Fannys Rache

Eines gleich vorweg: Wer das alles ernst nimmt, wird mit Schamesröte, Kopfschütteln und einer gehörigen Portion Wut den Roman beiseitelegen. Wer allerdings darin scharfsinnigen Humor, Wortwitz und Hintersinn erkennt, wird mit 100prozentiger Genugtuung den Tag verbringen.

Fanny Kajsman lebt in ihrem Stetl sehr schlecht als recht. Der Vater hat sie zur Schächterin ausgebildet. Vorsicht vor Frauen, die mit dem Messer umgehen könne, will man warnen. Nicht ohne Grund. Und wenn die Person – wie im Falle von Fanny – einen ausgeprägten Starrsinn in sich trägt, dann können diejenigen, die sich ihr den Weg stellen meinen zu müssen, nur noch beten.

Ihr Schwager hat sich aus dem Staub gemacht. Und Fannys Schwester sitzen lassen. Einfach so. Er ist nach Minsk abgehauen. Vom Mittelmeer in den kalten Norden – brrr, wegen des Klimas hat er bestimmt nicht diese Entscheidung getroffen. Wie gesagt, Fanny trägt ein ordentliche Portion Starrsinn und mittlerweile auch Wut in sich. Sie packt ihre sieben Sachen und macht sich auf den Schwager zu suchen. Nicht, um ihn zurückzuholen, sondern um Rache zu nehmen – Fannys Rache. Auf ihre eigene Art und Weise. Da wir uns im frühen 20. Jahrhundert befinden, gibt es nicht viele Möglichkeiten gen Minsk „zu reisen“. Linienflüge, feste Busverbindungen, per Anhalter etc. – das gab’s damals noch nicht. Und mit einem gigantischen Messer einfach mal so Grenzen überqueren – ha, das ging nur damals.

Unterwegs sammelt Fanny so allerlei Unrat auf. Einen stummen Fährmann – welch Symbolbild – und  die liebe Verwandtschaft. Denn im Russland des frühen 20. Jahrhunderts waren Juden über ganz Europa verteilt. Klar, dass man hier und da immer wieder auf Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen etc. trifft. Allesamt nicht gerade vorzeigbar. Günstlinge der Hölle, die geschickt ihre Fähigkeiten und ihre Chuzpe nutzten, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Fanny stapft beseelt von ihrem Vorhaben durch die Weite des russischen Reiches und nimmt keinerlei Rücksicht auf Verluste. Eine weibliche Heldin durch ein Land, das mit, um es vorsichtig auszudrücken, mehr als eine Handvoll Ressentiments gegenüber Juden hegt. Die resolute Art wie Fanny jedwedem Problem entgegentritt und mit dem riesigen Messer im Gepäck, lässt den Leser ein ums andere Mal vor Freude aufjaulen. Man selbst möchte ihr nicht begegnen, ihr bei ihren Begegnungen zuzuschauen, ist ein Fest. Manchmal tut es gut und ist es hilfreich einem Buch einen Stempel aufdrücken zu können. In diesem Fall ist das unmöglich. Das ganze Cover wäre dann voller Stempel. Großartig, witzig, böse, hintersinnig, brutal ehrlich, … die Rose und das Schwert auf dem Cover (keine Anlehnung an die sächsische Asterix-Ausgabe „De Rose und’s Schwärd“) sind mehr als schmückender Kaufanreiz. Wer „Fannys Rache“ nicht liest, dem entgeht eine wortgewaltige und intelligente Erfahrung, die die Gegenwart teils in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Huldrychs Ende

Das Wichtigste vorweg: Das hier ist Satire! Ein satirisches Buch über den Literaturbetrieb in München. Da könnte so manchem Frömmling die Oblate im Hals stecken bleiben. Und das ist auch gut so! Denn echte Satire darf alles!

Huldrich Librorius ist Verleger – der Name sagt es ja bereits. Schweizer und der unangefochtener König auf dem Markt. Gerade hat er seine 250. Filiale in Bayerns Landeshauptstadt eröffnet. Mit viel Tamtam, wie es sich gehört. Auf einem Schloss im Süden. Man grüßt sich höflich, hält Smalltalk, verspritzt ein bisschen Gift – verbal. Halt! Nicht nur verbal! Denn am nächsten Morgen ist der König tot. Der letzte Orangensaft war wohl mit etwas versetzt, das dem schwachen Herz Huldrychs nicht bekam.

Und schon springt die Getuschel-Maschinerie Münchens an. Die Esoterik-Buchladen-Besitzern Gundula Hexenstaller (wie gesagt, es handelt sich um Satire) sprintet zu ihrer Bank und will einen Kredit, um die nun besitzerlosen Immobilien zu erwerben. Hat sie etwa ein Motiv den Verlegerkönig zu beseitigen?

Caspar Kurt Caspar, auch dieser Name spricht Bände, zerfetzt sich dermaßen das Maul, dass die Charakterisierung am Beginn des Buches (die ihn als Arschloch UND geilen Kerl bezeichnet) nur als Punktlandung bezeichnet werden kann. Und zwischendrin – wir lesen ja nun mal einen Krimi – Hauptkommissar Lukas Lukaschonsky und Oberkommissarin Jana Vecera. Eine Wahnsinnsfrau, die hat Nerven … hieß einmal in einer Fernsehserie.

Bis man nach reichlich 150 Seiten weiß, wer dem Verleger so vitaminreich den Garaus gemacht hat, muss man in so manches schwarzes Loch schauen. Das geht, wenn man dieser Löcher als bitterböse schwarzhumorige Irrlichter begreift. Wer München kennt, wer die Literaturszene und ihr wirtschaftliches Beiwerk kennt, dem werden so manche Figuren vielleicht nicht ganz unbekannt vorkommen. Wer sie nicht kennt, lernt sie kennen. Versprochen! Lug und Trug sind die Geschwisterpaare dieses unheimlichen Krimis, der zu Tränen rührt. Es sind Tränen der Freude ob der Absurdität, die das Leben schreibt.

Noto

Noto sollte das Glück endgültig perfekt machen. Tat es auch. Doch die barocke Prachtstadt ist nicht dafür bekannt Endgültiges zu schaffen. Sie selbst fiel Ende des 17. Jahrhunderts einem verheerenden Erdbeben zum Opfer. Dank prall gefüllter Taschen wurde auf und in den Trümmern eine Stadt errichtet, deren barocke Pracht weltweit beispiellos ist. Die honigfarbene Stein und der kitschig-blaue Himmel sind die Basis für diese Sehnsucht.

So muss es auch Konrad und Adriano gegangen sein als sie schon nach kurzer Zeit beschlossen sich hier ein Häuschen zu kaufen. So unterschiedlich die beiden waren, so untrennbar waren sie als Paar. Waren. Denn Adriano ist tot. Seit einem Monat. Und Konrad reist nach Noto, um sich ihrer zu erinnern. Und nach dem Rechten zu sehen. Doch eigentlich wird es eine Reise, die unvergesslich wird. Eine Reise, die so manches auf den Kopf stellt. Eine Reise ins Ungewisse. Doch das weiß Konrad noch nicht.

Adriano der Lebemann und Konrad der Besonnene. Wenn Gegensätze sich wirklich anziehen, dann in diesem Fall. In Noto waren sie ein Paar. Es gab kein Ihn und Ihn, es gab nur Sie. Doch das ist alles Vergangenheit.

Konrad wird von einer Freundin begleitet, die in ihrer Unverblümtheit unweigerlich zur einzig wahren Medizin für ihn wird. Jack, der gemeinsame Hund von Adriano und Konrad, ist der Wirbelwind, der die melancholischen Lüfte der Erinnerung ein ums andere Mal durcheinanderwirbelt. Und Santi ist ein echtes Unikum. Einmal beschützt er Konrad, ein anderes Mal stürzt er ihn fast in den Abgrund. Eine echte Wundertüte, die aber genau das ist, was Konrad von Zeit zu Zeit aus seiner Trauer holt. Und je länger Konrad in Noto die Luft des Südens einatmet, die Erinnerungen an ihm vorüber paradieren, umso schmerzhafter wird ihm klar … das Paradies existiert nur in der Erinnerung.

Adriano Sack versteht es meisterhaft die Trauer mit Leichtigkeit zu umgarnen und die ihr anhängende Schwere zu nehmen. In Rückblenden läuft ein verschwommener Film in Endlosschleife, der Konrad immer wieder in ein Loch zieht, aus dem er sich kaum allein zu befreien vermag. Und das alles vor der umwerfenden Kulisse Notos. Wer noch nie hier war, lernt die einladenden Fassaden ebenso kennen wie die versteckten Aussichtspunkte der Stadt. Wenn es so sieht, hält man hier einen exzellent geschriebenen Roman und einen Reiseband in Einem in der Hand.

Groll

Vittorio Leonardi starb eines natürlichen Todes, sagt der Arzt, der ihn untersuchte und den Tod feststellte. Und darüber hinaus sein Freund seit Schultagen war. Auch gibt es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.

Jahre später sitzt seine Tochter Marina der Anwältin Penelope Spada gegenüber und spricht von ihrem Unwohlsein wegen des Todes ihres Vaters. Jahre später!

Ist schon seltsam. Da unterhalten sich zwei Frauen über den Todes des Vaters der Einen. Die Andere hört gewissenhaft zu und mittendrin fällt ihr urplötzlich der Name der Einen auf. L-E-O-N-A-R-D-I. Das war mal was! Fünf Jahre zuvor war Penelope Spada noch bei der Staatsanwaltschaft. Unter der Flut von Anzeigen stach ihr damals eine besonders hervor. Es ging um die Loge P2 und ihr illegales Schneeballsystem. Das wurde zerschlagen und ein entsprechendes Gesetz zur Vermeidung solcher Untriebe erlassen. Die Loge hatte (und hat?) weitreichende Verbindungen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Ermittlungen führten Spada auch zu dem Namen Leonardi. Vittorio Leonardi. Anerkannter Chirurg und ehemals Abgeordneter. In Spadas Kopf klingeln alle Alarmglocken.

Eigentlich müsste sie den fall ablehnen. Es gibt einfach keine Hinweise auf ein Verbrechen. Aber dieser Familienname – es ist ihre Nemesis.

Vittorio Leonardi starb also an einem Herzinfarkt. Fakt. Kurz zuvor wollte er sein Testament ändern lassen, dass auch seine Ex-Frau, Marinas Mutter, berücksichtigen sollte. Marina selbst hat – auf dem Papier – ihren Pflichtteil bekommen. Doch sie vermutet, nein, sie weiß!, dass ihr eigentlich mehr zusteht. Und die Witwe des Doktors, ist nur schwer aufzufinden. Penelope Spada steht vor einem kniffligen Fall, wenn es denn überhaupt einen Fall gibt.

Gianrico Carofiglio führt die aufgewühlte Situation – Penelope Spada hat wirklich allen Grund aufgewühlt zu sein – mit weisen Worten und bedachtem Tun in ruhige Gewässer. Jede Ermittlung, jedes Gespräch, jeder Hinweis sind winzige Teile eines unüberschaubaren Puzzles, das Penelope Spada zusammensetzen muss. Gern würde sie zuerst die Ecken legen, dann den Rahmen zusammenfügen und sich dann Stück für Stück dem Mittelteil widmen. Doch binnen Bruchteilen von Sekunden befindet sie sich in einem Labyrinth aus Schweigen und Intrigen. Und wenn sie sich nicht allzu ungeschickt anstellt … wer weiß … vielleicht verschwinden dann auch die kreischenden Geister der Vergangenheit?!

Chronik von Auerbachs Keller

Als Gast in Leipzig, als literaturbegeisterter Gast in Leipzig und vor allem als hungriger Gast gibt es eine Adresse, um die man einfach nicht herumkommt: Auerbachs Keller. Hier ist sogar schon der Teufel „eingeritten“. Olle Goethe – also eigentlich der junge Goethe – hat ihn eindrucksvoll und nachhaltig beschrieben.

Wer sich am Marktplatz sattgesehen hat – und das dauert ein Weilchen – biegt irgendwann automatisch in die Mädlerpassage (um es gleich vorweg zu nehmen: Auch dieser Passage widmet sich der Autor dieses Buches.) ein. Und schon säumen Links und Rechts des Weges zwei Figurengruppen den Weg. Raufbolde auf der Einen, Faust und Mephisto auf der Anderen. Geschwungene Treppen führen hinunter in den Keller, in Auerbachs Keller. An dieser Stelle gibt es seit über einem halben Jahrtausend – unter dem macht man es nicht! – eine Einkehrmöglichkeit, um die Kehle zu befeuchten.

Heute ist es ein straff durchorganisiertes Restaurant, in dem die Kellner rekordverdächtig die Speisen an die Tische bringen und der Gast einen beweglichen Hals braucht. Denn die Wände vom Auerbachs Keller sind reich verziert, oft bis meist mit Motiven aus Goethes Faust. Wer für seine Abschlussprüfung das Thema Faust erhalten hat, und sich speziell die Szenen im Auerbachs Keller vorbereiten will, der braucht eigentlich gar nicht mehr ins Buch zu schauen – hier können die Wände rerden…

Für viele ist ein Besuch hier einer von unzähligen Höhepunkten in der Messestadt. Wer also zur Messezeit, etwas der Buchmesse im Frühjahr, hier speisen möchte, muss vorbestellen, oder kommt kurz nachdem die Türen geöffnet werden.

Bernd Weinkauf bekommt sicherlich immer einen Platz im Lokal. Seine Chronik des Auerbachs Keller ist das Nonplusultra unter den Lokalreiseführern der Messestadt. Selbst Leipziger staunen über die Fülle an Informationen, die man über ein einziges Lokal zusammentragen kann. Die unzähligen Abbildungen, die kundigen Texte, die üppige Aufmachung sind nur drei Gründe hier – ob hungrig oder nicht – hier die Erkundung Leipzig kurz zu unterbrechen oder ausklingen zu lassen.

Camanchaca

Die Wüste ist öde. Für einen jungen Mann, dessen Zähne ihn viel älter erscheinen lassen, dessen Gewicht zum Spott von Anderen einlädt, dessen Familie zerbrochen ist, ist die Wüste der ganz normale Alltag. Sein Leben ist öde. Er wäre gern Sportreporter geworden. Fußball. Im Stadion sein, mit Leidenschaft das Goooooooooooooooooooooooooool verkünden.

Doch das Leben war in seinem kurzen Leben schon verdammt hart zu ihm. Die Eltern getrennt, weil Papa eine Neue hat. Mama und ihre chronischen Geldsorgen. Die Einsamkeit.

Nun sitzt er im Auto zusammen mit Papa, Nancy, seiner neuen Frau und seinem Halbbruder, der die ganze zeit nur am Gameboy zockt. Gen Peru geht es. Zum Einkaufen und zum Zahnarzt. Er lässt alles über sich ergehen. Nur die Musik auf seinem mp3-Palyer lässt ihn ein wenig träumen. Er erinnert sich an die Besucher bei Opa und Oma. An die Träume. An das Champions-League-Finale 1999, Manchester United gegen die Bayern. Wie oft hat er – nicht nur in Gedanken – dieses denkwürdige Spiel als Reporter vom Sofa aus noch einmal angeschaut und kommentiert. Der sicher geglaubte Siege der Bayern, der in der Nachspielzeit so effizient wie brutal zermalmt wurde. Fast so wie sein Leben…

Diego Zúñiga lässt die wahren Hintergründe all dessen im Nebel des Vergessens verschwinden. Niemand hat einen Namen, außer Onkel Neno. Der ist tot. Überfahren. Vom Vater des Jungen, der so still und teilnahmslos die Wüste durchquert. Er darf die Einkaufsliste, die ihn seine Mutter gegeben hat nicht vergessen. Doch dabei will er so gern alles Mögliche vergessen. Oder Antworten bekommen. Ein anderes Leben führen.

Für Touristen ist die Reise von Chile nach Peru unter Garantie ein Abenteuer, das sie nie vergessen werden. Für den Jungen ist es lästige Pflichterfüllung. Er braucht keine Zeit, um sich zu erinnern. Die Gedanken um den Tod des Onkels, die Trennung der Eltern sind allzeit präsent. Es wird kein happy end geben. Wie sollte das auch aussehen?

Die Zauberkugel

Was Märchen erzählen, ist wahr! Mit dieser Einstellung wird dieses Buch zu einer Reise zu den Sternen. Die Sterne strahlen über Algerien, über das Volk der Kabylen, einem Berbervolk. Was weiß man als Allgemeinreisender, vielleicht als Vielleser schon über die Menschen, die im Nordosten Algeriens leben? Vielleicht fallen einigen wenigen ausgewählten Lesern die Namen Jean und Fadhma Amrouche ein. Nun kommt Tao Amrouche hinzu. Sie ist die Schwester von Jean und die Tochter von Fadhma.

Ihr allein fällt das Lob zu die Geschichten der Ahnen gesammelt und zu Papier gebracht zu haben. Natürlich ist es nicht wahr, dass der Geistervogel die schöne und tüchtige Tochter einer Familie auf ihren Schwingen ins Paradies holt. Aber mal ehrlich: Ein Märchen ohne Phantasie ist doch nichts als ein trüber Abklatsch der Realität. Bleiben wir doch gleich bei dem Gewittervogel. Die Tochter, Yamina, begleitet den Gewittervogel gern. Er wird sie für immer beschützen, all ihre Wünsche in Erfüllung gehen lassen. Und hier kommt das alle Märchen der Welt vereinende Element ins Spiel. Er stellt eine Bedingung. Sie wird niemals sein Gesicht sehen. Und solange sie nichts unternimmt ihren Mann, den Gewittervogel, anzuschauen, bleibt alles so wie es ist – nämlich paradiesisch perfekt. Doch nach elysischen Jahren wächst in ihr der Drang ihre Familie wiederzusehen. Wunsch erlaubt. Dreißig Tage wird sie im Schoß der Familie weilen würfen. Inzwischen ist Yamina zu einer bildhübschen jungen Frau gereift. Als der Abschied naht, lässt sie sich von ihren Geschwistern überreden eine Kerze mitzunehmen. Im Kerzenlicht soll sie das Gesicht ihres Beschützers erkennen. Der Plan misslingt. Vorbei das schöne Leben. Vorbei der Beschützer. Und das irdische Leben hält auch nur noch Enttäuschungen für sie parat. Das ist nur eine Geschichte in diesem Sammelband.

Verlagen wie dem Kinzelbach-Verlag ist es zu verdanken, dass fremde Kulturen nicht länger im Schatten verborgen bleiben oder aus irgendwelchen Gründen derart verfremdet werden, dass ihre Ursprünge kaum noch zu erkennen sind. Dieses Buch lesen die Großen den Kleinen vor, und beide empfinden den gleichen Spaß dabei. Besser geht’s nicht!

Marcitero

Wer bisher Sizilien als Land seiner träume erachtete, der war noch nie in Marcitero. Marcio – verdorben, faulend – schwingt im Namen mit. Und eigentlich heißt das Dorf mit den nicht einmal einhundert Einwohner anders. Alle von außerhalb nennen es so. Und die Einwohner von Marcitero haben es aus Trotz einfach übernommen.

Auch trägt hier niemand seinen eingetragenen Namen. Alle rufen sich nur bei Spitznamen. Und die sind weiß Gott nicht freundlich gemeint. Fast die Hälfte der Einwohner trägt die Spuren der Raufereien wie eine Monstranz vor sich her. Die Obrigkeit traut sich nicht ins Dorf. Und Nordkoreas Diktator würde man hier mit allen Ehren begrüßen. Frauen sind … na ja, was soll man sagen … Objekte. Mehr nicht. Und wer abzuhauen versucht, der bekommt den starken Arm der Starrköpfe zu spüren. Wer aus der Stadt kommt, ist ein Intellektueller. Und solche Leute mag man hier nicht. Straßen fegen? Bene, aber danach wird sie sofort wieder so richtig eingesaut. Der Nachbar hat einen neuen Zaun – rumms, eingetreten. In Marcitero hält der gute Ton ein ausgiebiges Mittagsschläfchen.

Ausgerechnet hierhin hat es den Erzähler verschlagen. Er bleibt trotzdem. Alles an diesem Ort ist abstoßend. Selbst der Wein. Der schmeckt wie Essig. So mag man hier seinen vino! Nino Vetri setzt diesem fiktiven Ort ein Denkmal für die Ewigkeit. Die Landschaft ist karg, aber ansehnlich. Wenn die Bewohner von Marcitero das ändern könnten, sie täten es. Garantiert! Warum also bleibt man an einem Ort, der so gar nichts Freundliches an sich und schon gar nicht in sich hat? Selbst der Erzähler weiß es nicht.

Immer tiefer taucht er in diese seltsame Gesellschaft ein. Sitzt mit den Einheimischen am Tisch, trinkt den ungenießbaren Wein – würde er Bier trinken, würde man ihm das Gesicht derart verzerren, dass man meint er stamme von hier. Er nimmt an einer Beerdigung teil, wo es auch nicht gerade respektvoll zugeht.

„Marcitero“ als Sinnbild für die sizilianische Kultur zu nehmen, wäre zu viel des Guten. Das überlässt man lieber Michele Corleone in „Der Pate III“. Doch so weit ist man hier gar nicht von der Wahrheit entfernt. Man liebt und hasst seine Heimat gleichermaßen. Den Nachbarn muss man hassen. Das war schon immer so. Das Dorf dezimiert sich selbst. Das ist gut so in den Augen der Einwohner von Marcitero. Andererseits – mit wem soll man sich dann am Abend besaufen und die Fäuste fliegen lassen? Ach, es ist ein Jammer, dass Marcitero fiktiv ist. Oder doch nicht?

Die Streithörnchen

Das Jahr neigt sich dem Ende. Für viele wird es Zeit sich zu verkriechen und den verdienten Winterschlaf anzutreten. Doch davor hat Mutter Natur das Hamstern, das Vorräteanlegen gesetzt. Doch Lenni, das Eichhörnchen, hat es (wieder einmal) verbummelt sich um die „Einkäufe“ zu kümmern. Und nun ist der Wald abgeerntet, und seine Vorratsschränke sind leer. Ein einziger Zapfen ist noch da. Da drüben, am Baum. Den muss Lenni haben.

Doch auch Bin-Bereit-Finn hat den Zapfen mit den letzten Nüssen des Jahres entdeckt. Sein Speicher ist voll. Dennoch will er unbedingt diesen letzten Zapfen, den mit den letzten Nüssen des Jahres, haben. Und so beginnt eine erbitterte Hatz nach dem überlebenswichtigen Genussmittel. Doch oh je! Der Zapfen fällt und fällt. Immer tiefer, stupst den Bären an. Fällt in eine Schlucht, ins Wasser. Immer hinten dran Lenni und Finn.

Damit nicht genug. Ein Vogel greift sich frech und gierig das Objekt der Begierde. Taucht einfach aus dem Nichts, von Oben auf und schwupps ist der Zapfen weg. Auf Nimmerwiedersehen!

Patschnass müssen sich die beiden Eichhörnchen ihre Niederlage eingestehen. Lachend gibt es für die beiden nur eine logische Schlussfolgerung: Teilen ist besser als streiten. Und lachen ist viel wichtiger…

Sonette

Ein Sonett ist ein Gedicht mit vierzehn Zeilen und einem besonderen Versmaß. So weit die Theorie. So weit so gut. Aber warum ist dann jedermann danach verrückt? Ein Sonett geschenkt zu bekommen, ist … nein, nicht einfach nur „so nett“ … ein ganz besonderes Geschenk. Vierzehn Zeilen, in Reimform, da muss man sich beim Schreiben konzentrieren können.

Vittorio Alfieri gilt bis heute, nicht nur in Italien, als Meister des Sonetts. Wild, unbändig, gefühlvoll, empathisch, beseelend – die Liste der Attribute seiner Sonette ist endlos. Und jedes davon trifft auf mindestens eines seiner Sonette zu. Alfieri lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Wortwahl ist also nicht beliebig, umso mehr Bedeutung kommt da einer wohlklingenden Übersetzung zu. Christoph Ferber und Georges Güntert haben für diese elegante Ausgabe die ganze Pracht der italienischen und deutschen Sprache ausgenutzt.

Die zweisprachige Ausgabe glänzt zum einen wegen der üppigen Wucht des Originals und der unverwechselbaren Übersetzung der mitreißenden Vierzehnzeiler. Man möchte sie laut vor sich hertragen, diese Zeilen. Warum nicht! Und warum nicht gleich zweisprachig?! Nur Mut! Was soll schon passieren?! Dass man jemanden trifft, den die Worte treffen? Das kann doch nichts Schlechtes sein!

Sturm und Drang, damit wurde man zu Schulzeiten im Deutschunterricht gequält. Statt immer nur Definitionen auswendig lernen zu müssen, um in der Prüfung den Pflichtteil exzellent zu bestehen, liest man heute Alfieris Texte. Das Format des Büchleins erlaubt einen steten Begleiter, der allzeit bereit einen mehr als nur „lockeren Spruch zur Verfügung stellt“. Und wenn man dann noch – dank der abschließenden Anmerkungen am Ende des Buches – ein paar biographische Daten zum Verfasser mitteilen kann, ist der Tag quasi schon gerettet.