Camanchaca

Die Wüste ist öde. Für einen jungen Mann, dessen Zähne ihn viel älter erscheinen lassen, dessen Gewicht zum Spott von Anderen einlädt, dessen Familie zerbrochen ist, ist die Wüste der ganz normale Alltag. Sein Leben ist öde. Er wäre gern Sportreporter geworden. Fußball. Im Stadion sein, mit Leidenschaft das Goooooooooooooooooooooooooool verkünden.

Doch das Leben war in seinem kurzen Leben schon verdammt hart zu ihm. Die Eltern getrennt, weil Papa eine Neue hat. Mama und ihre chronischen Geldsorgen. Die Einsamkeit.

Nun sitzt er im Auto zusammen mit Papa, Nancy, seiner neuen Frau und seinem Halbbruder, der die ganze zeit nur am Gameboy zockt. Gen Peru geht es. Zum Einkaufen und zum Zahnarzt. Er lässt alles über sich ergehen. Nur die Musik auf seinem mp3-Palyer lässt ihn ein wenig träumen. Er erinnert sich an die Besucher bei Opa und Oma. An die Träume. An das Champions-League-Finale 1999, Manchester United gegen die Bayern. Wie oft hat er – nicht nur in Gedanken – dieses denkwürdige Spiel als Reporter vom Sofa aus noch einmal angeschaut und kommentiert. Der sicher geglaubte Siege der Bayern, der in der Nachspielzeit so effizient wie brutal zermalmt wurde. Fast so wie sein Leben…

Diego Zúñiga lässt die wahren Hintergründe all dessen im Nebel des Vergessens verschwinden. Niemand hat einen Namen, außer Onkel Neno. Der ist tot. Überfahren. Vom Vater des Jungen, der so still und teilnahmslos die Wüste durchquert. Er darf die Einkaufsliste, die ihn seine Mutter gegeben hat nicht vergessen. Doch dabei will er so gern alles Mögliche vergessen. Oder Antworten bekommen. Ein anderes Leben führen.

Für Touristen ist die Reise von Chile nach Peru unter Garantie ein Abenteuer, das sie nie vergessen werden. Für den Jungen ist es lästige Pflichterfüllung. Er braucht keine Zeit, um sich zu erinnern. Die Gedanken um den Tod des Onkels, die Trennung der Eltern sind allzeit präsent. Es wird kein happy end geben. Wie sollte das auch aussehen?

Die Zauberkugel

Was Märchen erzählen, ist wahr! Mit dieser Einstellung wird dieses Buch zu einer Reise zu den Sternen. Die Sterne strahlen über Algerien, über das Volk der Kabylen, einem Berbervolk. Was weiß man als Allgemeinreisender, vielleicht als Vielleser schon über die Menschen, die im Nordosten Algeriens leben? Vielleicht fallen einigen wenigen ausgewählten Lesern die Namen Jean und Fadhma Amrouche ein. Nun kommt Tao Amrouche hinzu. Sie ist die Schwester von Jean und die Tochter von Fadhma.

Ihr allein fällt das Lob zu die Geschichten der Ahnen gesammelt und zu Papier gebracht zu haben. Natürlich ist es nicht wahr, dass der Geistervogel die schöne und tüchtige Tochter einer Familie auf ihren Schwingen ins Paradies holt. Aber mal ehrlich: Ein Märchen ohne Phantasie ist doch nichts als ein trüber Abklatsch der Realität. Bleiben wir doch gleich bei dem Gewittervogel. Die Tochter, Yamina, begleitet den Gewittervogel gern. Er wird sie für immer beschützen, all ihre Wünsche in Erfüllung gehen lassen. Und hier kommt das alle Märchen der Welt vereinende Element ins Spiel. Er stellt eine Bedingung. Sie wird niemals sein Gesicht sehen. Und solange sie nichts unternimmt ihren Mann, den Gewittervogel, anzuschauen, bleibt alles so wie es ist – nämlich paradiesisch perfekt. Doch nach elysischen Jahren wächst in ihr der Drang ihre Familie wiederzusehen. Wunsch erlaubt. Dreißig Tage wird sie im Schoß der Familie weilen würfen. Inzwischen ist Yamina zu einer bildhübschen jungen Frau gereift. Als der Abschied naht, lässt sie sich von ihren Geschwistern überreden eine Kerze mitzunehmen. Im Kerzenlicht soll sie das Gesicht ihres Beschützers erkennen. Der Plan misslingt. Vorbei das schöne Leben. Vorbei der Beschützer. Und das irdische Leben hält auch nur noch Enttäuschungen für sie parat. Das ist nur eine Geschichte in diesem Sammelband.

Verlagen wie dem Kinzelbach-Verlag ist es zu verdanken, dass fremde Kulturen nicht länger im Schatten verborgen bleiben oder aus irgendwelchen Gründen derart verfremdet werden, dass ihre Ursprünge kaum noch zu erkennen sind. Dieses Buch lesen die Großen den Kleinen vor, und beide empfinden den gleichen Spaß dabei. Besser geht’s nicht!

Marcitero

Wer bisher Sizilien als Land seiner träume erachtete, der war noch nie in Marcitero. Marcio – verdorben, faulend – schwingt im Namen mit. Und eigentlich heißt das Dorf mit den nicht einmal einhundert Einwohner anders. Alle von außerhalb nennen es so. Und die Einwohner von Marcitero haben es aus Trotz einfach übernommen.

Auch trägt hier niemand seinen eingetragenen Namen. Alle rufen sich nur bei Spitznamen. Und die sind weiß Gott nicht freundlich gemeint. Fast die Hälfte der Einwohner trägt die Spuren der Raufereien wie eine Monstranz vor sich her. Die Obrigkeit traut sich nicht ins Dorf. Und Nordkoreas Diktator würde man hier mit allen Ehren begrüßen. Frauen sind … na ja, was soll man sagen … Objekte. Mehr nicht. Und wer abzuhauen versucht, der bekommt den starken Arm der Starrköpfe zu spüren. Wer aus der Stadt kommt, ist ein Intellektueller. Und solche Leute mag man hier nicht. Straßen fegen? Bene, aber danach wird sie sofort wieder so richtig eingesaut. Der Nachbar hat einen neuen Zaun – rumms, eingetreten. In Marcitero hält der gute Ton ein ausgiebiges Mittagsschläfchen.

Ausgerechnet hierhin hat es den Erzähler verschlagen. Er bleibt trotzdem. Alles an diesem Ort ist abstoßend. Selbst der Wein. Der schmeckt wie Essig. So mag man hier seinen vino! Nino Vetri setzt diesem fiktiven Ort ein Denkmal für die Ewigkeit. Die Landschaft ist karg, aber ansehnlich. Wenn die Bewohner von Marcitero das ändern könnten, sie täten es. Garantiert! Warum also bleibt man an einem Ort, der so gar nichts Freundliches an sich und schon gar nicht in sich hat? Selbst der Erzähler weiß es nicht.

Immer tiefer taucht er in diese seltsame Gesellschaft ein. Sitzt mit den Einheimischen am Tisch, trinkt den ungenießbaren Wein – würde er Bier trinken, würde man ihm das Gesicht derart verzerren, dass man meint er stamme von hier. Er nimmt an einer Beerdigung teil, wo es auch nicht gerade respektvoll zugeht.

„Marcitero“ als Sinnbild für die sizilianische Kultur zu nehmen, wäre zu viel des Guten. Das überlässt man lieber Michele Corleone in „Der Pate III“. Doch so weit ist man hier gar nicht von der Wahrheit entfernt. Man liebt und hasst seine Heimat gleichermaßen. Den Nachbarn muss man hassen. Das war schon immer so. Das Dorf dezimiert sich selbst. Das ist gut so in den Augen der Einwohner von Marcitero. Andererseits – mit wem soll man sich dann am Abend besaufen und die Fäuste fliegen lassen? Ach, es ist ein Jammer, dass Marcitero fiktiv ist. Oder doch nicht?

Die Streithörnchen

Das Jahr neigt sich dem Ende. Für viele wird es Zeit sich zu verkriechen und den verdienten Winterschlaf anzutreten. Doch davor hat Mutter Natur das Hamstern, das Vorräteanlegen gesetzt. Doch Lenni, das Eichhörnchen, hat es (wieder einmal) verbummelt sich um die „Einkäufe“ zu kümmern. Und nun ist der Wald abgeerntet, und seine Vorratsschränke sind leer. Ein einziger Zapfen ist noch da. Da drüben, am Baum. Den muss Lenni haben.

Doch auch Bin-Bereit-Finn hat den Zapfen mit den letzten Nüssen des Jahres entdeckt. Sein Speicher ist voll. Dennoch will er unbedingt diesen letzten Zapfen, den mit den letzten Nüssen des Jahres, haben. Und so beginnt eine erbitterte Hatz nach dem überlebenswichtigen Genussmittel. Doch oh je! Der Zapfen fällt und fällt. Immer tiefer, stupst den Bären an. Fällt in eine Schlucht, ins Wasser. Immer hinten dran Lenni und Finn.

Damit nicht genug. Ein Vogel greift sich frech und gierig das Objekt der Begierde. Taucht einfach aus dem Nichts, von Oben auf und schwupps ist der Zapfen weg. Auf Nimmerwiedersehen!

Patschnass müssen sich die beiden Eichhörnchen ihre Niederlage eingestehen. Lachend gibt es für die beiden nur eine logische Schlussfolgerung: Teilen ist besser als streiten. Und lachen ist viel wichtiger…

Sonette

Ein Sonett ist ein Gedicht mit vierzehn Zeilen und einem besonderen Versmaß. So weit die Theorie. So weit so gut. Aber warum ist dann jedermann danach verrückt? Ein Sonett geschenkt zu bekommen, ist … nein, nicht einfach nur „so nett“ … ein ganz besonderes Geschenk. Vierzehn Zeilen, in Reimform, da muss man sich beim Schreiben konzentrieren können.

Vittorio Alfieri gilt bis heute, nicht nur in Italien, als Meister des Sonetts. Wild, unbändig, gefühlvoll, empathisch, beseelend – die Liste der Attribute seiner Sonette ist endlos. Und jedes davon trifft auf mindestens eines seiner Sonette zu. Alfieri lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Wortwahl ist also nicht beliebig, umso mehr Bedeutung kommt da einer wohlklingenden Übersetzung zu. Christoph Ferber und Georges Güntert haben für diese elegante Ausgabe die ganze Pracht der italienischen und deutschen Sprache ausgenutzt.

Die zweisprachige Ausgabe glänzt zum einen wegen der üppigen Wucht des Originals und der unverwechselbaren Übersetzung der mitreißenden Vierzehnzeiler. Man möchte sie laut vor sich hertragen, diese Zeilen. Warum nicht! Und warum nicht gleich zweisprachig?! Nur Mut! Was soll schon passieren?! Dass man jemanden trifft, den die Worte treffen? Das kann doch nichts Schlechtes sein!

Sturm und Drang, damit wurde man zu Schulzeiten im Deutschunterricht gequält. Statt immer nur Definitionen auswendig lernen zu müssen, um in der Prüfung den Pflichtteil exzellent zu bestehen, liest man heute Alfieris Texte. Das Format des Büchleins erlaubt einen steten Begleiter, der allzeit bereit einen mehr als nur „lockeren Spruch zur Verfügung stellt“. Und wenn man dann noch – dank der abschließenden Anmerkungen am Ende des Buches – ein paar biographische Daten zum Verfasser mitteilen kann, ist der Tag quasi schon gerettet.

Samtene Scheidung

Katarína ist einen ungewöhnlichen Weg gegangen. Sie verließ das der EU zugewandte Bratislava und zog ins wunderschöne Prag, das noch lange nicht zum EU-Raum gehören wird. Es ist Weihnachten und wie immer feiert die ganze Familie zusammen. Bis auf ihre Schwester, die vor den nicht enden wollenden Sprüchen der Mutter Reißaus nahm. Auch ihre Freunde aus Kinder- und Jugendtagen verbringen die besinnliche Zeit in Bratislava. Viera lädt sie wie selbstverständlich zum traditionellen Beisammensein ein. Viera lebt in Italien. Und ebenso selbstverständlich lädt sie Katarína ein mit ihr zu kommen. Ins scheinbar bessere Leben?! Vor allem jetzt, da Eugen, der Mann an Katkas Seite eigene Wege gehen möchte.

Der phlegmatische Papa, die aufbrausende, weil enttäuschte Mutter, die bezirzende Nichte, Ihr Bruder und seine Frau – all das ist Katarínas Familie. Und auch wieder nicht. Wohlfühlen ist anders. Geboren in einem Land, das aus zwei Teilen zusammengefügt wurde und vor einiger Zeit wieder in diese zerfiel. Ressentiments sind immer noch – schon wieder? – da. Die Enttäuschung der Mutter, die Resignation vor der eigenen Situation, dem Schicksal nichts Entscheidendes entgegenzusetzen: In Katarínas Kopf sind die Geister der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft unlustige Spießgesellen.Der heimelige Herd spendet nicht die Wärme, die Katarína nun braucht. Vielmehr fröstelt ihr bei der Vorstellung endlich Entscheidungen treffen zu müssen.

Jan Karšaiova bereitet ihrer Katarína einen unruhigen Boden, auf dem man einmal richtig aufstampfen muss, damit er Stabilität erhält. Doch Katarína ist vorsichtig. Sie hat Angst etwas zu zerbrechen, und dass sie es dann umgehend bereuen würde. So wie ihr Geburtsland, die Tschechoslowakei, einst zerbrach, so zerbricht für sie ganz langsam auf Samtpfoten ihre Welt. Es gibt nicht den großen Knall, der alles mit einem Wisch beiseite schiebt und alles erstrahlt in den schönsten Farben. Katarína würde das bestimmt nicht gefallen. Es sind die leisen Erinnerungen, die den ersten Roman der Autorin zu einem Kleinod im Bücherschrank machen. Ein leises Bing ist wie ein Fanal, zum Aufbruch. Man muss nur ganz genau hinhören.

Waldeck

Deutschland, Westdeutschland im Mai 1964. Die Euphorie über den Weltmeistertitel zehn Jahre zuvor ist dem Wohlstand der Gegenwart gewichen. Eine neue Generation ist auf dem Weg neue Pfade zu beschreiten und alte Zöpfe abzuschneiden.

Journalist Ferdinand Broich hat von einer Frau erfahren, dass sie ihrem Peiniger aus dem KZ begegnet sei. Für ihn, den in Ungnade gefallenen Autor vielleicht die Chance wieder in gesicherte Gefilde schippern zu können. Für die Frau leider der Weg ins Verderben. Als Broich sie interviewen will, ist sie bereits tot. Ist das vielleicht die Story seines Lebens? Der Zynismus dieses Gedankenspiels ist Broich durchaus bewusst. Doch erst vom das Fressen, dass die Moral, sagte schon Brecht.

Währenddessen macht sich eine junge Frau auf den Weg aus ihrem „wohlbehüteten“ Leben auszubrechen. Fast wortwörtlich. Silvia entdeckt Papiere, die nur eines beweisen: Ihr Vater hat eine mehr als dunkle Vergangenheit. Hastig packt sie zwei Koffer, schnappt sich die Aktentasche, die sie versteckt hat und kauft sich eine Zugfahrkarte.

Waldeck soll der erste Ruhehalt auf ihrer reise werden. Sie hat gehört, dass auf der Burg im Hunsrück ein Musikfestival stattfindet. Dort erhofft sie sich die ersehnt Ablenkung.

Andernorts hat man die Hosen gestrichen voll. Zwei Männern sind nicht gerade erfreut über das Tun des jeweils Anderen. Man hätte vorsichtiger sein müssen. Sich nicht erwischen lassen dürfen. Die Tat ist schrecklich genug. Aber einen Augenzeugen entwischen zu lassen … das kann böse enden.

Jürgen Heimbach spinnt in seinem dritten Roman über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ein dichtes Geflecht aus Angst, Hoffnung, Gier, Verrat, falschem Pflichtgefühl und ungebremster Aufbruchsstimmung. Das Festival auf der Burg Waldeck gab es tatsächlich von 1964 bis 1969. Folksänger, Liedermacher nannte man das damals noch. Eine Generation von Künstlern weigerte sich im Tralala der Zeit einzuordnen und machte mit harschen Texten auf die Probleme der Zeit aufmerksam. Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt, ja sogar Katja Ebstein und Reinhard Mey sind bis heute in aller Munde. Die Zeit vor 45, wie man es fast schon neutral beschrieb, war noch nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil. Die braunen Schergen hatten es sich in der Demokratie gemütlich gemacht. Jürgen Heimbach führt im Nachwort auf, dass fast jeder zehnte Zahnarzt aktiv bei der SS war. Sie selektierten in den KZs, stahlen das Zahngold und waren rührige Mitglieder des Regimes. Die Angst davor, dass ihre Tarnung im neuen Deutschland auffliegt, wurden sie nie los. Und was machen betroffene Hunde?… Sie bellen. Manchmal beißen sie sogar.

Die Spannung im Buch lebt vom Vorwissen des Lesers. Die Unerträglichkeit des Unwissens ist der Spannungsbogen, der bis zum Ende radikal durchgehalten wird. Vermutungen schweben über jedem Umblättern und die Erlösung ist wie ein Befreiungsschlag. Die Krimireihe von Jürgen Heimbach – jeder Roman ist für sich eine abgeschlossene Geschichte, doch die Reihung der Ereignisse lässt durchaus die Vermutung nahe liegen, dass man es hier mit einer Reihe („Die rote Hand“ gefolgt von „Vorboten“) zu tun hat – wird fortgesetzt. Man kann sich ja schon mal ein paar Gedanken machen… Eines steht jetzt schon fest: Viele kleine Geschichten türmen sich fast unmerklich zu einer großen umfassenden Geschichte auf, dessen Faszination man sich einfach nicht entziehen kann.

Superhits der Showa-Ära

Japan kann sich zweier Autoren rühmen, die sich den gleichen Namen teilen: Murakami – zwei mit dem perfekt ausgeglichenen Verhältnis von Vokalen und Konsonanten. Und doch so unterschiedlich. Während der Eine – Haruki – mit blumigen Worten der weiten Welt wie eine Sonne erscheint, in dem er Japans Kultur erklärt, ist Ryū eher der kleine Teufel, der aus der Erde herausbricht und mit brachialem Heavy-Metal-Sound den Dreck der Gesellschaft nach Oben wirbelt, um noch mehr Kultur zu zeigen. Seine Bücher sind keine Sinfonien, sie sind orchestrale Wuchtbrummen, die lange die Synapsen zum Schwingen bringen.

Apropos gleiche Namen und ausgewogenes Verhältnis von Vokalen und Konsonanten: Midori, so heißt sie und sie und sie und sie und sie und … sie auch. Ja, sechs Frauen, alleinstehend, alle heißen Midori. Ihnen gegenüber stehen sechs junge Männer – zum Glück für den Leser haben sie unterschiedliche Namen. Ishihara, Yano, Sugiyama, Katō, Sugioka und Nobue sind echte Taugenichtse. Die Typen, bei denen man die Straßenseite wechselt, wenn sie ins Sichtfeld geraten. Gelangweilte, antriebslose Gestalten, die nur Unfug im Sinn haben. Was die beiden Halbdutzende verbindet ist Karaoke. Die Jungs verkleiden sich, trashy, die Frauen haben mehr Gefallen an dem gemeinsamen Singen. Die Jungs reiben sich auf an den unzähligen Gedanken, was sie alles machen könnten. Den Willen haben sie ja schon. Böse Gedanken, schreckliche Willensbekundungen – bisher blieb es jedoch bei den Gedankenspielen.

Es ist wieder einmal soweit. Karaoke. Die Jungs organisieren – fast schon militärisch – ihren Abend. Sie bestimmen, wer die Technik organisiert, wer als Fahrer nüchtern bleiben muss und so weiter. Der Abend am Strand verläuft wie immer: Singen, rumalbern, sich an die Nachbarin von gegenüber erinnern, die sich so grazil aus ihrer Kleidung schält, sich haarklein vorstellen, wie sie sich ihren Körper einseift – die Jungs sind in freudiger Erwartung dessen, was nie passieren wird. Nur Sugioka ist am nächsten Morgen immer noch in der Stimmung der Nacht. Da wird selbst eine alte Frau zum Objekt der Begierde. Und schon ist es passiert. Ein anzügliches Nähern. Einfach nicht aufhören können. Eine blitzende Klinge. Und schon liegt die Frau am Boden. Blut umschließt ihren leblosen Körper.

Midori ist tot. Aus den sechs Midoris wie aus heiterem Himmel ein Fünferpack geworden. Und dieses Fünferpack hat es in sich. In Windeseile werden die biederen Damen zu fünf Fingern einer Faust, die kein Erbarmen kennt. Wie ausgewechselt beginnen sie zu recherchieren. Und sie sind gut! Schon bald haben sie einen Verdächtigen. Und wo ein Verdächtiger ist, ist auch ein Zweiter. Eine rauschende Rachejagd beginnt. Eine Jagd wie sie nur von einem Autor geschrieben werden kann: Ryū Murakami.

Love letters

Was wäre eigentlich, wenn Virginia Wolf und Vita Sackville-West heute leben würden? Sie würden sich heutzutage auf einem Charity-Event kennenlernen, wo sich die C-Promi-Garde mit der D-Kategorie ablichten lässt, weil sie so mehr Follower generieren würden. Hinter vorgehaltener Hand würde eine Viertelfinalteilnehmerin einer Casting-Show oder ein Teilnehmer bei einem menschenverachtenden Reality-Format mit einem leichten Grinsen das Gerücht verbreiten, dass sie und sie, Virginia und Vita

– die Namen würden schon mal zu den TV-Formaten passen … – etwas miteinander hätten. Eine hektisch sprechende Moderatorin würde aus ihrem „Was ist denn da passiert?“-Monolog eine Sensation ankündigen. Und die beiden selbst? Sie würden elegant, aristokratisch, gelangweilt den bunten Mikrofonen und den kreischenden Zurufen der Fotografen die kalte Schulter zeigen.

Denn sie haben sich, haben einander, haben ihre Gatten, Freunde, Geschäftspartner (oft in Personalunion) und würden trotzdem schwitzen wegen der vermeintlichen Hetzjagd. Doch im Vergleich zu damals – Virginia Wolf und Vita Sackville-West lernten sich 1922 bei einem Dinner kennen – wäre die Hetzjagd nach ein, zwei Wochen vorüber. Bis, ja bis sie sich wieder öffentlich zeigen (vielleicht sogar gemeinsam?!) und das Getuschel von Neuem beginnt.

Was hätten sie dann noch? Ihre Social-Media-Kanäle, in denen sie in wohlgewählten Worten auf die Missstände in der Gesellschaft hinweisen. Vielleicht würden sie die Regenbogenfahne schwenken, was ihre Partner ungewollt in die Regenbogenpresse ziehen würde. Würden die beiden gendern?

Oder würden Virginia Wolf und Vita Sackville-West den abgemagerten Promiklatschreporterinnen und den leicht zu Übergewicht neigenden Promireportern (das ist eine ganz subjektive Einschätzung, aber passt irgendwie ins Bild, oder?!) frontal entgegentreten und Gegenfragen stellen, die jeden Unterton entlarven?

Ach es wäre ein Fest für alle, die die beiden Autorinnen für ihr Tun verehren! Zum Glück waren die Zeiten als die beiden sich ihre Liebe in unzähligen Briefen und Tagebucheinträgen gegenseitig versicherten anders. Geschliffene Worte, erhabene Sehnsucht, feuriges Verlangen und schnippige Bemerkungen ohne dabei bewusst verletzen zu wollen. Dieses Buch ist ein meisterhaftes Beispiel dafür, das Liebe und Zuneigung laut und leise, offen und verborgen, zart und roh zugleich ist – die Außenwelt darf zusehen, aber nicht eingreifen. Zwei unabhängige, starke Frauen, die nicht müde werden in ewiger Verbundenheit getrennt und zusammen jeglichen Konventionen zu trotzen!

Im Dienst des Irdischen

China, die Volksrepublik und Religion – jaajjjeeiinn. Irgendwie durchaus eine logische Verbindung, andererseits auch wieder nicht. Es ist kompliziert. Und so sollt man sich diesem Buch auch nähern. Klar, China, Asien, Buddhismus – die Verbindung ist eindeutig da. Und dann die monströsen Parteitagsbilder der Kommunistischen Partei, wenn im Takt dem Vorsitzenden gehuldigt wird – das ist so gar nicht buddhistisch.

Religion ist in China überall vorhanden, so wie hierzulande der christliche Glaube und seine Sichtbarkeit nicht zu übersehen sind. In China hingegen gibt es stellenweise Tempel, die nicht historisch gewachsen sind, sondern moderne Bauten sind (ja, die gibt es auch in unseren Breiten), sondern von Firmen erbaut wurden. Und deren Größe die historischen Tempel um ein Vielfaches übertreffen. Also, China und Religion ist doch nicht so verwunderlich wie so mancher Dauerskeptiker es glauben mag.

Hans-Wilm Schütte reist durch ein China, das ohne rasanten Fortschritt nicht überlebensfähig ist. Das Land lebt vom selbst auferlegten Image des enormen Aufschwungs.

Als Erstes fällt im Buch die üppige Farbenpracht der Abbildungen auf. Gold soweit das Auge reicht. Festgehalten aus unterschiedlichen Perspektiven. Und erst die Erläuterungen! China ist gemessen an der Zahl der Gläubigen die Nummer Eins im buddhistischen Lager. Neben der Pracht der Bilder stellt Autor Hans-Wilm Schütte die Geschichte und Tradition in den Fokus. Strömungen innerhalb des Buddhismus sind oft stellenweise ein Dorn im Auge der Religionshüter sowie der Machthaber im Reich der Mitte.

„Im Dienst des Irdischen“ ist ein tiefer Einblick in den Alltag der Buddhisten in China. Tempel mit gigantischen Ausmaßen, daneben bescheidene Rituale, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Besinnliche Bilder und ausufernde Goldbeschau. Propaganda und reine Lehre. Wer sich auf diese Reise einlässt, erlebt Seite für Seite ein Abenteuer nach dem Nächsten. Unter den Reisebildbänden nimmt dieses Buch einen ganz besonderen Platz ein, und zwar auf den vorderen Plätzen!