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Geheimsache Italien

Würde dieses Buch von einem Journalisten, einem Fanatiker, einer Rampensau, die nur das Scheinwerferlicht sucht, geschrieben worden sein, dann wäre dieses Buch nicht mehr als ein Aufschrei ohne Substanz, das alsbald auf dem Wühltisch der Buchhändler landen würde. Doch hier schreibt einer, der es wissen muss. Giuliano Turone war Richter am Kassationsgerichtshof, Professor für Investigationstechniken und nahm an den Prozessen am Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag gegen die Kriegsverbrecher im Jugoslawienkrieg teil. Und – damit ist es endgültig bewiesen, dass er kein blindwütiger Agitator ist – er leitete die Untersuchungen gegen die Loge P2 und war Mitglied der Antimafiakommission.

Auch ohne viele Vorkenntnisse – wer dieses Buch bewusst auswählt, ist automatisch mit einer Portion Grundwissen ausgestattet – kommt man (kopfschüttelnd) schnell auf seine Kosten, wenn man sich für politische Intrigen und deren Strippenzieher interessiert. Detail- und lehrreich führt Giuliano Turone den Leser in eine Zeit, in der Italien (wieder einmal) vor einer Umwälzung stand. Schon lange waren in dem Land Mächte am Werk, die lange Zeit unbehelligt ihrem Tagwerk nachgehen konnten, weil die eigentlichen Machthaber weit weg waren. Weit weg in jedwedem Sinne. Stichwort Mafia. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Angst vor den Kommunisten größer als die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Lieber mit der Mafia paktieren als Moskau einen fruchtbaren Boden zu bereiten, war die Devise.

Im Laufe der Jahre waren derart viele Mächte am Werk, dass es einer weiteren Macht bedurfte, die diese Kräfte bündelte. P2, Propaganda Due, war diese Macht, die in der Lage war Italien – in ihrem Sinne – in die richtigen Bahnen zu führen. Ursprünglich eine Freimaurerloge, also humanistisch, aufklärerisch geprägt. Zu ihr gehörten Mafiosi, Politiker (bis hin zu Ministerpräsidenten), Polizisten, Intellektuelle, Kleinkriminelle, Kirchenleute – kurzum: Der so genannte repräsentative Querschnitt der Bevölkerung. Sie vertuschten Verbindungen, ließen Akten vernichten, planten Attentate und Entführungen, ballten eine unvorstellbare Macht in ihren Reihen. Sie waren auf einer Stufe der Machtgier angelangt, in der Geld keine Rolle mehr spielt. Und das obwohl ihre Sparschweine wegen Fettleibigkeit ihren Aktionsradius erheblich einschränken mussten.

Schlagworte, die dieses Buch als Eckpfeiler benutzt sind die Entführung von Aldo Moro und das Bombenattentat am Bahnhof von Bologna zu nennen, weil sie medial die größte Aufmerksamkeit auch in Deutschland erhielten. Mit Akribie wühlt sich der ehemalige Richter Giuliano Turone durch einen schier unendlichen Berg von Akten und Beweisen, ordnet sie – was allein schon unmenschlich erscheint ob der gigantischen Menge – und serviert dem Leser ein Menü, das einem die Kehle zuschnürt. Bloße Verschwörungstheorien? Mitnichten, auch wenn immer noch versucht wird alle Argumente mit einem Handstreich hinwegzuwischen. Nicht umsonst hatte Silvio Berlusconi P2 als eine Art Gentleman-Club bezeichnet…

Bei der Lektüre von „Geheimsache Italien“ liegen kopfnickendes „Si“ und erschreckendes „Oh no“ so eng beieinander, dass einem manchmal schwindelig werden kann.

Di Bernardo

Wenn man ein paar Fakten weglässt, ist der Fall sonnenklar: Der Komponist Alessandro Ferro richtet die Waffe auf die junge Livia. Tot. Und das vor der Basilica di San Giovanni in Laterno, Rom. Die entscheidenden Fakten sind jedoch, dass auch er tot vor der Basilica liegt und die Waffe irgendwie platziert scheint. Commissario Dionisio Di Bernardo kommt die Szenerie irgendwie verdächtig vor. Auch die Zeugen. Gabriella Guselli, die Organistin hatte zuvor ein Stück von Bach gespielt, „Erbarme Dich!“ – wie passend. Sie spielte an dem nicht gerade leisen Instrument. War jedoch ziemlich am Tatort, und sie erfasste die Situation ebenso schnell. Da war nichts mehr zu machen. Die Frau war tot. So ihre Einschätzung.

Des Weiteren befragt Di Bernardo Pietro Bonolis. Bei ihm hatte sich Livia vor Kurzem um eine Lehre zur Bogenbauerin (Geige, Cello etc.) beworben. So wie Jahre zuvor ihr Vater. Der allerdings zurück nach Rumänien musste, um sich ums Geschäft wiederum seines Vaters zu kümmern. Livia war geschickt und wissbegierig, gibt Bonolis an. Doch das ständige mit dem Tuch über die schwitzige Stirn Wischen, macht Di Bernardo und seinen Kollegen Del Pino nachdenklich.

Ein mäßig erfolgreicher Komponist, eine junge Frau – schwanger, zweiundzwanzigste Woche – aus Rumänien, beide ermordet, gar nicht weit entfernt von einer Bogenbauerwerkstatt, vor einer Kirche … und rund herum nur unbefriedigende Antworten auf so viele Fragen. Hier liegt was im Argen – das weiß Di Bernardo ganz genau.

Wie in einer Sinfonie sind die einzelnen Noten für sich stehend nur Gekrakel. Erst im Zusammenspiel ergeben sie eine Melodie, die zum Schwelgen anregt und den Hörer in ihren Bann zieht. Und Di Bernardo ist der Dirigent. Er verleiht dem Stück die richtige Würze, bestimmt Tempo und bringt seine eigenen Ideen klangvoll zum Ausdruck. Da können noch so viele Misstöne auftauchen, Di Bernardo wischt sie hinweg. Und am Ende gibt es stehende Ovationen…

Natasha Korsakova schickt Commissario Dionisio Di Bernardo ordentlich auf den Holzweg. Und das nicht nur sinnbildlich, sondern wortwörtlich. Denn die Morde haben mit einer kriminellen Bande zu tun, die erfahrenen Krimilesern nur selten begegnet… Als Zwischenspiel wird jedes Kapitel mit einem kleinen Musikstück – als QR-Code jederzeit abrufbar – untermalt. Wer die Kurzbiographie im Buchumschlag liest, wird schnell erraten, dass es sich bei den Musikstücken um die Autorin selbst handelt, die „so ganz nebenbei“ auch Violinistin ist.

Ich töte wen ich will

Wenn man einen ungewöhnlichen Beruf hat, erlebt man auch Ungewöhnliches. Vince Corso ist Bibliotherapeut. Das heißt, dass zu ihm Leute mit einem Problem kommen, und er versucht ihnen einen Literaturtipp zu geben, der ihre Lage sichtbar macht, sie hilft zu begreifen und im Ernstfall zu verändern. Das ist wirklich außergewöhnlich. Mindestens genauso wie die Tatsache, das er in der Via Merulana in Rom wohnt. Nicht in Nummer 219 – die hat Carlo Emilio Gadda schon für sich in Beschlag genommen, literarisch. Aber ein paar Häuser weiter wird den Bewohnern ebenso grässliches beschert.

Vinces Wohnung wird verwüstet. Alles liegt kreuz und quer herum. Die Plattensammlung ein Scherbenhaufen. Und Django, sein Hund wurde vergiftet. Das trifft Vince mitten ins Herz. So ratlos wie er im ersten Moment schient, ist Vince Corso aber nicht. Natürlich erstattet er Anzeige bei der Polizei. Doch die Aufnahme der Anzeige gestaltet sich nicht so wie er es sich erhofft hatte.

Mit einem Mal gerät er ins Visier der Ermittler. Jemand mit so einem Beruf muss doch Feinde haben?! Oder Neider. Und wenn wir schon mal beim Aufzählen sind, wieso war er – natürlich immer zufällig – in der Nähe, wenn noch Grässlicheres passiert ist? Der Mord an der alten Dame, der „Unfall“ an der Piazza und und und. Corso schwant Böses. Er und die Mordserie, die das Viertel, ganz Rom in Atem hält? No, no, no, nicht Vince Corso!

Auf der Straße bemerkt er wie er beschattet wird. Ausgerechnet in dem Moment, in dem er beginnt selbst zu ermitteln. Denn der Zufall ist ihm zu offensichtlich, dass er, wenn er Zeuge einer Straftat wird, dass ausgerechnet dann ein Blinder immer in der Nähe ist. Er verfolgt den Blinden, die Polizei verfolgt Corso, der Blinde verfolgt ihn ebenso – wer fängt wen wann und wie endet diese Geschichte?

Fabio Stassi lässt Figuren der Literatur noch einmal auferstehen und in einem echten Spin-Off ihr Fähigkeiten ausspielen. Immer wieder treibt der den Leser in Romanhandlungen, die letztendlich nur ein Ziel haben: Vince Corso dem wahren Mörder auf die Spur zu kommen. Anleihen bei den Größen der schreibenden Zunft – von Camilleri bis zu Gadda – öffnen eine Bibliothek der Phantasten. Zitate und Nacherzählungen reichern dieses Buch so nachhaltig an, dass man nicht anders kann als stoisch bis zum Ende durchzuhalten.

Rot, sagte er

Bei einem Museumsbesuch kann es einem schon mal passieren, dass man sich in ein Bild hineinziehen lässt. Irgendeine Faszination geht vom Farbenspiel aus, die Komposition erregt einen, das Motiv fesselt den Betrachter, die Ausmaße, die Ausleuchtung haben etwas an sich, das einen nicht loslässt. Jetzt möchte man noch tiefer in dieses Bild eintauchen. Will wissen, woher es kommt, was den Maler dazu bewegte. Wie sind die Verbindungen zwischen Maler und Objekt? Wer sich diese Fragen schon einmal gestellt hat, findet in diesem Buch einen wahren Freund.

Volterra, die alte etruskische Stadt, die in ihrer Geschichte so manche herbe Niederlage einstecken musste, ist der geographische Mittelpunkt dieser Geschichte. Hier lebt Angel Mariani. Künstlerin und Katermutter. In der Zeitung liest sie vom tragischen Ende von Eremo. Kein besonders geselliger Einwohner der Stadt. Eigentlich gar kein Mensch, der die Gesellschaft anderer suchte. Aber immer freundlich. Ein guter Zuhörer. So richtig kannte ihn niemand. Woher er kam, was ihn hierher verschlug, was er machte – keiner kann eine rundum zufrieden stellende Antwort geben. Und doch wer er immer da. Einem Glas Wein war er nicht abgeneigt. Immer nur eines. Und immer vom Feinsten. Das erfährt Angel aber erst nach einer Erfahrung, die ihr noch lange im Kopf herumschwirren wird.

Sie hat also vom Tod Eremos gelesen. In der Zeitung waren dank der eines Filmteams (sie drehen eine Serie über die Medici, der Familie, die Volterra den Garaus machen wollte) exzellente Fotos zu sehen. Da liegt er in der Schlucht. Der Mann, den jeder erkannte, den aber niemand wirklich kannte. Angel geht dieses Bild nahe.

In der Pinakothek sucht sie Ablenkung. Rosso Fiorentinos Deposizione, die Kreuzabnahme lässt sie tief in die Szenerie einsteigen. Der Meister hat sich selbst darin verewigt. Ein Fingerzeig. Tragische Szenen. Die flammenden Farben. Angel ist tiefer bewegt als sie es sich anfangs eingestehen kann. Tränen kullern über ihre Wangen. Das ist neu für sie. Ja, sie ist Künstlerin. Sie ist besonders sensibilisiert für derartige Empfindungen. Aber so stark hat sie sich noch nie wahrgenommen. Kann es sein, dass Eremo in diesem Bild ihr erschienen ist? Gar nicht mal mystisch oder gar esoterisch, nein echt, wahr, real. Angel beginnt zu erst in ihrem Kopf zu kramen, um herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Nach und nach sieht sie einen Zusammenhang in dem Dreieck Volterra – Fiorentino – Eremo…

Klaudia Ruschkowski könnte den Leser durch ein Museum führen und ihm die Geschichte einiger Bilder erklären. Sie könnte auch aus dem Seelenleben einer Künstlerin erzählen. Oder die Geschichte eines rätselhaften Mannes. Oder eine kleine Kulturgeschichte der Toskana. Sie entscheidet sich für alles! Alles in einem Roman. Ganz sanft lässt sie ihrer Heldin Platz, um sich zu schütteln und der Situation Frau zu werden. Was dann geschieht, haut nicht nur sie, sondern die gesamte Leserschaft um. Ein Feuerwerk, das dem geforderten Rot des Künstlers in Nichts nachsteht!

Carapax

Eine Reise nach Rom soll es sein. Ganz allein. Ohne Pierre, ihren Gatten. Und ohne die Kinder. Auch ohne Nina, ihre Schwester. Maddalena fühlt es in jeder Faser ihres Körpers. Sie muss nach Rom. Was für viele Reisewütige ein „ganz normaler Vorgang“ ist, ist für Maddi eine Notwendigkeit ungeahnten Ausmaßes.

Schon immer war sie die Beherrschte, die große Schwester, die, die alles gesagt bekommt, die sich alles anhören muss. Jetzt ist sie einmal an der Reihe. Doch den genauen Grund ihrer Reise wird sie sich noch erarbeiten müssen. Sie weiß nur: Sie muss nach Rom.

Stets ist sie für alle da. Ihren Mann, einen Diplomaten. Das hübsche Anhängsel. Gute Miene zu jedwedem Spiel. Für die Kinder, klar, kein Zweifel. Und für Nina. Die sie pausenlos mit Nachrichten bombardiert, ungeachtet von Zeitverschiebung und Plänen der Schwester in Europa. Nina, das sprunghafte, nur ein paar Monate jüngere Pendant zur überlegten Maddi. Nina ist es auch, die ihre Beziehung zu Brian, ihrem Partner beenden will. Es ist wie ein Fanal für Maddalena. Sie erinnert sich zurück in ihre Kindheit. Als die Mutter sich mit einem Kuss verabschiedete und für immer weg war. Spontane Besuche inklusive. Damals als Papa die Wohnung in Rom kaufte, jemanden einstellen wollte, als Betreuerin für die Mädchen. Als Mama nicht da war. Schon damals war klar: Maddalena und Nina sind so verschieden, dass man es kaum fassen konnte, dass sie tatsächlich Schwestern sind. Maddis Erinnerungen haben scharfe Konturen. Ninas Leben hingegen ist verschwommen wahrnehmbar. Maddis zögert noch sich selbst anzuerkennen. Nina ist sich ihres Tuns bewusst. Und dennoch trägt die jeweils Andere die Konsequenzen der Entscheidungen der Schwester.

Der Name Ginzburg wiegt in Italien, in Europa schwer. Sie ist die Tochter des Historiker Carlo Ginzburg und Enkelin von Natalia Ginzburg, der intellektuellen Stimme der Frauen Italiens nach dem Krieg. Ein Erbe, das schwer wiegen kann. Mit scheinbarer Leichtigkeit erlaubt sie dem Leser Einblick zu nehmen in die Gefühlswelt einer Frau, die Pflichtbewusstsein als eben dieses begriff, darin jedoch nie einen Nachteil sah. Schritt für Schritt emanzipiert sie sich von dieser Rolle, ohne auch nur einmal die schmerzhaften Erinnerungen außer Acht zu lassen als ihre Mutter sie alle verließ. Zwei Schwestern, die sich erst jetzt richtig vereinen werden. Oder ist alles ganz anders?

Italiens Provinzen und ihre Küche

Schon beim Erblicken des Titels weiß man, das kann nur gutgehen. Und dieses Vorurteil wird auf den folgenden 160 Seiten ein ums andere Mal bestätigt. Denn Italien und Essen – das passt wie Roma e storia und  Napoli e vesuvio. Dolce vita zwischen zwei Buchrücken, mit Gaumenfreuden alla nonna. Davon kann man nie genug bekommen!

Das hat sich auch Alice Vollenweider gedacht. Und räumt mit dem Vorurteil auf, dass nur Pasta und Pizza auf dem Stiefel auf die Teller kommen.

So unterschiedlich die Regionen sind, so unterschiedlich sind auch die kulinarischen Gepflogenheiten. Im Laufe der Zeit hat sich sogar der vino zur Pizza in eine gepflegte Hopfenkaltschale verwandelt. Ja, mittlerweile hat der Bierkonsum den Weinverzehr überholt. Das aber nur als Randnotiz für all diejenigen, die mit offen stehendem Mund und stotternder Stimme in bella italia sich entrüsten wollen, dass der Traubensaft so sehr nach zuhause ausschaut…

Liest man das Buch nun mit oder ohne Lätzchen? Das muss jeder für selbst entscheiden. Wer jedoch bei Minestra di fagioli (Triestiner Bohnensuppe), Conchiglie e broccoli (Teigmuscheln mit Broccoli) oder Torta di ricotta (muss man wohl nicht übersetzen) ein leichtes, freudiges Grummeln in der Magengegend verspürt, sollte vorsorgen.

Denn es geht weiter. Region für Region, vom Trentino bis Sizilien, von Venetien bis Sardinien reicht die Menükarte. Und auf ihr hinterlassen Kalb, Hühnerleber und Kaninchen einen leckeren Nachgeschmack.

Schon beim Lesen fällt auf, dass es zwischen den Regionen sehr wohl gewaltige Unterschiede gibt. Während im Norden Polenta auf den Tisch kommt, vertreten Makkaroni bei einer Blindverkostung eindeutig Sizilien.

Neben den Unterschieden verbinden aber auch – zwischen den Zeilen – die Gemeinsamkeiten die cucina italiana. Wo andernorts mächtig Butter verwendet wird, schwören italienische Köche auf Olivenöl. Die barbarische Verwendung von Butter – die ersten italienischen Einwanderer in Deutschland staunten nicht schlecht wegen der Brocken Butter in deutschen Tiegeln – wird hier niemals das reine Öl ersetzen.

Wer Italien liebt, tut dies auch wegen der kulinarischen Entdeckungen. Dieses Buch strotzt nicht nur wegen der einfühlsamen Beschreibungen der Küche Italiens, sondern punktet nicht zuletzt wegen der enormen Anzahl an leicht nachzukochenden Rezepten. Achtundachtzig an der Zahl – und jedes einzelne ein Stück Italien. Buon appetito!

Nostalgia

Columbo lässt grüßen: Man weiß, wer der Mörder ist. Jetzt muss nur noch geklärt werden wie es dazu kam. Und bei dieser besonderen Erzählstruktur beweist Ermanno Rea begnadetes Geschick. Eigentlich beginnt die Geschichte mittendrin…

Felice Lasco kehrt nach 45 Jahren in sein Rione Sanità zurück. Dieses Viertel ist selbst in Neapel verrufen. Wer nicht von hier ist und trotzdem hier hin geht, braucht schon einen verdammt guten Grund. Felice hat so einen wichtigen Grund: Seien Mutter. Sie ist schwer krank und wird bald sterben. Er will sich um sie kümmern. Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, dass er Sanità verlassen hat. Nun ist er zurück und will erst einmal nur schauen, was sich verändert hat, was er noch kennt. Und ob er alte Freunde wiedersehen wird.

Allen voran Oreste – sein Bruder im Geiste. Unzertrennlich waren die beiden. Damals, als Teenager. Oreste der Draufgänger, der kein Risiko scheute, um die eine oder andere Lira an sich zu nehmen. Und Felice, der Besonnene, der in Oreste aber sehr wohl sein Gegenstück fand. Bis eines Tages … naja, jugendlicher Leichtsinn oder doch schon erkennbare kriminelle Energie? Der geplante Einbruch ging gehörig in die Hose. Sosehr, dass Felice fliehen musst. Bis zum heutigen Tag.

Don Luigi Rega, der Pfarrer der Gemeinde ist Felices erster Gang. Er wird ihm helfen sich wieder zurechtzufinden. Denn noch immer schwebt das Damokles Schwert des Verrates über Felice. Und erst recht über Oreste, die Kanaille, wie man ihn nannte. Das Henkerschwert schwebt indes über beiden.

Oreste hat inzwischen Karriere gemacht. Die vorhersehbare Karriere. In einem Viertel, in dem solche Karrieren so vorhersehbar sind wie ein Wintereinbruch in der Stadt am Vesuv.

Emanno Rea packt den Leser tief in der Seele. Die engen Gassen, der Duft der Verzweiflung, die einzigartige Aura Neapels fängt er mit Worten ein, die man so nur selten zu Gesicht bekommt. „Nostalgia“ ist der Roman über Neapel, den man lesen muss, will man die Stadt auch nur ansatzweise verstehen. Kein permanentes (durchaus oft gerechtfertigtes) Klagen über die Hoffnungslosigkeit, sondern schnörkelloses Aufzeigen eines Lebensstils, der jedem Bewohner von Sanità in die Wiege gelegt wird. Fernab von Klischees zeigt er aber auch den Kampfeswillen der Bewohner dem Schicksal die Stirn zu bieten und ihm ab und zu einen gewaltigen Hieb in die Magengrube zu geben. Neapels Touristen sehen meist nur (zum Glück?) die perfekte Symbiose von Verfall und Charme. Ermanno Rea zeigt die Welt hinter der bröckelnden Fassade. Dass hier das happy end nicht hinter jeder Ecke auf Kundschaft lauert, ist klar. Doch auch hier ist Ermanno Rea unbeirrbar. Manchmal ist das Offensichtliche eben auch nicht mehr als eben dieses.

Die Versuchung von Syrakus

Reiseimpressionen sind immer ein Appetitmacher auf ein Reiseziel, bei dem man sich entweder nicht sicher ist, ob es das richtige ist oder sie sind der Tropfen, der das Fass der Sehnsucht zum Überlaufen bringt. Oft spaziert man neben dem Autor einher und nickt zustimmend – Ja, das sehe ich genau so. Und dann gibt es Reiseimpressionen, die packen einem am Schlafittchen und treiben einen in den Wahnsinn. Warum nur war ich nicht schon früher hier? Was habe ich schon alles verpasst? Wie um alles in der Welt konnte ich nur so lange warten? „Die Versuchung von Syrakus“ gehört eindeutig in die letzte Kategorie, wenn dieses Buch nicht sogar diese Kategorie auf ein neues Level hebt.

Joachim Sartorius, ehemaliger Intendant der Berliner Festspiele verbringt einen großen Teil seines Lebens in Syrakus aus Sizilien. Wie viel andere auch. Er muss also wissen, was man in der Stadt sehen muss, was sie erlebbar macht. So wie viele andere auch. Doch er schafft mit einer Leichtigkeit dem Leser, dem Sehnsüchtigen diese Stadt schmackhaft zu machen, dass man sich gar nicht getraut zur Serviette zu greifen und sich den Sabber vom Mund zu wischen.

Selbst so eine profane Handlung wie zum Friseur zu gehen, wird zu einer Sache, die man seiner To-Do-Liste unbedingt hinzufügen muss. Wer bisher dachte, dass sich der Ruhm der Stadt einzig allein auf „Heureka-Ich-Hab’s“-Archimedes gründet, wird schnell eines anderen belehrt. Einmal mit Joachim Sartorius durch de engen Gassen der Altstadt zu wandeln, gleicht einer 3D-Animation, in der man sich wie im bequemsten Federbett fühlt. Ortigia, die Altstadt, ist auf einer Insel der Stadt vorgelagert. Sie zu umlaufen, dauert nicht lang. Sie in sich aufzusaugen, ist eine Lebensaufgabe. Einen umfassenden Vorgeschmack bekommt man hingegen auf den reichlich einhundertsiebzig Seiten dieses Buches. Immer wieder streut der Autor kleine Anekdoten ein, verweist auf Eisdielen, Orte zum Erholen und Staunen und richtet den Blick auf großes Offensichtliches und die Kleinigkeiten, die zu einem Giganten anwachsen, wenn man sie entdeckt.

Bei jedem gelesenen Kapitel, bei jedem Umblättern möchte man einen Freudentanz aufführen, weil man sich nun zu hundert Prozent sicher sein kann, dass man den Besuch von Syrakus mit einem echten Kenner in der Hand vollends genießen kann.

Die Hungrigen

Es waren einmal zwei Brüder. Die lebten in einem Städtchen in Süditalien. Um sie herum war nichts. Auch das, was da war, war nichts. Paolo schuftete auf dem Bau. Sein Chef gängelte ihn, wo er nur konnte. Paolo ließ ihn reden. Fraß die Wut in sich hinein. Antonio, der Jüngere der beiden, würde bald die Schule abschließen. Er kannte keine Wut. Nur Hoffnungslosigkeit. Aber die würde sich legen. Davon war er überzeugt. Dass er selbst etwas dazu beitragen müsse, war ihm nicht klar.

Die Mutter verließ die Brüder schon vor Jahren. Ließ sie zurück mit dem gewalttätigen Vater. Doch auch dieses Kapitel ist schon gelesen – den Vater gibt es nicht mehr. Das Nichts um sie herum kompensieren Paolo und Antonio mit Kiffen, Pizza und belanglosem Sex. Das Morgen ist ebenso weit entfernt wie das Gestern.

Unmerklich geraten beide – unabhängig voneinander – in einen Strudel, der ihr Leben gar nicht noch mehr durcheinander wirbeln könnte. Dennoch tut er es. Gewalt und Hass, stumpfsinniger Leichtsinn und eine gehörige Portion Trauer werden alsbald mit Paolo und Antonio ein Triumvirat der Verzweiflung bilden. Immer wieder wünscht man sich beim Lesen, dass der Anfang bitte niemals das Ende sein darf. Denn im Tiefsten ihres Herzens sind die beiden nur verlorene Seelen, die sich krampfhaft aneinander schmiegen, um bloß nicht den Kitt, der sie zusammenhält, fressen zu müssen, um überleben zu können. Doch das Schicksal hat andere Pläne…

Mattia Insolia lässt zwei hoffnungslose Gestalten die Szenerie beherrschen, die eine viel zu große Bühne für zwei Brüder ist, denen jegliche Erfahrung im Leben versagt geblieben ist. Ihnen ist der einfache Weg mit Schuldzuweisungen der einzig verbliebene Weg, um voranzukommen. Die Hürden umlaufen sie, an Klippen hangeln sie sich hinunter. Dem Kick des Springens können sie nichts abgewinnen. Und so betreten sie die unheilvolle dunkle Halle des Abstiegs, um erst am Boden des Grundes zu erkennen, dass ihre Zweisamkeit das einzige Mittel ist, um überleben zu können. Doch da ist es schon zu spät.

Ellis

Wie soll man in der Fremde Halt finden, wenn der Boden aus einem Gemisch auf Ablehnung gebaut ist? Ellis kennt die Antwort auf diese Frage nicht. Sie ist mit ihrer Mutter aus Italien nach Deutschland gekommen. Alles um sie herum ist fremd. Die Menschen, die Sprache, die Kultur. Vor allem aber diejenigen, die jede Minute um sie herum sind.

Das ändert sich als Grace in ihr Leben tritt. Auf Anhieb sind sich beide so nah wie es sonst nur Schwestern sein können. Von nun an gibt es sie nur noch im Doppelpack. Selbst Ellis’ Mutter bekommt die Tochter nur noch selten zu sehen. Niemals würden sie getrennt sein. Ellis weiß das und klammert sich daran fest wie ein Koala an einem Eukalyptusbaum.

Doch Grace verändert sich. Und wechselt – wie Ellis es sieht – die Seiten.

Jahre später kommen sich beide – nun schon – Frauen wieder näher. Sie verbringen eine Zeit in Italien. Bei Ellis’ Familie. Bei der Nonna. Vorsichtig rücken Ellis und Grace näher aneinander. Gehen gemeinsam die Umgebung erkunden, die für beide fremd ist. Ellis hat ihre Heimat nun in Deutschland. Und Grace kennt in dieser Gegend nichts und niemanden. Außer Ellis. Dennoch schaffen es beide nicht das, was damals geschah aufzuarbeiten. Warum wechselte Grace die Seiten? Die Frage wird in den Raum gestellt. Dort bleibt sie allerdings auch. Oder sind es gar die Worte, die nicht ausgesprochen werden, die die Verständigung so einfach machen?

Selene Mariani ist in Verona und Dresden aufgewachsen. Ihr Romandebüt weißt Spuren dieses Weges auf. Wohlwollend gibt sie beiden Frauen den Raum, den sie benötigen, um sich frei entfalten zu können. Dass das nicht immer schmerzfrei über die Bühne gehen kann, wird ihnen erst im Laufe der Zeit klar.

Mit behutsamen Worten, im rasanten Wechsel der Zeitebenen und unverwüstlichem Glauben daran, dass die beiden wieder zueinander finden werden, berauscht man sich am Festival der Gedanken zweier Frauen, die sich nur eines wünschen: Endlich wieder beisammen zu sein und die Geister der Vergangenheit in den azurblauen Himmel aufsteigen zu sehen.