träume. Hier zerplatzen Träume. Für einen Augenblick sind sie real. Und im nächsten sind sie nicht mehr als Erinnerungen. Die Leichtigkeit mit der diese Träume entstehen und auch zerplatzen, ist das große Plus dieses Romans. Wie im Rausch liest man sich in eine Welt, die man so noch nie erlesen hat. Man kann nicht aufhören, muss immer weiter lesen. Dabei weiß man doch, dass die Lichter bald ausgehen werden, ja, ausgehen müssen. Und doch hofft man immer wieder, dass sich alles zum Guten wendet. Vielleicht tut es das ja auch, ohne, dass man es spürt…

Für uns gibt es keinen Namen

Als Pechvogel kann man Ada nicht bezeichnen, aber eben auch nicht als Glückspilz. Mit Mitte Zwanzig steht sie am Anfang ihrer Karriere. In Mailand hat sie einen begehrten Job in einer Werbeagentur bekommen. Ihr gegenüber sitzt Alessio. Schüchtern, in sich gekehrt beginnt sie ihr neues Leben. Es wird aufregend. So sehr, dass sie vieles um sich herum vergessen könnte.

Mit 17 wurde Ada schwanger. Ihre Tochter Claudia wächst derweil bei ihren Eltern am Lago Maggiore auf. Eine echte Bindung zu der Kleinen kann sie kaum aufbauen. Am Meer, wo sie ein paar Tage gemeinsam verbringen, macht ihr ihr eigenes Dilemma sichtbar. Die Kleine zuckt bei jeder zärtlichen Geste zusammen. Die Distanz zwischen Mutter und Tochter ist sichtbar. Als Schutzschild vor Verletzungen behauptet Ada schon mal, dass Claudia ihre Schwester ist.

Mit Alessio läuft es gut. In jeder Hinsicht. Dass er schwul ist, scheint niemanden groß zu interessieren. Schon gar nicht die beiden selbst. Es entsteht ein Konstrukt, das man einfach nicht in Worte fassen kann.

Gaia Manzini zaubert aus dieser nicht greifbaren Situation mehr als ein Kaninchen aus ihrem Hut. Ada ist Hin und Her gerissen. Auch wegen Francesca. Sie könnte das Zünglein an der Waage sein. Für Ada, für Claudia, für ihre Familie und letztendlich auch für Alessio.

Normalerweise entwickelt man beim Lesen immer eine Vorstellung wie sich die Geschichte entwickeln könnte. Und dann ist man entweder überrascht, wenn’s anders kommt oder nickt freudig strahlend, wenn man dem Gedankengang des Autors folgen konnte. Hier liegt der Fall anders. Es ist unmöglich vorherzusagen, welche Wendungen auf alle Beteiligten warten werden. Wer dennoch richtig vermutet, hat geraten.

Die sanfte Wortwahl und die unaufgeregte Schreibweise verleihen „Für uns gibt es keinen Namen“ eine unstillbare Sehnsucht nach der nächsten Seite. Der Fortgang der Geschichte ist nur ansatzweise spürbar. Die Gänsehaut reicht trotzdem bis unter die Haut. Muss man öfter lesen.

Rom erleben

Für eine Stadt wie Rom braucht man einen kundigen Guide. Die Überzahl an Attraktionen erschlägt jeden, der nicht vorbereitet ist. Und die Enttäuschung danach etwas übersehen zu haben oder einfach mal den Weg – wegen Nichtwissens – nach rechts oder Links nicht eingeschlagen zu haben, überwiegt dann vielleicht doch das Erlebte.

„Rom erleben“ ist für ein jüngeres Publikum gedacht. Die Interessen der „Zielgruppe“ sind eben anders gelagert. Nichts desto trotz gibt es Orte in Rom, die man einfach gesehen haben muss. Und wenn man dann von einer Warteschlange überrascht (also von deren Dimension) oder wegen nicht vorhandener Vorreservierung abgewiesen wird, kann der Tag schon mal so richtig verdorben werden. Hier kommt dieser Reiseband ins Spiel.

Allein schon die Handhabung ist durchdacht. Einmal im Uhrzeigersinn gedreht, macht sich die Ringbindung schon bezahlt. Wie ein überdimensionales Notebook erschließt sich dem Leser/Besucher Roms eine neue Welt. Skizzen, Karten, Wegstrecken sind anschaulich dargestellt, dass digitale Hilfsmittel überflüssig werden. Die Erläuterungen beispielsweise zum Pantheon oder zum Forum romanum sind zeitlos. Wer sich vom empfohlenen Alter des Reisebuches ob des ausgewiesenen Alters nicht abschrecken lässt, wird hier auch als „Altersgruppenüberschreiter“ einen kundigen Ratgeber finden. Zahlreiche Abbildungen sowie unzählige Ausflugstipps, denn auch außerhalb der alten Stadtgrenzen gibt es mehr als nur ein must see. Erwähnenswert sind auch die Tipps zu Orten, die man zwar besuchen kann, die man aber nicht vermisst, wenn man sie nicht besucht. Das kann bei der begrenzten Zeit in Rom viel wert sein.

Kurz und knapp, umfassend, sehr gut handhabbar. Das sind die Hashtags, die dieses Reisebuch treffend beschreiben. Egal, ob man sich erholen oder den Körper an die Grenzen führen will, hier wird alles geboten. Bis hin zur typisch römischen Küche. Selbst wer Rom schon kennt, wird hier Orte entdecken, die er so noch nie gesehen hat. Andiamo a roma! Enttäuschungen wird es garantiert nicht geben!

Lichter auf der Piazza Maggiore

Das Jahr 1977 war in vielen Ländern Europas ein entscheidendes Jahr. Deutschland erlebte eine neue Welle der Gewalt, die im Deutschen Herbst ihren gewaltvollen Höhepunkt erreichte. In Italien geschah ähnliches, movimento 77. In dieser Zeit spielt Enrico Palandris Roman „Lichter auf der Piazza Maggiore“, der zwei Jahre später erschien. In Italien ein Kultbuch über die Proteste der italienischen Jugend, wie es im Klappentext heißt.

Doch alles beginnt mit zwei Augenpaaren, die sich irgendwann treffen. Das eine Paar gehört Anna, das Zweite Enrico. Seine Augen suchen und finden sie. Wie selbstverständlich finden auch ihre Augen die seinen. Liebe auf den ersten Blick. So kitschig das auch klingen mag – hier trifft es zu hundert Prozent zu. Wie ein Blitzschlag trifft es die beiden.

Enrico engagiert sich in den Protesten gegen die Pläne der Regierung das Leben der Menschen zu regulieren. Diese Proteste schwingen sich bald schon zu blutigen Straßenschlachten hinauf. So wie die Liebe zwischen Anna und Enrico. Es wird ihr Sommer der Liebe. Zehn Jahre nach Woodstock. Und doch so gar nicht versüßlicht wie im Summer of love.

Denn je weiter der Sommer in Bologna voranschreitet, desto heftiger werden die Proteste. Auch innerhalb der Studentenbewegung brodelt es. Gewaltexzesse oder friedliche Kommunikation? Die Bewegung ist gespalten. Parallel dazu lässt die Anziehungskraft zwischen Anna und Enrico ebenfalls nach. Beide sind nicht in der Lage ein echtes Wirgefühl zu entwickeln. Was so technisch, so statisch, so gefühllos klingt, ist für beide die bitterste Erkenntnis ihres jungen Lebens.

Enrico entschließt sich Anna einen Brief zu schreiben. In ihn packt er alles wozu er in der Lage ist es zu Papier zu bringen. Doch dieser Brief wird nie den Weg in den Briefkasten und somit zu Anna zu finden. Er ist entschlossen ihr den Brief vorzulesen. Am Telefon – Anna kennt das schon. Auch sie hat einmal einen ähnlichen Brief geschrieben. Auch sie las ihn dann am Telefon vor. Zwei Seelen, die niemals zu einem großen Ganzen verschmelzen können. Falsche Zeit? Falscher Ort? Nein. Einfach nur die falsche Einstellung.

„Lichter auf der Piazza Maggiore“ geht unter die Haut. Der Anfang ist wie eine Anleitung zum Glücklichsein. Zwei Menschen, die auf wunderbare Weise zusammenfinden, ihre Glück für sich allein beanspruchen, sich um die Meinung anderer nicht scheren. Nach und nach erkennen sie, dass auch das Wir nur ein Teil von etwas Größerem ist. Wer sich intensiv den Brief Enricos an Anna durchliest, sieht darin das Dilemma einer ganzen Generation. Mut im Nachhinein zu beweisen ist einfach. Ihn vorher aufzubringen, erfordert mehr als Worten und flüchtige Taten.

Oh! Wandern am Gardasee

Es ist ein wenig frevelhaft, wenn man den Gardasee nur mit Massen, die sich durch die engen Gassen schleppen in Verbindung bringt. Hier im Norden Italiens, wo Berge und Meer eine perfekte Symbiose eingegangen sind, gibt allen Unkenrufen zum Trotz, noch einen oder anderen Ort, an dem man tatsächlich Ruhe genießen kann. Ganz ohne Verkehrslärm, ohne die üblichen Sitzplatzblockierer in Fußballshirts und ohne hektisches Getrappel auf steinigen Pfaden. Man muss allerdings die Füße in die Hand nehmen und so manchen Aufstieg meistern. Als Belohnung winken atemberaubende Aussichten, leckere Mahlzeiten und ewige Erinnerungen.

„Immer diese Aussicht“ ist beispielsweise eine Wanderung überschrieben. So viel Zeit für die lachende Wahrheit muss sein. Und tatsächlich kommt man vor lauter Aussicht auf der Wanderung von Sasso zur Cima Comer kaum vorwärts. Also früh aufstehen und viel Zeit einplanen. Und unterwegs die richtige Abzweigung nehmen. Welche? Autor Peter Righi weiß es ganz genau! Als Belohnung warten ein palazzo con parco und immer wieder Aussicht, Aussicht, Aussicht. 180 Grad, mindestens.

Da fühlt man sich manchmal wie ein Blatt im Wind. Ein Papierblatt. Zumindest, wenn man von Toscolano Maderno nach Gaino wandert. Und zwar durch das Tal der Papiermacher. Exquisite Mitbringsel mit wenig Gewicht inkl.

Oder mal so richtig Geschichte tanken. Dem, der jahrelang Europa auf der Nase herumtanzte selbst mal auf selbiger herumtanzen. Um wen es geht? Na, um Napoleon. Ein ganz besonderer Ort, mit ganz besonderer Geographie. Und Geschichte.

Das „Oh!“ im Titel ist nicht einfach so herausgepurzelt. Es ist eine Buchreihe, die diesen Titel wahrhaft verdient. Natürlich ist der Gardasee eine Top-Destination, unbestritten. Und es gibt unzählige Bücher mit allerlei Geheimtipps. Aber wer per pedes dieses Paradies erkunden will, braucht Erstens keine Gängeli, Zweitens wirklich hilfreiche Tippe, Drittens Kartenmaterial, das aussagekräftig die Route vorgibt, Viertens Standorte zum Innehalten und Fünftens garantiert nicht pfundweise Papier, um von A nach B zu kommen. Oder kurz gesagt „Oh! Wandern am Gardasee“ ist die perfekte Quinte für den neugierigen Wanderer.

Noto

Noto sollte das Glück endgültig perfekt machen. Tat es auch. Doch die barocke Prachtstadt ist nicht dafür bekannt Endgültiges zu schaffen. Sie selbst fiel Ende des 17. Jahrhunderts einem verheerenden Erdbeben zum Opfer. Dank prall gefüllter Taschen wurde auf und in den Trümmern eine Stadt errichtet, deren barocke Pracht weltweit beispiellos ist. Die honigfarbene Stein und der kitschig-blaue Himmel sind die Basis für diese Sehnsucht.

So muss es auch Konrad und Adriano gegangen sein als sie schon nach kurzer Zeit beschlossen sich hier ein Häuschen zu kaufen. So unterschiedlich die beiden waren, so untrennbar waren sie als Paar. Waren. Denn Adriano ist tot. Seit einem Monat. Und Konrad reist nach Noto, um sich ihrer zu erinnern. Und nach dem Rechten zu sehen. Doch eigentlich wird es eine Reise, die unvergesslich wird. Eine Reise, die so manches auf den Kopf stellt. Eine Reise ins Ungewisse. Doch das weiß Konrad noch nicht.

Adriano der Lebemann und Konrad der Besonnene. Wenn Gegensätze sich wirklich anziehen, dann in diesem Fall. In Noto waren sie ein Paar. Es gab kein Ihn und Ihn, es gab nur Sie. Doch das ist alles Vergangenheit.

Konrad wird von einer Freundin begleitet, die in ihrer Unverblümtheit unweigerlich zur einzig wahren Medizin für ihn wird. Jack, der gemeinsame Hund von Adriano und Konrad, ist der Wirbelwind, der die melancholischen Lüfte der Erinnerung ein ums andere Mal durcheinanderwirbelt. Und Santi ist ein echtes Unikum. Einmal beschützt er Konrad, ein anderes Mal stürzt er ihn fast in den Abgrund. Eine echte Wundertüte, die aber genau das ist, was Konrad von Zeit zu Zeit aus seiner Trauer holt. Und je länger Konrad in Noto die Luft des Südens einatmet, die Erinnerungen an ihm vorüber paradieren, umso schmerzhafter wird ihm klar … das Paradies existiert nur in der Erinnerung.

Adriano Sack versteht es meisterhaft die Trauer mit Leichtigkeit zu umgarnen und die ihr anhängende Schwere zu nehmen. In Rückblenden läuft ein verschwommener Film in Endlosschleife, der Konrad immer wieder in ein Loch zieht, aus dem er sich kaum allein zu befreien vermag. Und das alles vor der umwerfenden Kulisse Notos. Wer noch nie hier war, lernt die einladenden Fassaden ebenso kennen wie die versteckten Aussichtspunkte der Stadt. Wenn es so sieht, hält man hier einen exzellent geschriebenen Roman und einen Reiseband in Einem in der Hand.

Groll

Vittorio Leonardi starb eines natürlichen Todes, sagt der Arzt, der ihn untersuchte und den Tod feststellte. Und darüber hinaus sein Freund seit Schultagen war. Auch gibt es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.

Jahre später sitzt seine Tochter Marina der Anwältin Penelope Spada gegenüber und spricht von ihrem Unwohlsein wegen des Todes ihres Vaters. Jahre später!

Ist schon seltsam. Da unterhalten sich zwei Frauen über den Todes des Vaters der Einen. Die Andere hört gewissenhaft zu und mittendrin fällt ihr urplötzlich der Name der Einen auf. L-E-O-N-A-R-D-I. Das war mal was! Fünf Jahre zuvor war Penelope Spada noch bei der Staatsanwaltschaft. Unter der Flut von Anzeigen stach ihr damals eine besonders hervor. Es ging um die Loge P2 und ihr illegales Schneeballsystem. Das wurde zerschlagen und ein entsprechendes Gesetz zur Vermeidung solcher Untriebe erlassen. Die Loge hatte (und hat?) weitreichende Verbindungen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Ermittlungen führten Spada auch zu dem Namen Leonardi. Vittorio Leonardi. Anerkannter Chirurg und ehemals Abgeordneter. In Spadas Kopf klingeln alle Alarmglocken.

Eigentlich müsste sie den fall ablehnen. Es gibt einfach keine Hinweise auf ein Verbrechen. Aber dieser Familienname – es ist ihre Nemesis.

Vittorio Leonardi starb also an einem Herzinfarkt. Fakt. Kurz zuvor wollte er sein Testament ändern lassen, dass auch seine Ex-Frau, Marinas Mutter, berücksichtigen sollte. Marina selbst hat – auf dem Papier – ihren Pflichtteil bekommen. Doch sie vermutet, nein, sie weiß!, dass ihr eigentlich mehr zusteht. Und die Witwe des Doktors, ist nur schwer aufzufinden. Penelope Spada steht vor einem kniffligen Fall, wenn es denn überhaupt einen Fall gibt.

Gianrico Carofiglio führt die aufgewühlte Situation – Penelope Spada hat wirklich allen Grund aufgewühlt zu sein – mit weisen Worten und bedachtem Tun in ruhige Gewässer. Jede Ermittlung, jedes Gespräch, jeder Hinweis sind winzige Teile eines unüberschaubaren Puzzles, das Penelope Spada zusammensetzen muss. Gern würde sie zuerst die Ecken legen, dann den Rahmen zusammenfügen und sich dann Stück für Stück dem Mittelteil widmen. Doch binnen Bruchteilen von Sekunden befindet sie sich in einem Labyrinth aus Schweigen und Intrigen. Und wenn sie sich nicht allzu ungeschickt anstellt … wer weiß … vielleicht verschwinden dann auch die kreischenden Geister der Vergangenheit?!

Marcitero

Wer bisher Sizilien als Land seiner träume erachtete, der war noch nie in Marcitero. Marcio – verdorben, faulend – schwingt im Namen mit. Und eigentlich heißt das Dorf mit den nicht einmal einhundert Einwohner anders. Alle von außerhalb nennen es so. Und die Einwohner von Marcitero haben es aus Trotz einfach übernommen.

Auch trägt hier niemand seinen eingetragenen Namen. Alle rufen sich nur bei Spitznamen. Und die sind weiß Gott nicht freundlich gemeint. Fast die Hälfte der Einwohner trägt die Spuren der Raufereien wie eine Monstranz vor sich her. Die Obrigkeit traut sich nicht ins Dorf. Und Nordkoreas Diktator würde man hier mit allen Ehren begrüßen. Frauen sind … na ja, was soll man sagen … Objekte. Mehr nicht. Und wer abzuhauen versucht, der bekommt den starken Arm der Starrköpfe zu spüren. Wer aus der Stadt kommt, ist ein Intellektueller. Und solche Leute mag man hier nicht. Straßen fegen? Bene, aber danach wird sie sofort wieder so richtig eingesaut. Der Nachbar hat einen neuen Zaun – rumms, eingetreten. In Marcitero hält der gute Ton ein ausgiebiges Mittagsschläfchen.

Ausgerechnet hierhin hat es den Erzähler verschlagen. Er bleibt trotzdem. Alles an diesem Ort ist abstoßend. Selbst der Wein. Der schmeckt wie Essig. So mag man hier seinen vino! Nino Vetri setzt diesem fiktiven Ort ein Denkmal für die Ewigkeit. Die Landschaft ist karg, aber ansehnlich. Wenn die Bewohner von Marcitero das ändern könnten, sie täten es. Garantiert! Warum also bleibt man an einem Ort, der so gar nichts Freundliches an sich und schon gar nicht in sich hat? Selbst der Erzähler weiß es nicht.

Immer tiefer taucht er in diese seltsame Gesellschaft ein. Sitzt mit den Einheimischen am Tisch, trinkt den ungenießbaren Wein – würde er Bier trinken, würde man ihm das Gesicht derart verzerren, dass man meint er stamme von hier. Er nimmt an einer Beerdigung teil, wo es auch nicht gerade respektvoll zugeht.

„Marcitero“ als Sinnbild für die sizilianische Kultur zu nehmen, wäre zu viel des Guten. Das überlässt man lieber Michele Corleone in „Der Pate III“. Doch so weit ist man hier gar nicht von der Wahrheit entfernt. Man liebt und hasst seine Heimat gleichermaßen. Den Nachbarn muss man hassen. Das war schon immer so. Das Dorf dezimiert sich selbst. Das ist gut so in den Augen der Einwohner von Marcitero. Andererseits – mit wem soll man sich dann am Abend besaufen und die Fäuste fliegen lassen? Ach, es ist ein Jammer, dass Marcitero fiktiv ist. Oder doch nicht?

Sonette

Ein Sonett ist ein Gedicht mit vierzehn Zeilen und einem besonderen Versmaß. So weit die Theorie. So weit so gut. Aber warum ist dann jedermann danach verrückt? Ein Sonett geschenkt zu bekommen, ist … nein, nicht einfach nur „so nett“ … ein ganz besonderes Geschenk. Vierzehn Zeilen, in Reimform, da muss man sich beim Schreiben konzentrieren können.

Vittorio Alfieri gilt bis heute, nicht nur in Italien, als Meister des Sonetts. Wild, unbändig, gefühlvoll, empathisch, beseelend – die Liste der Attribute seiner Sonette ist endlos. Und jedes davon trifft auf mindestens eines seiner Sonette zu. Alfieri lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Wortwahl ist also nicht beliebig, umso mehr Bedeutung kommt da einer wohlklingenden Übersetzung zu. Christoph Ferber und Georges Güntert haben für diese elegante Ausgabe die ganze Pracht der italienischen und deutschen Sprache ausgenutzt.

Die zweisprachige Ausgabe glänzt zum einen wegen der üppigen Wucht des Originals und der unverwechselbaren Übersetzung der mitreißenden Vierzehnzeiler. Man möchte sie laut vor sich hertragen, diese Zeilen. Warum nicht! Und warum nicht gleich zweisprachig?! Nur Mut! Was soll schon passieren?! Dass man jemanden trifft, den die Worte treffen? Das kann doch nichts Schlechtes sein!

Sturm und Drang, damit wurde man zu Schulzeiten im Deutschunterricht gequält. Statt immer nur Definitionen auswendig lernen zu müssen, um in der Prüfung den Pflichtteil exzellent zu bestehen, liest man heute Alfieris Texte. Das Format des Büchleins erlaubt einen steten Begleiter, der allzeit bereit einen mehr als nur „lockeren Spruch zur Verfügung stellt“. Und wenn man dann noch – dank der abschließenden Anmerkungen am Ende des Buches – ein paar biographische Daten zum Verfasser mitteilen kann, ist der Tag quasi schon gerettet.