Die rote Hand

Eigentlich hatte Arnolt Streich alle Voraussetzungen für ein gutes Leben: Dank der Gnade der späten Geburt den Ersten Weltkrieg verpasst, Kinderstube in den Goldenen Zwanzigern, später Fremdenlegion und nun eine Säule des deutschen Wirtschaftswunders der Fünfzigerjahre. Doch mit den Säulen ist das so eine Sache. Sie tragen die ganze Last und die Aahs und Oohs ernten die, die man trägt. Streich legt nicht viel Wert auf Lob. Schon gar nicht auf Gesellschaft anderer. Bommel, sein Boss, ist cholerisch und wenn er Streich das Gehalt zahlen soll, muss Streich nachverhandeln. Für den dicken Boss, ein Gewinnler des Wirtschaftswunders, bewacht er Garagen, drückt dort die Klinken runter und schaut, dass die Kinder der Nachbarschaft nicht zu viel Unsinn anrichten. Für ihn, den Eigenbrödler genau richtig. Aber unbefriedigend.

Am Stehbüdchen bei Ali, holt er sich immer am Anfang des Monats seine Zigarre. In der Zeitung steht dieses Mal sogar was Interessantes. Ein Waffenschieber wurde ermordet. Georg Pucherts Mercedes sieht nicht mehr so aus wie vor dem Attentat. Und Puchert selbst schon gleich gar nicht. Dass Streich wie nebenbei mittgeteilt wird, dass sich ein paar Typen – keine Polente wird ihm versichert – nach ihm erkundigt haben, lässt Streich sogar vergessen Zigaretten zu kaufen. Einer der Typen könnte Drei-Finger-Diether sein. Streich hatte ihm vor einiger Zeit mal fast den Job streitig gemacht, als er einem freier, der es partout nicht unterlassen wollte ein Mädchen zu schlagen. Streich verpasste ihm zwei Hiebe und schon war Ruhe im Karton. Doch Drei-Finger-Diether sieht es nicht gern, wenn man ihm die Ausführung verleidet… Nur Gilla, das Mädchen, das sich Streich „einmal im Monat gönnt“, sah darin etwas ganz und gar Ehrenhaftes. Vielleicht hat sich aber auch jemand was zusammengesponnen, um Streich einen selbigen zu spielen..

Schön wär’s! Denn auf dem Weg zum Boxclub von Franz Jung wird Streich abgefangen. Er solle heute nicht zu Franz kommen, ließ Franz ausrichten. Ein paar Typen, sehen gefährlich aus, hatten nach Streich gefragt. Auch wenn Streich es will, Eins und Eins macht Zwei. Und er muss Augen und Ohren offenhalten. Im besten Fall könnte es Großmann sein, der er noch Geld vom Pferderennen schuldet. Im schlimmsten Fall … das kann Streich noch nicht abschätzen.

Über kurz oder lang werden die Typen in dem eleganten französischen Wagen bei ihm auf der Matte stehen. Vielleicht kann sich Streich mit ihnen arrangieren? Und etwas über die Rote Hand herausbekommen. Die kämpfen mit allen ihnen „von Oben“ zur Verfügungen gestellten Mitteln gegen die Aufständischen in Algerien, die für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Dafür brauchen sie Waffen. Puchert war Waffenhändler… Streich dämmert es … zuerst ein wenig, doch dann kommt die Erkenntnis. Zu spät?

Jürgen Heimbach lässt so manchen Strick vom Himmel herab. Wessen Kopf sich in die Schlinge legt, oder ob, man die Stricke als Himmelsleiter zusammenknüpft, lässt geschickt offen. Jede Seite seines preisgekrönten Romans – Friedrich-Glauser-Preis 2020 – ist ein Puzzleteil, das dem Leser immer wieder neue Perspektiven öffnet. Spannend bis zum letzten Buchstaben!