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Lesereise Nordirland

Hausboot, Straßenkämpfe, Gartenparadies – auf den ersten Blick eine allzu willkürlich und stark verkürzte Beschreibung dessen, was den Leser in diesem Buch erwartet. Hinzufügen sollte man noch, dass die Autorin Stefanie Bisping regelmäßig auf dem Treppchen bei der Wahl zur Reisejournalistin des Jahres landet. Gold ist ihr näher als Silber. Und somit führt sie den Spruch, dass Schweigen Gold ist, ad absurdum.

Denn Stefanie Bisping schweigt nicht. Sie genießt das Reisen, aber sie schreibt auch darüber und lässt in diesem Fall jeden Wissbegierigen an einem Land teilhaben, das vielleicht immer noch einen Dornröschen-Dämmerschlaf frönt. Noch!

Der Name der nordirischen Hauptstadt Belfast ist ebenso eng mit der Titanic verbunden. Hier wurde das Rekordschiff gebaut, bevor es Monate später nicht minder rekordverdächtig in den Tiefen des Atlantiks versank. In Belfast erinnert heute ein gigantischer Titanic-Komplex an die Katastrophe, aber auch an die Schiffsbautradition der Stadt. Inkl. Kongress-Center, Pubs und natürlich dem größten Titanic-Museum der Welt. Erstaunlich, was an Wissen noch alles aus dieser Geschichte herauszuholen ist. Stefanie Bisping kitzelt wirklich das letzte unveröffentlichte Geheimnis aus dem Gebäude.

Belfast ist aber auch eine der wenigen Städte mit einer Mauer. Während man in Berlin dem antifaschistischen Schutzwall nur noch mit touristisch weit geöffnetem Maul entgegensteht, ist hier die Mauer tatsächlich immer noch Mittel zum Zweck (der Trennung). Und die alljährlichen Umzüge in Orange verleiten diejenigen, denen das Orange ein Dorn im Auge ist, dazu, dass man in die Sommerfrische flieht. Auch eine Art der Konfliktlösung, und nicht die Schlechteste.

Eine Flucht nach Vorn hat auch ein Gärtner angetreten, den die Autorin begleitete. Eigentlich wäre er längst im Ruhestand. Doch die Liebe zu Gärten und Pflanzen ließ ihn das süße Leben vergessen, und er trat einmal mehr in den floralen Dienst ein.

Große Geschichte und kleine Geschichten hat Stefanie Bisping gefunden, oder sie ließen sich von ihr finden. Immer wieder staunt man über jede einzelne. Und man möchte sofort selbst auf die grüne Insel fahren, wo immer noch tagein tagaus Traditionen gelebt werden. Das beginnt nicht erst bei Halloween und hört noch lange nicht beim Bier- und Whisky-Trinken auf.

Alles Eisen des Eiffelturms

Dieses Buch liest man nicht! Man flaniert durch dieses Buch hindurch. Sind die Füße ermattet, liest man es ein zweites Mal. Werden die Augenlider schwer, träumt man sich in ihm in die Stadt der Liebe, der Künstler, der Flaneure, des Lichts… Und eines Tages trägt am es in der Hand und tut es den Akteuren gleich. Dann, erst dann hat das Buch seinen Zweck mehr als erfüllt. Abgegriffen liegt in den Händen, die die Stadt einfangen wollen. Eselsohren sind die Leitpunkte der zahllosen Spaziergänge durch das Paris, das nicht mehr existiert. Ein Paris, das im Massentrubel ertrunken ist und mit immer wieder neuen erwachenden Angeboten um die Gunst der dürstenden Menge buhlt. Und sich dabei selbst stellenweise aufgibt.

Das Paris dieses Buches ist rund ein Jahrhundert jünger. Walter Benjamin und Marc Bloch. Geistige Väter – für manche Unruhestifter – eines Deutschlands, das in zwölf Jahren den Gegenentwurf zu allem Menschlichen liefert und in Tiefen stürzen wird, aus denen es bis heute nicht vollständig herausgeklettert ist.

Michele Mari ist der Marionettenspieler dieser zwei Köpfe, die in Paris als Passagiere der Verzweiflung gestrandet sind. Mit ihrem Willen gestrandet – ein Widerspruch? Mit Nichtem! Ihre Heimat ist nicht hier. Hier ist lediglich eine erste Endstation. Bis die Braunen und Grauen auch die Farbenpracht der Stadt an der Seine mit ihrem Schlamm bedecken. Es sind sie Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre zuvor. Sie lassen die beiden träumen, ackern, wünschen, hoffen, aber auch verzweifeln, argwohnen, frösteln, trauern. Ihre Bücher sind nur noch Asche. Ihre Namen Schall und Rauch. Doch nicht vergessen.

Sie treffen Menschen, die wir heute als Götter verehren. Namen wie Donnerhall, die in Paris das alte Paris der Künstler suchen, es zum Teil aufbau(t)en, es zu ihrem Paris machten. Und nun? Die Enge der Heimat schnürt Walter Benjamin die Kehle zu. Und bevor dies andere tun, ist er lieber Vertriebener in Paris als getriebener in Berlin. Marc Bloch wird das Versagen der französischen Streitkräfte beim Blitzüberfall der Wehrmacht auch Anfeindungen einbringen.

Michele Mari würfelt Realität und Fiktion derart durcheinander, dass dem Leser schwindelig wird. Hat man erst einmal begriffen, dass es unerheblich ist dies auseinanderhalten zu müssen, ist „Alles Eisen des Eiffelturms“ Pflichtlektüre für den nächsten Trip in die Stadt der Liebe.

Almost 2

Raus, raus, raus, raus – ich muss hier raus! So muss sich Wojciech Czaja gefühlt haben als er im Corona-Lockdown sich auf seine Vespa schwang und mit Verve seine Stadt Wien erkundete. Journalist ist er. Schwerpunkt Architektur. Auf einmal sah er Wien mit ganz anderen Augen. Dort war der Orient, dort ein verschlafenes Nest in den Bergen. Alles vor seiner Haustür. Die Kreativität der Bauherren inspirierte den Vespa-Piloten.

Und das nicht nur einmal. Band Zwei der Almost-Weltreise ist die konsequente Fortsetzung seiner Vespiaggio durch das lockdown-massenentkernte Wien.

Wer noch nie in Milwaukee war (Alice Cooper kommt von hier), nicht weiß wie es dort aussieht, der kann Czaja vollauf vertrauen. Er hat es in Meidling, in der Flurschützstraße entdeckt. Und Houston in Erdberg. Das Guggenheim in Favoriten. Und die Piazza di San Marco am Schmerlingplatz im Ersten.

Es sind Gebäude oder Details, die ihn als Weltreisenden an frühere Reisen erinnern. Er hält drauf zu, drückt ab und das Ergebnis regt ab und an zum Schmunzeln an, erstaunt aber nach jedem Umblättern aufs Neue. So groß die Welt ist, so nah ist sie auch. Und alles trifft sich nicht zwingend beim Heurigen im Speziellen, in Wien im Allgemeinen jedoch sehr wohl. Historisches, Modernes, Auffallendes, Typisches – wer die Augen offenhält, wie Wojciech Czaja, der nimmt jede Einschränkung des Aktionskreises in Kauf. Man muss in die Welt hinausfahren, um sie zu erkunden. Doch man muss nicht lang fliegen, um sie zu erkennen.

Dieses kleine Büchlein – mittlerweile sind es ja schon zwei – hilft die Sehnsucht nach dort hin und da hin am Leben zu erhalten. Und es zeigt, dass um die Ecke oft mehr zu sehen ist, als nur das lokal Typische. Mit ein bisschen Phantasie wird man selbst fündig.

Kulinarisches Brandenburg

Früher an später denken, denn eines ist sicher: Der Hunger kommt garantiert. Und wenn man dann nicht vorgesorgt hat… muss man zwar nicht hungern, aber sicher zieht der eine oder andere Geheimtipp an einem vorbei, weil man ihn nicht (er-)kannte.

Julia Schoon ist die gute Fee für den kleinen, mittleren, großen Hunger, die Appetitmacherin für alle Sinne und Kochtopfgucker mit dem hang andere teilhaben zu lassen. Wie wäre es mit Eseln? Nicht auf dem Teller! Neben einem. Schritt für Schritt sind sie duldsame Wanderkollegen, die den Urlaub im Planwagen (und das ist kein Sprachbild) mehr als nur abrunden. In der Uckermark sind diese Langohren nicht leicht zu finden, aber wer wirklich was Besonderes erleben will, inkl. lukullischer Leckereien, der kommt voll auf seine Kosten. Und wird noch lange danach davon schwärmen.

Dieses kleine Büchlein hat es faustdick hinter den Umschlagseiten. Komplette Touren, Restauranttipps, Wegweiser zu abgelegenen Hofläden … Brandenburg putzt sich immer mehr heraus. Vorbei die Zeiten, in denen Rainald Grebe Lied „Brandenburg“ hämische Zustimmung fand. Und es biete mehr als nur die Spreewaldgurke. Auf dem Forellenhof Nassenheide nördlich von Oranienburg bekommt der Spruch „Frisch auf den Tisch“ eine ganz andere Dimension. Angel in Wasser halten, etwas Geduld und schon landet der Fang auf dem Teller.

Wer den Fläming nur von der Autobahnraststätte kennt, der sollte das Bilderbuchdorf Blankensee besuchen. Schloss, Café, zwei Seen, nur ein paar Straßen und nur 600 Einwohner. Oder kurz gesagt: Ruhe! So viel Ruhe, dass man das Knurren im Magen hören kann. Und es gibt auch die passende Medizin gegen dieses lärmende Bauchkonzert.

Immer tiefer taucht man in das Bundesland Brandenburg ein ohne dabei das Links und Rechts der Strecke außeracht zu lassen. Ein Reiseband, der in Herz, ins Hirn und durch den Magen geht.

Die Grunewald-Gefährten

Es gehört nicht viel Geschichtsinteresse dazu einen ausgedehnten Spaziergang durch den Berliner Stadtteil Grunewald zu machen. Und dennoch kommt man nicht umhin hier mit jedem Schritt Geschichte zu atmen. Vorbei an den Villen eleganter Diven, gefeierter Bühnenstars bis hin zu … ja meist sind es sogar dieselben Häuser … den machtgierigen Nazigrößen, die Deutschland in den Abgrund trieben.

Hier wohnte wer es sich leisten konnte. Hier wurde Politik für den Fortschritt gemacht. Hier säte man humanes Allgemeingut. Und hier formierte sich auch Widerstand gegen die, die das alles mit ihren Stiefeln traten, mit stolz geschwellter ordenbehangener Brust das Schwärzeste aus sich herauskehrten.

Cornelius Bormann nimmt sich derer an, die humanitäre Grundgedanken nicht nur als Plakat vor sich hertrugen, sondern im Herzen mehr als nur eine Ecke frei räumten. Die Namen sind teils bis heute wohlklingend. Von Dohnányi, Bonhoeffer, Delbrück, Leibholz. Sie drückten gemeinsam die Schulbank. Spielten Tennis. Verliebten sich, heirateten mitunter. Und das in einer Zeit, in der Deutschland seine Söhne in den Krieg trieb, im Anschluss die Korken knallen und gleichzeitig die soziale Verantwortung des Staates schleifen ließ. Dann kamen die marschierenden Stiefel. Ganz langsam, doch unaufhörlich brachen Hass und Perfidität über das Land herein. Und die Idylle des Grunewald wich dem Braun des Kanonendonners.

„Freunde im Widerstand gegen Hitler“ lautet der Untertitel dieses Buches. Es räumt auf mit dem Vorurteil, das, wer mit dem goldenen Löffel im Mund geboren eher bereit ist sich zu arrangieren als aktiv gegen Missstände vorzugehen. Fünf Menschen, fünf Kämpfer portraitiert Cornelius Bormann. Vier bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Vor allem die Detailtiefe macht dieses Buch zu einem Juwel in der schier endlosen Reihe von Biographien über Widerstandskämpfer der Nazizeit. Mit diesem Wissen im Gepäck wird jeder weitere Spaziergang durch den Kiez zu einer Entdeckungsreise auf bekannten Pfaden.

Immer wieder stößt Cornelius Bormann Türen auf, die lange verschlossen waren. Doch es bleibt nicht beim Schlüsselloch durch das man schaut. Tiefer und tiefer taucht man in eine Welt ein, deren Antrieb nicht weiter als Gerechtigkeit war. Aber eben auch eine Welt voller Zweifel und Angst. Dass diese Angst nicht unterging, ist bis heute ein Vermächtnis, das es zu bewahren gilt. Und wer immer noch Helden braucht, um aufzustehen … bitte sehr! Hier sind fünf Menschen, frei von politischer Verblendung die es wert sind sich ihre Ideen anzueignen.

Die grässliche Bescherung in der Via Merulana

Jeder außergewöhnliche Krimi braucht einen außergewöhnlichen Ermittler. Und Francesco Ingravallo ist wahrhaft ein eigenartiger Kauz. Jung, ein wenig untersetzt, und langsam. In allem, seine Bewegungen, seine Gedankengänge, sein Habitus. Doch hinter der behäbigen Fassade haust ein wacher Geist. Und was für einer?!

In der Via Merulana 219 war er schon einmal. Er ermittelte. Da lernte er auch Liliana Balducci kennen. Nun ist er wieder hier. Bei Signora Menegazzi wurde eingebrochen. Es fehlen allerhand Juwelen. Und bald schon ist er noch einmla in der Via Merulana, wieder in Nummer 219. Auch dieses Mal trifft er auf Signora Liliana. Allerdings ist von ihrem Liebreiz nichts mehr übrig. Mit durchtrennter Kehle liegt sie da. Auch dieses Mal wurden Juwelen geraubt. Und es gibt Zeugen, die den Mörder –für die Beteiligten steht schon fest, wer der Mörder war – die den Täter beschreiben können. Für Ingravallo ist noch gar nichts klar.

Hier ist mehr Gold als Dreck – das hört man häufiger, wenn von der Via Merulana 219, dem Goldpalast die Rede ist. Einige Mieter haben einfach keine finanziellen Sorgen. Andere hingegen schon. Und zwischen drin der Doktor Ingravallo.

Er kennt sich mittlerweile ganz gut aus in dem Viertel, in dem Haus. Und mit einem verlorenen Ticket hat er dieses Mal sogar eine erste Spur. Doch so richtig vorangehen soll es in diesem Fall nicht. Wie in einem Labyrinth irrt der Ermittler anfangs durch das Dickicht von Vermutungen, redseligen Mäulern und der Tatsache, dass hier ein Mensch ermordet wurde.

Das Ganze spielt im März 1927 – Autor Carlo Emilio Gadda hat derart viele Hinweise gegeben, dass Krimiliebhaber sich heute noch ein genaues Bild der Vorgänge nachzeichnen können. Doch Carlo Emilio Gadda lässt die Klarheit der Fakten bei der Suche nach dem Täter, den Tätern (?) in den Hintergrund treten. Sein Ermittler Francesco Ingravallo ist mal schonungslos direkt – wenn er über Frauen spricht – mal fast schon ermüdend, wenn er seinen Gedankengängen alle Freiheiten lässt.

„Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ ist ein Buch, das ab der ersten Seite den Leser verblüfft. Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus treiben sich einander voreinander her. Neid und Missgunst, Liebe und Verachtung, Willkür und Kalkül sind die Zutaten eines üppigen Mahls. Leicht verdaulich sieht anders aus. Und dennoch frisst man sich durch die Seiten, um endlich ein wenig Licht zu erhaschen. Immer wieder schupst Gadda den Leser in die Seitenstraßen, um ihn im Handumdrehen wieder auf die breiten Avenuen zurückzuholen.

Rom abseits der Pfade

Es gibt Orte, die hat in binnen weniger Stunden durchlaufen und man hat alles gesehen. Dann tauchen Orte vor dem geistigen Auge auf, bei denen man weiß, dass es schon ein paar Tage braucht, um sie vollends erkunden zu können. Und dann gibt es Rom. Die Ewige Stadt (was kein Marketing-Scoop übereifriger Strategen ist, sondern der Wahrheit entspricht). Selbst, wenn man jahrelang in der Stadt lebt, wird man immer wieder etwas entdecken, das man noch nie zuvor gesehen hat. Auch wenn das so manchem Veranstalter von geführten Touren nicht ins Werbekonzept passt.

Elisabetta de Luca hat in der Abseits-Der-Pfade-Reihe schon mit ihrem Napoli-Band (ihrer Geburtsstadt) bewiesen, dass ihre Abstecher in kleine Gassen zum Erfolg führen. Ihre Anekdoten sind unterhaltsame Wegbegleiter. Ihre Tipps treffen stets ins Herz des Besuchers.

Und nun Rom! Eine riesige Stadt, die Historie nicht einfach nur abbildet, sondern sie tagein tagaus lebt. Es ist das sprichwörtliche Paradies auf Erden. So nennt die Autorin auch ihr Kapitel über die giardini di Roma, die Gärten Roms.

Hat man genug von palazzi und mercati, von Bernini und Co., tut ein Tag in ruhigeren Gefilden gut, um den Akku wieder aufzuladen. Geht das überhaupt? Ruhe in Rom? Si, mit endlos vielen I möchte man hinausschreien. Die Gärten waren als Ruheoasen angelegt worden. Und über die Jahrtausende wurde dieses Ansinnen auch gepflegt. Wo eine Mauer, da oft ein Garten. Wo ein schönes Tor, einfach mal vorsichtig reinschauen und die Stille genießen. Das sind die Tipps, die man gern beherzigt, wenn die Autorin sie vorgibt. Wo man diese Mauern und Tore findet, das weiß sie auch ganz genau.

Und wenn nach so viel Erholung der Magen knurrt, macht sie einem auch gleich noch Appetit. Immer wieder lässt sie in ihre Erkundungstouren Rezepte (echt römisch!) einfließen. Appetitmacher im wahrsten Sinne des Wortes.

Der Mythos Rom wird in diesem Buch nicht entzaubert. Ganz im Gegenteil: Er wird mit jedem Umblättern gesteigert, oft sogar potenziert. Die Abbildungen – von Graffiti bis zu den elegantesten Passagen – machen Lust auf mehr. Mehr Rom. Mehr Geschichte. Mehr Urlaub. Und den steten Drang immer wieder zu kommen, um dem Irrglauben zu erliegen, die Stadt komplett erfassen zu können. Das ist unmöglich. Aber mit diesem Buch kommt man diesem Ziel einen ordentlichen Schritt näher…

Renée Sintenis – Berlin, Bohème und Ringelnatz

Wer über die Autobahn in Berlin einfährt, hat bestimmt schon mal die Plastik mit dem Berliner Bären wahrgenommen. Ab hier ist man nun endlich in Berlin! Doch wohl kaum jemand macht sich die Mühe darüber nachzudenken, wer diese Plastik geschaffen hat. Das ändert sich mit diesem Buch!

Denn die Künstlerin, die Mutter dieses Bären ist Renée Sintenis. Nie gehört? Nur für Kunstliebhaber, für Menschen, die sich mit Kunst der 20er Jahre und ihrem –betrieb beschäftigen, hat der Name Sintenis einen wohlklingenden Nachhall. Ein große Künstlerin, nicht, weil sie einen Meter achtzig groß war – nein, weil sie im Berlin der Weimarer Republik einen Namen hatte.

Sie half unter anderem Joachim Ringelnatz durch ihre Verbindungen zu überleben. Durch sie bekam er die Möglichkeit seine Werke – er malte auch – an den Manne oder die Frau zu bringen. Ihre ausdrucksstarken Skulpturen fanden reißenden Absatz. Der Galerist Alfred Flechtheim stellte sie aus.

Doch die Erfolgszeit ist begrenzt. Ihr Mann Emil Rudolf Weiß wurde früh schon als arisch eingestuft. Sintenis Vorfahren hatten jüdische Wurzeln. Weswegen sie aus der Akademie der Künste ausgeschlossen wird. Ihre Antwort auf die Aufforderung zeigt glasklar ihren freien Geist – wenn sie gehen soll, muss man sich ausschließen.

Die Galerie Flechtheim muss ebenfalls schließen. Alex Vömel übernimmt das gesamte Werk, unverdächtig, weil aktives Mitglied im Reigen des neuen Kunstbetriebes. Und seine Galerie ist bis heute die wichtigste Adresse für das Werk Renée Sinetnis’…

Silke Kettelhake rückt eine Künstlerin wieder in den Fokus der Kunstwelt, die bislang nur einem begrenzten Kreis zugängig war. Ihre Biographie über Renée Sintenis ergänzt die blue-note-Reihe um ein wertvolle Künstlerin, die es wieder zu entdecken gilt.

Hans Becker O5

Eine geradlinige Biographie sieht anders aus: Am Ende des 19. Jahrhunderts in eine österreichische Adelsfamilie (allerdings ohne Pomp und Glanz) an der adriatischen Küste geboren. Royalist. Jurist. Künstler. Journalist. Wissenschaftler. Propagandaleiter für die Vaterländische Front. Einer der Ersten, die ins KZ deportiert wurden, nachdem die Nazis Österreich annektierten. Wieder in Freiheit beharrlicher Kampf gegen die Besatzer. Diplomatendienst in Südamerika. Ermordung. In Vergessenheit geraten.

Wer das nächste Mal Wien besucht, schaut am Stephansdom mal ganz genau hin. Neben dem Eingangsportal sieht man noch das O5 in einen der Steine geritzt. Wenn man es nicht sucht, findet man es auch nicht. Die 5 in O5 steht für den fünften Buchstaben im Alphabet, das E. Zusammen OE, ein Symbol für die Befreiung Österreichs vom braunen Terror. Im Gegensatz zum Rest der Welt, der unter dem Hassregime litt, erinnert aber nichts mehr an Hans Becker, der eine Woche vor Heiligabend im Jahr 1948 durch die Waffe in der Hand eines ukrainischstämmigen Querulanten ums Leben kam.

Der Journalist Erhard Stackl macht sich in seinem Buch auf Spurensuche. Diese Suche führte ihn nicht nur in Archive und zur Familie Beckers, sondern bis ans gegenüberliegende Ende der Welt. Seine Recherchen zur Person Hans Beckers sind von einer langen Suche und ausführlichen Ergebnissen geprägt. Sie führen den Leser in eine Zeit über die schon viel geschrieben wurde. Die Leben vieler führender Köpfe sind wie ein offenes Buch. Dieses Buch ist eine wahre Fundgrube an Neuentdeckungen.

Die Widerstandgruppe O5 war ein Sammelbecken für den Widerstand gegen Hitler. Hier engagierten sich Konservative, Linke, Künstler, Intellektuelle beseelt vom Kampf für ein freies Österreich. Ihr wichtigster Kopf – Hans Becker – ereilte das Schicksal, das so manch einer teilen musste: Er geriet in Vergessenheit.

Doch das ist nun Vergangenheit. Dank der vierhundert Seiten starken Biographie fällt das Licht der Erinnerung nun auf den Mann, der im Untergrund, teils im Hintergrund, Strippen zog, Aktionen plante, niemals aufgab. Die Jahre im Konzentrationslager konnten ihn nicht brechen. Im Gegenteil: Hier knüpfte er Kontakte und fand die Kraft, die ihm in der Zeit in relativer Freiheit die Hoffnung niemals verlieren ließ.

Immer wieder stößt man in den Kapiteln auf Menschen, denen bis heute ihrer Strahlkraft nicht entrissen wurde. Doch es sind diejenigen, die im Schatten kämpften, die dieses Sachbuch zu einem Abenteuerbuch machen, das man erst beiseite legt, wenn die letzte Seite gelesen ist.

 

Verrisse

Wie kann man sich einem Thema heutzutage allgemeinverständlich nähern, dessen Wurzeln weit zurückliegen, das heute noch Früchte trägt – aber eben nur bei einer bestimmten Klientel? Es geht um die Klassik, die klassische Musik. Einem Großteil der Bevölkerung ein Buch mit sieben Siegeln. Der Rest ist entweder borniert und lässt nichts, was danach kam, gelten oder lässt sich von den Popmelodien von anno dazumal in der Werbung dazu hinreißen sich als gebildet, weil Klassikmusik hörend, zu bezeichnen. Denn damals … ja, damals war alles noch handgemacht, echte Musik eben. Aber bei Weitem nicht von jedermann geliebt oder gar geachtet. Vielmehr wurden Beethoven, Schönberg, Brahms, Bruckner, Verdi, Wagner, Mahler und Strauss, der Richard, geächtet. Und wenn nicht sie persönlich, dann ihre Werke.

Wenn am Samstagabend die Glotze stundenlang das dillethantische „Bühnentun“ durch ein einziges Talent-Highlight Vergessen gemacht wird, steigen die Zuschauerquoten und jeder Zuseher wird zum Kunstexperten, weil er der Expertenmeinung das „mega“ unreflektiert abnimmt und nachplappert. Doch wie war das denn vor zweihundert oder hundert Jahren? Ein Skandal wurde tatsächlich auf der Bühne dargeboten, von Künstlern erbracht, die wahrhaft Neues wagten. Der Beweggrund stand im Vordergrund. Nichts liegt Thomas Leibnitz, dem Autor dieses Buches, ferner als Skandale und Verrisse an den Bühnenrand zu treiben, um dem Treiben von damals einmal mehr Feuer zu geben. Die, die sich ohnehin für Klassik interessieren, liefert er faktenreich und ausführlich Hintergrundwissen. Diejenigen, die sich noch nie für Klassik interessierten, ködert er mit dem Titel – vielleicht kommt der Eine oder Andere doch noch zu dem Entschluss, dass Klassik doch nicht so „old school“ ist wie vermutet. Wer jedoch irgendwie noch zwischen „Ach nee“ und „irgendwie bin ich schon daran interessiert, aber…“ schwankt, kommt auf alle Fälle auf seine Kosten. Denn Thomas Leibnitz lässt nicht die Fachleute mit all ihrer Eloquenz und ihrem Fachwissen auftreten, sondern verleiht der zuweilen Schwere die gewisse Eleganz und Leichtigkeit, die der Klassik durchaus zu Eigen gemacht werden kann. Es müssen nicht immer blitzende Nippel sein, um Aufmerksamkeit zu erregen…

„Viel Geschrei, wenig Wolle“ – so wurde Verdis „Sizilianische Vesper“ verrissen. Öd und dürr und wahrhaft trostlos urteilte man über Brahms. Und Beethovens Spätwerk war in den Augen bzw. Ohren (was bei Beethoven nicht eines gewissen Witzes entbehrt) von Ernst Woldemar „abschreckend, geschmacklos und entsetzlich“. Ob es damals schon so was wie einen Shitstorm gegeben hat? Heute würden postwendend tausend Beethoven-Follower dem Kritiker die Klinge an den Hals drücken – verbal und anonym, natürlich.

„Verrisse“ lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Musik und Geschmack oft eine unheilige Allianz eingehen. Das war so, das ist so und wird es auch immer bleiben. Die Macht des Wortes ist bis heute ungebrochen. Und genau so sollte man auch dieses Buch annehmen. Acht Musiker – die eingangs Erwähnten – waren Geachtete und Geächtete in einer Person. Wer sich von harter Kritik treffen ließ, in dem zerbrach etwas. Wer unbeeindruckt die Kritiker machen ließ, musste sich nicht minder um den Verlust der Zuhörer sorgen. Was das Buch heute noch interessant und lesbar macht, ist die uneitle Sichtweise des Autors zu den teils heftigen Verrissen der damaligen Zeit. Starke Worte verlieren niemals ihre Wirkung.