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Die Seele aller Zufälle

Vinci Corso ist zurück. Der wohl originellste Detektiv der Welt! Er ist keiner, den man bittet einen Mörder oder die verschollene Verwandte zu finden. Und er ist auch keiner, der mit finsterer Miene Leute zum Schweigen bringt. Er ist Bibliotherapeut. Zu ihm kommt man, wenn man ein Buch sucht, das einem in einer bestimmten Situation hilft sich zurecht zu finden. Welch ein Beruf!

Und so findet auch Giovanna Baldini den weg zu ihm in die Via Merulana in Rom. Dort, wo Carlo Emilio Gadda Bruder den literarisch oppulentesten Krimi angesiedelt hat. Nun, Giovanna ist wegen ihres Bruders bei Vince Corso. Fabrizio, der Bruder, ist an Alzheimer erkrankt. Er war einmal ein gebildeter Mann, der sich in vielen Sprachen der Welt verständigen konnte. Das Wissen in seinem Kopf war unermesslich. Seit einiger Zeit jedoch sind nur noch Fragmente seiner selbst vorhanden. Es sind gerade mal etwas mehr als eine Handvoll Sätze, die er noch von sich gibt. Sie gehören wohl zu einem Buch. Giovanna erhofft sich nun, wenn Vince dieses Buch findet, ein wenig Linderung für ihren über alles geliebten Bruder.

Kein schlechter Auftrag – aber bei aller Liebe wohl der unmöglichste Auftrag, den ein Schnüffler erhalten kann. Doch die Aussicht das Rätsel um die Sätze, die einem umgekehrten caviardage (geschwärzte Zeilen in einem Text – kennt man vielleicht von so mancher Stasi-Akte) lösen zu können, ist ihm fast schon Bezahlung genug. Und außerdem würde Signora Giovanna auch keine Absage dulden. Ihre vehemente Präsenz ist ihm Befehl genug!

Fabio Stassi lässt seinen Ermittler oft genug ins Leere laufen. Gibt ihm aber gleichermaßen derart viele Hinweise, dass man nie den Glauben verliert, das Unmögliche schlussendlich doch erfahren zu können. Diese Spannung und die zahlreichen Ausflüge in Literatur im Speziellen und Kunst und fremde Kulturen im Allgemeinen gepaart mit der neumodischen Angstform der Nomophobie (der Angst das Mobiltelefon zu verlieren – NOMObilePhObia – grandios dieses Wortspiel) lassen jedes Umblättern zu einem Nervenkitzel reifen. Die intellektuelle Wucht und das schier unendliche Wissen um  Bücher und ihre Wirkung hinterlassen Spuren beim Leser. Als Linderung gibt es im Anschluss eine Literaturliste mit Leseempfehlungen von Vince Corso.

Fabio Stassi zu lesen ist wie ein Rundflug durch die Weltbibliothek – nur die Zeit, die man scheinbar vergessen kann, ist der unerbitterliche Feind, dessen staubiger Atem einem im Nacken sitzt. Gefährlich – gefährlich gut!

66-Seen-Wanderung

Sechsundsechzig Seen, rund um Berlin, vierhundertfünfundzwanzig Kilometer – klar, dass man da ein wenig Hilfe braucht, um nicht das Eine oder Andere zu verpassen. Manfred Reschke und Andreas Sternfeldt kennen jede seit 2003 erfasste und ausgeschilderte Route aus dem FF. Was an sich schon mehr als genug ist. Doch in ihrem Reiseband machen sie so manchen Abstecher nach Links und Rechts – erlaubterweise, denn Teile der Route sind Naturschutzgebiet, wo Abstecher nicht so gern gesehen, oft sogar verboten sind. Zu Fuß, auf dem Rad, allein oder in Familie – diese Routen überfordern keinen Wandersmann und keine Wandersfrau übermaßen. Berge sind hier Hügel, und Aussichten stoßen erst am weit entfernten Horizont an ihre Grenzen.

Die für dieses Buch erstellten Wanderkarten sind exakt und ohne Einschränkungen zu benutzen. Und jede Strecke wird vollumfänglich beschrieben, so dass es beim allabendlichen Rückblick keine Wissenslücken gibt. Eine der berühmtesten – und sicher auch eine der am meisten begangenen Routen ist die auf den Spuren von Theodor Fontane. Pflichtlektüre im Handgepäck, dieses Reiseband immer in Griffweite und schon wird der sandige Boden Brandenburgs zur trittfesten Unterlage für jeden, der in Spuckweite der Weltstadt Berlin Grün, Ruhe und Erholung, gepaart mit Forscherdrang und Abenteuerlust sucht.

Jede einzelne Wanderung – siebzehn Etappen – beginnt mit einem kurzen Überblick, was den Forschungsreisenden erwartet. Die Beschaffenheit des Weges ist mindestens genauso wichtig die die zurückzulegende Strecke. Ebenso Tipps wo man mal schnell ins kühle Nasse springen kann. Schließlich ist man ja auf der Pirsche zwischen Seen und Flüssen. Und wenn man sich vor lauter Glücksgefühl mal die Zeit vergessen hat, und man ganz schnell die Orientierung wieder finden muss, ist jede Etappe mit GPS-Daten zum Runterladen versehen. Es kann also nichts passieren. Außer eine einzigartige Erholung auf einzigartigen Wegen, vorbei an einzigartiger Natur.

Die einzige Schwierigkeit besteht darin, die 240 Seiten ohne freudiges Füßetrappeln zu überstehen. Denn schon mit den ersten Kapiteln steigt die Ungeduld endlich mal wandern zu gehen (besonders ausgeprägt bei noch nicht bekehrten Wandermuffeln).

Im Reigen der Wanderführer – auch über Brandenburg – nimmt dieser Reiseband eine besondere Stellung ein. Noch nie wurde in eine Region so anschaulich eingeladen. Und zwar komplett frei von der Angst etwas Einzigartiges durch massenhaften Besuch zu zerstören. Wer im Berliner Umland von See zu See wandern möchte, kommt um dieses Buch nicht herum. Von Stausberg bis Potsdam, von Leuenberg bis Leibsch, von Bad Saarow bis Seddin findet man das, was Erholung ausmacht, nur in diesem Buch.

Prager Zeitung – 350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte

Es gibt eine lange reihe von Zeitungen und Wochenblättern, die man sofort einem Ort zuordnen kann. New Times aus New York, Paris Match aus Paris, auf Englisch und auf Französisch erschienen. Die Liste ließe sich sicherlich noch weiter fortführen. Prager Zeitung … aus Prag – richtig, auf Deutsch … Moment! Prag, Deutsch – da passt doch was nicht! Oh doch, und wie das passt! Und das nun schon seit – mit Unterbrechungen – über 350 Jahre! Ende des 17 Jahrhunderts wurde auch Deutsch in Prag gesprochen.

Die Zeitung (das Prager Tageblatt – mit Autoren wie Egon Erwin Kisch – war der Vorläufer) erlebte Aufs und Abs wie kaum ein anderes Medium. Anfang der Neunziger des vergangenen Jahrhunderts kam der Neustart. Viel beachtet, viel zitiert – der Blick auf das eigene Land von Außen immer ein anderer. Und in den aufregenden Zeiten nach der Wende waren die Experten jenseits des Eisernen Vorhangs gern gesehene und viel be- und gefragte Partner. Doch auch hier gab der Rotstift irgendwann die Linie vor. Die Prager Zeitung drohte fast in der Versenkung zu verschwinden bis … ja bis das Internet eine neuerliche Renaissance einläutete. Heute ist die Prager Zeitung eine feste Größe unter den Onlinepublikationen. Eine deutschsprachige Stimme inmitten der tschechischen Hauptstadt. So viel in kurzen Worten zur Geschichte der Prager Zeitung.

Klaus Hanisch war von Anfang an dabei – also seit dem Neustart 1991. In der ersten Ausgabe, die die Nummer Null trug prangten zwei Staatsoberhäupter, deren eigene bzw. familiäre Geschichte ihr politisches Auftreten und Handeln stark prägten: Vaclav Havel und Richard von Weizsäcker. Widerständler aus Überzeugung. Klaus Hanisch erzählt in diesem Buch von den schwierigen Anfängen in aufregenden Zeiten als im Osten alles bisher dagewesene der neuen Zeit weichen musste. Als der neugierige Westen merkte, dass er schlussendlich ohne Wissen des Ostens nicht umfassend berichten kann. Die Kollegen der Prager Zeitung waren mehr als nur Stichwortgeber. Sie erklärten die alte Welt, formulierten erforderliche Ziele und wiesen revanchistische Tendenzen in die Schranken. Denn ein deutsches Blatt inmitten tschechischer Heimat hat immer mit sensiblen Themen zu kämpfen. Das ist Fakt und nicht wegzudiskutieren.

Selbst wer nicht aus der Branche kommt, wird in diesem ausführlichen Rückblick auf dreißig Jahre Exklusivjournalismus eine bodenlose Fundgrube vorfinden, die die harten Fakten geschickt mit den so genannten soft news verbindet. Wer Tschechien verstehen und dabei auf die teils kruden Übersetzungen aus dem Netz verzichten will, hat in der Prager Zeitung das gefunden, worum sich andere Städte in der Welt reißen. Oftmals findet man zwar noch Rubriken im Netz, die wie schon vor Jahrzehnten mit Artikeln (Helen Hessels „Ich schreibe aus Paris“ ist da besonders herauszuheben) die Fremde in die heimischen Stuben brachten. Doch eine ganze Zeitung – wenn auch online – die regelmäßig in heimischer Sprache über ein Nachbarland neutral, hingebungsvoll und umfassend berichtet, findet man nicht überall. Der Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre ist mehr als nur eine Selbstbestätigung das Richtige gemacht zu haben, es ist ein spannender Abriss europäischer Geschichte mit Informationen aus allererster Hand.

Sonst wäre Wien nicht Wien

Der Titel fällt einem sofort ins Auge: „Sonst wäre Wien nicht Wien“. Wie viele Großstädte hat Wien seinen unvergleichbaren Glanz Mäzenen, Visionären und Machthabern zu verdanken. Deren Vorstellungen sind bis heute sichtbar. Was wäre Wien ohne Kunst- und Naturhistorisches Museum? Oder ohne die Hofburg? Das sind die offensichtlichen Hinterlassenschaften der Habsburger. Doch es sind die scheinbar kleinen Dinge, die Wien letztendlich immer wieder zu einer der lebenswertesten Städte der Welt machen.

Scheinbar klein ist im Falle Wiens immer mit überall sichtbar gleichzusetzen. Es sind beispielsweise die Parkanlagen, die den Besucher – aber auch und vor allem die Wiener selbst – zum Durchatmen, zum Verweilen, zum sich Entfalten, einladen. Gerade Sichtachsen, klare Linien – hier hat Kaiser Joseph II. seine Finger im Spiel gehabt. Dem lag das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung am Herzen. Auch wenn die Spitäler der Stadt heute andere Namen tragen, so waren sie einmal ihm gewidmet, weil er sich in Auftrag gab. Architektonische Perlen, die von Außen innehalten lassen. Und von Innen … na ja, den Heilungsprozess beschleunigen werden sie nicht.

Autor Norbert Philipp schlendert nicht durch Wien, er durchforstet die österreichische Metropole mit der Lupe und seziert ihre Wurzeln bis in die kleinste Faser. Dort, wo der Name bis heute Programm ist, ist nicht immer das drin, was draußen drauf steht. Die Aussichtswarte im Türkenschanzpark trägt den Namen Metternich, was nun eindeutig auf den Fürsten hinweist … ha, denkste! Die Dame (!) hinter Gebäude und Namen war zwar eine Metternich, doch sie – die „Gschaftlhuberin“ – selbst wollte lieber im Hintergrund wirken und Lobbyarbeit betreiben, sprich Geld sammeln für geplante Bauvorhaben.

Es ist ein Fest mit diesem Buch durch Wien zu flanieren. Einem selbst bekannte Orte bekommen eine neue Bedeutung, wenn man die Geschichte dahinter versteht. Wasserläufe, ist doch wohl klar, dass die Wien niemals so durch die Stadt geflossen ist – das sieht man ja schon an der Uferbefestigung. Auch hier steht man nun auf der Brücke, sitzt auf einer Bank und schaut dem Flüsschen zu wie es sich zahm durch die Stadt windet. Beim Bummeln durch die Bezirke wird man immer wieder auf Namen und Gebäude treffen, die die Stadt prägten – die Geschichte(n) dahinter wird man mit diesem Buch wie selbstverständlich begreifen. Der lockere Schreibstil ist die einzig wahre Methode diese Geschichte einem wissensdurstigen Publikum nahezubringen. Ob nun der erste Besuch in Wien oder der zwanzigste – mit diesem Buch im Reisegepäck wird jeder Schritt zu einem besonderen Erlebnis.

Aktion Phoenix

Die erste Augusthälfte des Jahres 1936 gehörte den Olympioniken, die sich in Berlin in sportlichen Wettkämpfen miteinander messen wollten. So das hehre Ziel, so die homogene Sprache der Athleten und Funktionäre. Und jeder wusste, dass in diesem Deutschland die Fairness der Athleten im Austragungsland keinen Pfifferling wert ist. Umso größer das Erstaunen, dass hier tatsächlich eine fast schon wohlige Atmosphäre herrschte – im Vergleich zu der Zeit davor, und gar kein Vergleich zu den folgenden Jahren.

Leni Riefenstahl setzte mit ihrem gigantischen Filmteam Maßstäbe für Dokumentationen, aber auch für Propaganda. Auf dem Feld der Träume purzelten die Rekorde. Ohne die Perfidität des Ausrichterstaates wären es Spiele gewesen, von denen man bis heute schwärmen dürfte. Doch es kam anders. Das ist wohl bekannt.

Christian Herzog setzt diesen Olympischen Spielen mit seinem historischen Roman „Aktion Phoenix“ ein fiktives Denkmal an die Seite, das in vielerlei Hinsicht an Denkwürdigkeit dem großen Ereignis Olympia in Nichts nachsteht. Ein Zeppelin, ein Anruf vom Führer, der Traum vom Job an Bord des Zeppelins, Widerstandskämpfer, die einen phantastischen Plan haben, eine heiße Nacht mit unerwarteter Wendung – aber auch die Gegenseite weiß genau wie sie die auf sich gerichteten Augen der Weltöffentlichkeit trüben will … und kann.

Jedes Kapitel holt den Leser erst einmal aus dem Staunerlebnis des vorangegangenen Kapitels wieder runter. Auf leisen Pfoten jedoch bereite der Autor schon den nächsten Knall vor. Immer wieder verfällt man der trügerischen Ruhe, um dann ein ums andere mal wieder in den Thrill der Geschichte gezogen zu werden. Ein großes, ein dickes Buch zu einem großen Thema. Und so aktuell. Denn jedes Großereignis – und es sollen ja immer mehr werden – sind immer ein profundes Mittel Werbung zu betreiben. Während Jesse Owens und das argentinische Poloteam oder Robert Charpentier ihren Kontrahenten teilweise deklassierten, versucht eine Gruppe Widerständler wahrhaft Großes zu vollbringen. Seilschaften, die so geheim sein müssen, dass schon ein „Psst“ zum Verrat reichen könnte, sind der rote Faden, der sich durch das Buch zieht. Was hat der Zeppelin mit der geplanten Aktion zu tun? Wem darf man noch trauen? Und was ist, wenn die Liebe plötzlich dazwischenfunkt?

Mit enormer Detailversessenheit und unnachgiebiger Zuneigung zu seinen Figuren schafft es Christian Herzog, brutale Realität und spannende Fiktion zu einer Geschichte verschmelzen zu lassen, die den Leser in den Lesesessel presst und ihn erst nach dem letzten Zuklappen wieder loslässt. Doch die Geschichte wirkt nach. Immer wieder fragt man sich, was wäre gewesen, wenn das tatsächlich alles so stattgefunden hätte? Die Olympische Idee im Gleichklang mit Welt verändernden Idealen ist kein leichtes Unterfangen. Der schmale Grat zwischen Kitsch und Ernsthaftigkeit ist gespickt mit scharfen Kanten und großen Fallhöhen. „Aktion Phoenix“ schafft es fast spielerisch allen Unwägbarkeiten aus dem Weg zu gehen.

Flughafen Tempelhof

Es war schon ein besonderes Schauspiel, wenn dicht über den Dächern der Weltstadt Berlin gigantische Flugzeuge in die Luftbremse traten, um lautstark auf dem Platz landeten, den der alte Fritz schon für Militärrevuen auserkoren hatte. Schon Jahrhunderte zuvor hatten sich hier die Tempelritter niedergelassen. Ballett im großen Stil gab es hier also schon immer.

1923 war hier der Flughafen, der aber bei Weitem noch nicht das erahnen ließ, was seine heutige Größe noch vermuten lässt. Der Kleiderbügel – ein architektonischer Coup erster Kajüte – trotzt bis heute jeder optischen Veränderung. Flugzeuge landen hier seit anderthalb Jahrzehnten nicht mehr. Flieger und unzählige Neugierige zieht es aber immer noch an den Ort, der dazu verdammt war Geschichte zu schreiben. Wo heute Kite-Surfer, Radler und Festival-Besucher sich vor dieser Kulisse tummeln, war fast einhundert Jahre immer was los.

Erste Experimente mit riesigen Luftschiffen, die einmal Zeppeline genannt werden endeten in Katastrophen – das erste Opfer war ein Leipziger Verleger, dessen Luftschiff erst das Ruder verlor, immer höher stieg, und dessen kurze Lebenszeit auf leuchtender Feuerball knallhart auf den Boden der Realität zurückgebracht wurde.

Wer heute die nostalgischen Aufnahmen sich im Fernsehen anschaut, sieht nur wie Leinwandgrößen freudig strahlend und in die Menge winkend hier ihr Ziel erreichten. Oder die Rosinenbomber, die auf ihrem Überflug ihre süße Ladung abwarfen. Das alles gehört zu Tempelhof wie die zahlreichen fotographischen Erinnerungen von Alexander Stöcker, der über Jahre die Entwicklung des Flughafens in Bildern festhielt.

Die Nazis in ihrem Größenwahn prägten das bis heute weithin sichtbare Bild des Flughafens. Wie auf einem gigantischen Modell wird jedem klar, wie der Ablauf vonstatten ging. Keine versteckten Arbeitsabläufe. Alles unter freiem Himmel. Maschine landet, rollt zum „Kleiderbügel“, Treppe ran, und schon ist man mitten in Berlin. Keine lästige Fahrt mit dem Bus übers Land. Nein, mittendrin und immer dabei.

Dieses Buch liest sich wie ein Krimi – es gibt Tote, es gibt Täter, Schaulustige, und immer gibt es was zu erzählen. Wer bisher nur die Legende kannte, nimmt sich das Buch und das Herz in die Hand und schaut einmal persönlich an dieser (noch!) größten unbebauten Fläche Berlins vorbei. Aber unbedingt vorher dieses Buch lesen! Denn die Anekdoten, die der Autor ausgegraben hat, machen einen Besuch hier erst zu einem echten Erlebnis.

Germaine de Staël – Eine moderne Frau zur Zeit Napoleons

So eng können Glück und Unglück zusammenliegen. Die Biographie von Germaine de Staël ist ein wahrer Thriller. Drei Wochen nach Ostern 1766 wurde sie in eine Familie hineingeboren, die es ihr schon im Jugendalter erlaubte sich bilden zu können und in Kreisen natürlich zu verkehren, die kaum privilegierte hätten sein können. Ihr Vater war Banker, später Politiker. Die Werke von Montesquieu waren als 15jährige mehr als nur ein Zeitvertreib. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon eine Komödie geschrieben.

Wer die ersten Seiten der Biographie von Christiane Landgrebe gelesen hat, dem kommen Zweifel an der aktuellen vergleichbar privilegierten Jugend der Gegenwart.

Germaine entwickelt sich zu einer jungen Frau, die die Ideale der Revolution – und schon bald folgt auf das Glück der frühen Jahre das Unglück der neuen Zeit – für sich entdeckt. Doch das Hin und Her dieser Zeit und die arrangierte Ehe mit einem schwedischen Adeligen zehren an ihr. Sie reist und lebt in Europa, sie lernt Schweden, England und Russland (nicht immer freiwillig)  kennen und erkundet Deutschland. Was ihr später hilft ein Standardwerk über die Deutschen zu schreiben. Dieses Buch – „De L’Allemagne“ – wirkt bis heute nach. Die Sicht der Franzosen auf die Deutschen ist in abgeschwächter Form noch heute bemerkbar.

Als Napoleon abermals an die Macht kommt, ist ihm dieses Werk ein Dorn im Auge. Abermals muss Germaine ihre Heimat verlassen. Privat verläuft ihr Leben lang auch nicht alles nach Plan. Ihre erste Tochter stirbt im Alter von zwei Jahren. Die Jüngste heiratet wie ihre Mutter in höchste Kreise. Im Alter von fünfzig Jahren erleidet sie einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie im Sommer 1817 stirbt.

Es ist erstaunlich wie schnell die Geschichte große Persönlichkeiten in Vergessenheit geraten lässt. Nicht minder erstaunlich ist es aber auch, dass selbst mehr als zweihundert Jahre nach ihrem Tod es immer noch möglich ist, derart fundiert über sie berichten zu können. Christiane Landgrebe gelingt es faktenreich und eloquent dieser hinter dicken Schleiern versteckten Frau abermals eine Bedeutung zukommen zu lassen, die ihr auch gerecht wird. Germaine de Staël war einflussreich. Wenn auch nicht in erster Reihe stehend, so war sie es, die in ihrem Salon die Strippenzieher empfing und ihnen in Nichts nachstand. Und dass sie doch nicht komplett in der Versenkung verschwand, beweist einmal mehr, dass Beharrlichkeit sich letzten Endes auszahlt. Das macht Mut! Auch und gerade für die jetzige und die kommenden Generationen.

Hier und anderswo

Man spürt es ab der ersten Seite, ach was, aber der ersten Zeile: Thomas Michael Glaw reist gern. Und oft. Und er kann viel erzählen. Nicht über das, was man sehen muss, was jedem früher oder später vor die Augen kommt, sondern über das, was man suchen muss und finden kann. Und vor allem über das, was zu beachten ist. Reiseimpressionen mit Lerneffekt. Doch so statisch sollte man dieses kleine Büchlein nicht angehen. Es ist eine Art Hilfestellung für Reisenovizen wie alte Hasen, die über diejenigen lachen, die Catania in Spanien oder Griechenland verorten (die gibt es wirklich! Und das nicht zu knapp!).

Hier sind sie also die gesammelten Impressionen (Auszüge davon) eines Reiselebens. Von München nach Wien im Flieger? Niemals. Im Zug reist man entspannter, und auch nicht viel länger, wenn man die Eincheckzeiten und die Fahrten zum und vom Flughafen einberechnet. Und mit der ÖBB sogar pünktlich, freundlicher … einfach entspannter. Reisen als Sinnesrausch im positiven Sinn. Denn auch eine Zugverspätung kann eine Reise in einen Rausch verwandeln – Stichwort Blutrausch.

Wiens erster Bezirk hat für ihn den Rausch der Vergangenheit gegen die Tristesse des Übers eingetauscht. Übervolle Straßen, übermäßig viele Verkäufer, die überteuerte Tickets verkaufen, überall nur Touristen, die überhaupt kein echtes Wien mehr ans Tageslicht kommen lassen. Dennoch sind Wien und seine Cafés immer noch berauschend. Es sind halt nur andere Cafés, wo man sich zur morgendlichen Stunde Gazetten und Braunen einverleiben mögen möchte.

Südspanien im Winter ist ein feuchtes Vergnügen. Manchmal auch ein feuchtfröhliches, wenn man der Sprache nicht mächtig ist und aus Versehen etwas bestellt, was einen übermäßig beansprucht.

Roma als Amor zu verstehen, fällt leicht, wenn man die Ewige Stadt einmal besucht hat. Oder mehrmals. Die Stadt für sich allein hat man niemals. Es sei denn, man besucht einen Friedhof. Doch auch da ist Achtsamkeit angeraten. Furbo und Pignolo können einem manchmal ordentlich auf die Nerven gehen oder gar die letzten Reste davon rauben. Der Eine mogelt sich durch (und kommt damit auch immer durch), der Andere ist ein Pedant, den man so in Italien gar nicht vermutet. Eine köstliche Charakterstudie des Autors.

„Hier und anderswo“ ist ein kurzweiliges Lesevergnügen für alle, die Bestätigung suchen und/oder vor der Entscheidung stehen in alle Himmelsrichtungen zu flüchten. Knigge-Fallen lauern überall (da ist es wieder, dieses „über“), nicht hineinzutappen, ist die Kunst. In diesem Büchlein die Fallen zu erkennen, sie umschiffen zu können, ist keine Kunst, es ist fast schon eine Pflicht.

Die Erfindung des Lächelns

Das war schon ein Ding, damals 1911, da hing die Mona Lisa einfach nicht mehr da, wo sie nach Meinung aller zu hängen hat. Im Louvre in Paris. Sie war gut versteckt, aber eigentlich greifbar. Vincenzo Peruggia, Glaser, der kurz zuvor die Scheibe, die das wertvollste Gemälde der Welt schützen soll, ausgetauscht hatte. Er kannte sich bestens aus. Drei Jahre später hat man ihn gefasst, das Gemälde zurückgebracht und alle waren zufrieden. Eine Legende war geboren. Doch warum Peruggia da Vincis Werk klaute, ist bis heute ein Rätsel. So ist die Geschichte. Ist hinlänglich bekannt. Kann man in mehr oder weniger langen Versionen nachlesen.

„Die Erfindung des Lächelns“ ist der historische Roman zu dieser Geschichte. Tom Hillenbrand ist der Autor, und er vermeidet es kunstvoll dieser dramatischen Geschichte sinnfreie Fakten oder gedankenlose Spinnereien hinzuzufügen.

Juhel Lenoir ist der Ermittler in diesem Fall. Er bekommt Druck von allen Seiten. Das berühmteste Gemälde der Welt – einfach gestohlen. Da erwartet jeder(!) schnelle Resultate. Doch wie soll das gehen? Einfach mal bei Picasso nachfragen, „na, was gesehen oder gehört?“. Das kann man doch nicht machen! Warum eigentlich nicht?! Auch Guillaume Apollinaire, der Dichterfürst ist mehr als nur verdächtig. Die Verbindungen zu einem ähnlichen Vorfall ein paar Jahre zuvor sind nun einmal da.

Mit wunderbar leichter Feder streift Hillenbrand die Vorhänge des Vergessenen zurück und führt den Leser auf die Weltbühne der Kunst vor reichlich einhundert Jahren. Isadora Duncan, die berühmteste Tänzerin ihrer Zeit und ihres reichlich durchgeknallten Gurus Aleister Crowley, bis heute gleichermaßen vergötterter wie verteufelter Satanist, treten ebenso auf wie die Herren, die die musikalische Untermalung aus dem manschettierten Handgelenk schütteln, Claude Debussy und Igor Strawinsky.

Die Haute Volée der Pariser Kunstszene versammelt sich in diesem Buch und prahlt leuchtend mit ihrer Reputation. Dass es nicht in Kitsch abgleitet und als belanglose „Noch so’n Buch über ein fast vergessenes Ereignis“-Persiflage auf dem Ramschtisch landet, dafür sorgt allein schon das Fachwissen des Autors. Penibel hat er sich in den Fall und vor allem in die Zeit eingearbeitet. Kleinste Details werden hier nicht aufgeplustert, sondern behalten ihren Status bei.

Ein Kriminalroman, der so echt ist wie das Lächeln der Mona Lisa. Hintergründig und fundiert. Immer wieder setzt man das Buch ab und lässt die Gedanken schweifen. Und sei es nur, um sich die Szenerie, die Straßencafés, die Ateliers vor Augen zu führen. Tom Hillenbrand ist ein Verführer, der die Romantik des Verbrechens – dieses Verbrechens – als Druckmittel zum Weiterlesen einsetzt.

 

Balkon mit Aussicht

Muss man noch von Paris schwärmen? JA!!! Immer wieder und wieder. Es gibt unzählige Bücher, in denen die Liebe zur Stadt der Liebe eindrucksvoll zu Papier gebracht wurde. Und jetzt kommt noch eines hinzu. Jedoch keine gewöhnliche Lobhudelei mit den „besten Tipps“ für dies und das. Sondern eine Liebeserklärung an eine Stadt, in der die Autorin nicht nur viele Jahre lebte, sondern eine Stadt, die sie aufgesogen hat und die sie aufgezogen hat.

Für Brigitte Schubert-Oustry war Paris ein halbes Jahrhundert nicht nur Obdach, es war ihr Leben. Sie ist deswegen und wegen ihrer unnachahmlich berührenden Sprache die ideale Reisebegleiterin durch die Stadt an der Seine. Als Neuling sollte man dieses Buch als Zweit-, Parallel- oder Zusatzlektüre im Gepäck haben. Denn Brigitte Schubert-Oustry ist keine typische Zeigetante, die nach Links und Rechts verweist, um der hinterher trabenden Masse so viel wie möglich zu zeigen, sie steigt mit dem Leser ins Herz der Stadt.

So nachdrücklich die meisten Urlaubserinnerungen sind, so austauschbar sind sie in den meisten Fällen. Da die Autorin hier in Paris jedoch nicht ihren Urlaub verbrachte, sondern hier wirklich lebte, hinkt der Vergleich mit den meisten Reiseimpressionen. Eine echte Madame Concierge erlebt man nicht als Touri, der mit der Kamera um den Hals baumelnd dem nächsten einzigartigen Motiv hinterherjagt, und dabei die wahre Schönheit der Stadt übersieht. Das sind die wahren Originale. Und sie sind eine aussterbende Spezies. Concierge sein bedeutet alles (!) zu wissen, jeden zu kennen… und zwar bis ins kleinste Detail. Ohne dabei natürlich mit dem Wissen hausieren zu gehen oder die entsprechende Person damit zu behelligen. An ihr, an ihm kommt niemand vorbei. Sie sind die gute Seele, aber auch der schärfste Wachhund der Stadt. Und Brigitte Schubert-Oustry erzählt ausgiebig von ihren Begegnungen mit diesem Menschenschlag.

Genau wie vom immer seltener werdenden Hausfest. Das ist eigentlich keine Pariser Erfindung oder gar ein wiederkehrendes Fest. Findet es allerdings einmal statt, und man ist eingeladen (als Touri fast unmöglich) dann erlebt man Paris wie es wirklich ist. Man kann natürlich auch dieses Buch lesen… Das ist fast so echt wie das Hausfest selbst.

Mit und in diesem Buch schaut man nicht verstohlen durchs Schlüsselloch – die Autorin öffnet bereitwillig jede noch so verschlossen scheinende Tür mit einem Handstreich. Man fächert sich den Duft der Stadt zu, atmet tief ein und ist im Handumdrehen mitten in einer der aufregendsten Städte der Welt. Es gibt sie noch, die Geheimnisse von Paris. Man muss sie ab sofort nicht einmal mehr suchen. Sie liegen ordentlich sortiert vor einem.