Waldeck

Deutschland, Westdeutschland im Mai 1964. Die Euphorie über den Weltmeistertitel zehn Jahre zuvor ist dem Wohlstand der Gegenwart gewichen. Eine neue Generation ist auf dem Weg neue Pfade zu beschreiten und alte Zöpfe abzuschneiden.

Journalist Ferdinand Broich hat von einer Frau erfahren, dass sie ihrem Peiniger aus dem KZ begegnet sei. Für ihn, den in Ungnade gefallenen Autor vielleicht die Chance wieder in gesicherte Gefilde schippern zu können. Für die Frau leider der Weg ins Verderben. Als Broich sie interviewen will, ist sie bereits tot. Ist das vielleicht die Story seines Lebens? Der Zynismus dieses Gedankenspiels ist Broich durchaus bewusst. Doch erst vom das Fressen, dass die Moral, sagte schon Brecht.

Währenddessen macht sich eine junge Frau auf den Weg aus ihrem „wohlbehüteten“ Leben auszubrechen. Fast wortwörtlich. Silvia entdeckt Papiere, die nur eines beweisen: Ihr Vater hat eine mehr als dunkle Vergangenheit. Hastig packt sie zwei Koffer, schnappt sich die Aktentasche, die sie versteckt hat und kauft sich eine Zugfahrkarte.

Waldeck soll der erste Ruhehalt auf ihrer reise werden. Sie hat gehört, dass auf der Burg im Hunsrück ein Musikfestival stattfindet. Dort erhofft sie sich die ersehnt Ablenkung.

Andernorts hat man die Hosen gestrichen voll. Zwei Männern sind nicht gerade erfreut über das Tun des jeweils Anderen. Man hätte vorsichtiger sein müssen. Sich nicht erwischen lassen dürfen. Die Tat ist schrecklich genug. Aber einen Augenzeugen entwischen zu lassen … das kann böse enden.

Jürgen Heimbach spinnt in seinem dritten Roman über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ein dichtes Geflecht aus Angst, Hoffnung, Gier, Verrat, falschem Pflichtgefühl und ungebremster Aufbruchsstimmung. Das Festival auf der Burg Waldeck gab es tatsächlich von 1964 bis 1969. Folksänger, Liedermacher nannte man das damals noch. Eine Generation von Künstlern weigerte sich im Tralala der Zeit einzuordnen und machte mit harschen Texten auf die Probleme der Zeit aufmerksam. Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt, ja sogar Katja Ebstein und Reinhard Mey sind bis heute in aller Munde. Die Zeit vor 45, wie man es fast schon neutral beschrieb, war noch nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil. Die braunen Schergen hatten es sich in der Demokratie gemütlich gemacht. Jürgen Heimbach führt im Nachwort auf, dass fast jeder zehnte Zahnarzt aktiv bei der SS war. Sie selektierten in den KZs, stahlen das Zahngold und waren rührige Mitglieder des Regimes. Die Angst davor, dass ihre Tarnung im neuen Deutschland auffliegt, wurden sie nie los. Und was machen betroffene Hunde?… Sie bellen. Manchmal beißen sie sogar.

Die Spannung im Buch lebt vom Vorwissen des Lesers. Die Unerträglichkeit des Unwissens ist der Spannungsbogen, der bis zum Ende radikal durchgehalten wird. Vermutungen schweben über jedem Umblättern und die Erlösung ist wie ein Befreiungsschlag. Die Krimireihe von Jürgen Heimbach – jeder Roman ist für sich eine abgeschlossene Geschichte, doch die Reihung der Ereignisse lässt durchaus die Vermutung nahe liegen, dass man es hier mit einer Reihe („Die rote Hand“ gefolgt von „Vorboten“) zu tun hat – wird fortgesetzt. Man kann sich ja schon mal ein paar Gedanken machen… Eines steht jetzt schon fest: Viele kleine Geschichten türmen sich fast unmerklich zu einer großen umfassenden Geschichte auf, dessen Faszination man sich einfach nicht entziehen kann.