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Lesereise Nordirland

Hausboot, Straßenkämpfe, Gartenparadies – auf den ersten Blick eine allzu willkürlich und stark verkürzte Beschreibung dessen, was den Leser in diesem Buch erwartet. Hinzufügen sollte man noch, dass die Autorin Stefanie Bisping regelmäßig auf dem Treppchen bei der Wahl zur Reisejournalistin des Jahres landet. Gold ist ihr näher als Silber. Und somit führt sie den Spruch, dass Schweigen Gold ist, ad absurdum.

Denn Stefanie Bisping schweigt nicht. Sie genießt das Reisen, aber sie schreibt auch darüber und lässt in diesem Fall jeden Wissbegierigen an einem Land teilhaben, das vielleicht immer noch einen Dornröschen-Dämmerschlaf frönt. Noch!

Der Name der nordirischen Hauptstadt Belfast ist ebenso eng mit der Titanic verbunden. Hier wurde das Rekordschiff gebaut, bevor es Monate später nicht minder rekordverdächtig in den Tiefen des Atlantiks versank. In Belfast erinnert heute ein gigantischer Titanic-Komplex an die Katastrophe, aber auch an die Schiffsbautradition der Stadt. Inkl. Kongress-Center, Pubs und natürlich dem größten Titanic-Museum der Welt. Erstaunlich, was an Wissen noch alles aus dieser Geschichte herauszuholen ist. Stefanie Bisping kitzelt wirklich das letzte unveröffentlichte Geheimnis aus dem Gebäude.

Belfast ist aber auch eine der wenigen Städte mit einer Mauer. Während man in Berlin dem antifaschistischen Schutzwall nur noch mit touristisch weit geöffnetem Maul entgegensteht, ist hier die Mauer tatsächlich immer noch Mittel zum Zweck (der Trennung). Und die alljährlichen Umzüge in Orange verleiten diejenigen, denen das Orange ein Dorn im Auge ist, dazu, dass man in die Sommerfrische flieht. Auch eine Art der Konfliktlösung, und nicht die Schlechteste.

Eine Flucht nach Vorn hat auch ein Gärtner angetreten, den die Autorin begleitete. Eigentlich wäre er längst im Ruhestand. Doch die Liebe zu Gärten und Pflanzen ließ ihn das süße Leben vergessen, und er trat einmal mehr in den floralen Dienst ein.

Große Geschichte und kleine Geschichten hat Stefanie Bisping gefunden, oder sie ließen sich von ihr finden. Immer wieder staunt man über jede einzelne. Und man möchte sofort selbst auf die grüne Insel fahren, wo immer noch tagein tagaus Traditionen gelebt werden. Das beginnt nicht erst bei Halloween und hört noch lange nicht beim Bier- und Whisky-Trinken auf.

Almosen fürs Vergessen – Wo man singt

Das altehrwürdige Cambridge. Hier liegen die Traditionen auf dem Präsentierteller. Hier wiegen die Traditionen noch was. Hier wird gelehrt, hier wird gelernt. So war, so ist es, so wird es immer bleiben.

Von wegen. Großer Veränderungen kündigen sich an. Einerseits wird ein nicht ganz unbeträchtlicher monetärer Zuwachs durch den Verkauf eines Stücks Land erwartet. Andererseits – überall im Europa des Jahres 1967 brennt es auf den Straßen unter der Leitung der Studenten – verschließt sich niemand mehr vor den revolutionären Ansinnen der Studenten. Dass es unter den Talaren mieft, ist nicht mehr zu vertuschen. Auch unter den Professoren rumort es.

Hugh Balliston ist der mehr oder weniger heimliche Anführer der Studenten. Ihm hört man zu, ja, man folgt ihm sicherlich ziemlich weit. Wie weit, das wird sich noch herausstellen. Von Lehrkörperseite betrachtet man die Aktivitäten mit Argwohn. Und das obwohl man selbst Veränderungen nicht abgeneigt sei. Schließlich ist man als Lehrer stets Triebfeder des Fortschritts. Ab in Maßen, please.

Hugh hingegen ist Feuer und Flamme. Er berauscht sich an seinem Image als Revoluzzer. Ist aber auch clever genug, um echte Veränderungen herbeiführen zu können. Nicht ganz so clever und reaktionsfreudig ist er hingegen als ihm die Führungsrolle abspenstig gemacht wird. Zu spät merkt er, wer ihn um- und übergehen will…

„Almosen fürs Vergessen“ – da muss man schon zweimal hinschauen, um es richtig zu verstehen. Ein Romanzyklus, der im siebten Band die philosophische Auseinandersetzung mit den Umwälzungen der 60er Jahre sucht. Niveauvolles Geplänkel nach dem Tennis im steten Wechselspiel mit profanen Alltagsproblemen.

Simon Raven scheut nicht vor der Provokation. Intellektuell, provokativ, direkt und zutiefst ehrlich schickt er Menschen in die Arena in einen Kampf auf Leben und Tod. Dass er sich beim Ritt auf der Rasierklinge nicht schneidet – und seine Betrachtungen als schnöden Krimi ins Bücherregal schickt – ist ein wahrer Kunstgriff. Man berauscht sich am intelligenten Gerangel ebenso wie an vordergründigen Interesse am anderen Geschlechts gleichermaßen.

Das Erbe

Vierundachtzig Jahre lebte Phillida Chase auf ihrem Anwesen, zu einige Morgen Land gehörten, ein paar Farmhäuser und fünfzig Pfauen. Nun liegt sie da, mit der Decke über dem Gesicht. Und ihr Testamentsvollstrecker, ihre Vermögensverwalter unterbreiten nun ihrem Neffen Peregrinus Chase das Angebot alles so schnell wie möglich zu veräußern. Die Ländereien und Farmen decken dabei allerhöchstens die Tilgung der Schulden und weiterer Kosten. Das Herrenhaus im Tudor-Stil selbst bringt noch ein bisschen was ein, da es doch ziemlich durchschnittlich, um nicht zu sagen heruntergekommen ist. Mr. Chase selbst ist es nicht minder. Eigentlich will er sich das Erbe seiner Tante, die er nie kennengelernt hatte selbst erst einmal ansehen. Eine Chance für ihn sich selbst zu erkennen…

Peregrinus Chase geht auf Wanderschaft durch das unerwartete Erbe. Bis vor Kurzem wusste er noch nichts von der Tante. Kannte sie gar nicht. Und bis heute ist sie für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Immer wieder trifft er bei seinen Eroberungswanderungen auf Menschen, die ihm seine Tante näherbringen. Und immer wieder diese Pfauen. Blackboys, so heißt das Anwesen, ohne Pfauen, ohne Chase`s, ohne die Blumenpracht – nee, das geht nicht.

Aus dem anfänglichen Fremdeln – selbst im Haus bewegt er sich wie auf rohen Eiern, um ja nichts zu beschädigen – wird ziemlich schnell einvernehmliches Abfinden mit der Situation. Das alles gehört ihm! Ja, ihm Peregrinus Chase aus Wolverhampton, der in einem kleinen möblierten Zimmer wohnt und einer Arbeit nachgeht, die so weit von Befriedigung und Erfüllung entfernt ist wie er noch vor einiger Zeit vom Besitz eines Landsitzes.

Letztendlich entschließt er sich doch alles unter den Hammer zu bringen. Ist wohl doch das Beste?! Alles weg, die Schulden bezahlen, ein wenig Gewinn wird wohl noch hängen bleiben. Und so kommen die Parzellen, eine nach der anderen zur Versteigerung. Die Preise sind so lala. Könnte besser laufen. Chase nimmt es mit stoischer Ruhe hin … bis das Haupthaus aufgerufen wird.

Vita Sackville-West wählte wohl nicht ohne Hintergedanken den Namen ihres Protagonisten, Mr. Chase. Der jagt zum ersten Mal in seinem Leben einem echten Ziel hinterher. Bisher nahm er alles ohne Regung hin. Als ihm bewusst wird, dass das Anwesen ein Teil von ihm ist, und er somit umgekehrt ein Teil des Anwesens, wird bei ihm ein Schalter umgelegt. Hinfort das Grau, das sein Leben bestimmte. Die Blumenpracht und die Farbenvielfalt der Pfauengefieder haben wohl mehr Eindruck gemacht als ihm jemals hätte auffallen können.

Geheimnis am Weihnachtsabend

Was gibt es Schöneres als in der sich langsam verdunkelnden Jahreszeit mit einem echten englischen Krimi in die Kemenate zurückzuziehen und die Augen dem schaurigen Treiben folgen zu lassen?! Nicht viel schalt es sofort aus den Mündern eingefleischter Krimifans. Und denen ist Gladys Mitchell sicher ein Begriff. Wem die Autorin nichts sagt, dem sei versichert, dass sich das schon nach wenigen Seiten dieses Weihnachtskrimis ändern wird.

Gladys Mitchell gehört ohne Zweifel auf ein und denselben Sockel wie Agatha Christie und Dorothy L. Sayers. Gleichberechtigt bilden sie das Triumvirat, das ausgelassene Feste auf schon ewig in Familienbesitz befindlichen Landsätzen mit einem Mord in eine nicht erwartete Richtung lenkt. Dazu ein Brise ungehöriger Wortwitz, alte Fehden und ein Hauch Mystik. Fertig ist das Festtagsmenü, das den Magen wärmt und die Gemüter erhitzt.

Beatrice Adela Lestrange Bradley ist auf dem Weg zu ihrem Neffen Carey Lestrange. Der wohnt irgendwo im Nirgendwo und genau dort wird die rüstige Dame mit der Nase fürs Verbrechen, genauer gesagt für deren Verursacher, die heimelige Weichnachtszeit verbringen. Carey hat weitere Gäste eingeladen. Und Mrs. Bradley freut sich schon darauf. Sowohl auf ihren Neffen als auch auf die Bande junger Menschen, die ihr sicher die Zeit so angenehm wie möglich gestalten werden.

Ihr Fahrer George und sie werden schon während der Anfahrt mit den Gepflogenheiten und rauen Sitten der Gegend vertraut gemacht. Unterwegs beobachtet Mrs. Bradley eine Rauferei. Au fein, anhalten und zuschauen. Ja, Mrs. Bradley ist einer echten Keilerei nicht abgeneigt. Als Zuschauerin, selbstverständlich. Doch der Landbesitzer vertreibt sie umgehend und mit einer ziemlichen Drohgebärde von seinem Grund. Mrs. Bradleys Charme und Insistieren ist aber auch der grobe Klotz machtlos. Widerwillig erklärt er ihr den Weg zu Careys Anwesen.

Und ab hier darf man eigentlich gar nicht mehr über das Buch sprechen. Es verdirbt einen sonst den Lesespaß. Nur so viel sei verraten. Ja, es gibt einen Mord. Ausgerechnet an Heiligabend! Und ja, eine illustre Meute versammelt sich beim Neffen der spürnasigen Mrs. Bradley. Und … das mag vielleicht einige verwundern: Ein Geist tritt auf. In Echt! Fast schon greifbar…

Gladys Mitchell – und das spürt man mit jedem Umblättern – hat eine diebische Freude daran die Figuren immer wieder neuen Herausforderungen auszusetzen. Als Leser zuckt man Hier und Da zusammen, weil der Fortgang der Geschichte so unerwartet ist, dass man dieses Buch wirklich erst beiseite legt, wenn auch die letzte Umschlagseite gelesen ist. Ein echter Weihnachtskrimi – zum Verschenken, zum Beglücken, aber vor allem zum Selberlesen!

Die Sommerhäuser der Dichter

Was braucht ein Dichter, um sich frei entfalten zu können? Die Ruhe der Abgeschiedenheit oder den Trubel der weiten Welt? So unterschiedlich die Dichter, so unterschiedlich sind auch ihre Sommerhäuser. Bertolt Brecht zog sich mit Helene Weigel nach Buckow bei Berlin zurück. Idyllisch am See gelegen, bürgerliches Ambiente. Soviel Kapitalismus muss ein Kommunist aushalten … in Brechts Fall war es sogar gewünscht. Um sich in der DDR niederzulassen, erfüllte die Staatsführung ihm fast jeden Wunsch. Dem des abgelegenen Sommerhauses auf alle Fälle.

Weitaus feudaler residierte da schon Jean Cocteau vor den Toren von Paris. Bis heute ist der Garten unverändert, in seinen Mauern sind Gemälde von Weltrang zu besichtigen. Cocteau lebte in Milly-la-Forêt siebzehn Jahre. Den Trubel der Metropole holte er sich gelegentlich ins Haus.

Trubel konnte Heinrich Böll in seinem Versteck in der Eifel nicht gebrauchen. Schon gar nicht als 1974 Alexander Solschenizyn hier Asyl fand. Bis heute ist dieses Haus eine Zufluchtsstätte für verfolgte Dichter.

Versteckt, bis heute nicht ohne eine Portion Forscherdrang zu entdecken, liegen die Rückzugsorte von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard sowie von George Bernard Shaw. Ausflüge ins Ländliche waren für Woolf Alltag. Shaw hingegen ließ sich einen drehbaren Arbeitsplatz einrichten, um stets der Sonne folgen zu können. Noch einsamer mochte es Hermann Hesse, der gleich am Eingang mit einem Schild auf seine unbedingte Bitte Abstand zu halten hinwies.

Die meisten Häuser, die einmal das Zuhause eines berühmten Kopfes waren, sind heute als Museen zu besichtigen. Dank der unermüdlichen Arbeit von Stiftungen und/oder Nachfahren sind ihre Refugien zu einem Hotspot der Wissbegierigen geworden. Im Fall von Arthur Rimbaud liegt der Fall etwas anders. Auch hier wieder Idylle soweit das Auge reicht. Doch der streitbare Dichter fühlte sich hier in keiner Weise wohl. Das Licht, die Piefigkeit trieben ihn wieder gen Paris. Über hundert Jahre später wurde es verkauft, der Preis dafür: So um die 50.000 Euro. Munkelt man. Die neue Besitzerin verehrt Rimbaud. Parallelen zwischen ihrem und seinem Leben sind vage vorhanden. Er war und ist für sie purer Rock ’n Roll. Ihr Name: Patti Smith.

Von Tanger über Weimar bis Nidda, von Thomas und Klaus Mann über Günter Grass und Anton Tschechov bis William Burroughs – dieses Buch befeuert die Neugier des Lesers. Die Texte laden ein dem Forscherdrang nachzugeben und dem Einen oder Anderen über die Schulter zu schauen und das zu sehen, was die Dichter einst aufsaugten. Die Resultate dieses Aufsaugens sind weltbekannt. Ein Besuch bei Dichters hilft deren Schriften zu verstehen. Hier hält man einen der originellsten Reiseappetitmacher überhaupt in den Händen!

Schlaflos

Es fängt alles so harmlos an: Auf einer schottischen Insel, so verlassen, dass man gerade noch so etwas wie Zivilisation darauf „betreiben“ kann, aber fernab von dem, was die Zivilisation so angespannt wirken lässt, hat sich eine junge Familie eingenistet. Sie, Anna, schreibt an einer wissenschaftlichen Arbeit. Die Kinder fordern ihre volle Konzentration. Und er? Naja, er ist einfach nur da. Bei Weitem nicht so präsent wie er sollte, dennoch da.

Zwischen Stromausfällen zur Unzeit (wann kommen die schon mal wie gerufen?), endlosem Kinderliedersingen und dem sehnlichen Wunsch nach Schlaf und die Arbeit endlich beenden zu können, ist Anna öfter der Verzweiflung nah als sie es sich selbst eingestehen will. Jede Abwechslung für die Kids und sie ist eine willkommene Abwechslung. Doch dass dabei ein Schädel im Garten der jungen Familie gefunden wird, war so nicht geplant. Der Große wittert sofort ein großes Abenteuer. Die Polizei, inzwischen herbeigerufen, nimmt erstmal die Mutter unter die Lupe. Das ist es, was Anna noch braucht…!

Jetzt beginnt das wahre Abenteuer für die studierte Historikerin. Die Auszeit auf der abgelegenen Insel in der Abgeschiedenheit Schottlands entwickelt sich zu wahren Thriller. Denn in ihrem Garten hat sich ein Verbrechen zugetragen. Lange her. Doch das weiß bis hierhin nur der Leser. Der wird zwischen den bitterböse anmutenden Dialogen zwischen Anna und Giles, ihrem Gatten, zwischen Anna und ihren Kindern, mit Briefen konfrontiert, die vor mehr als hundert Jahren vom Kampf der Frauen um gesellschaftliche Anerkennung geprägt sind. Eine junge Frau will unbedingt Ärztin werden. Zur damaligen Zeit mehr als nur der Kampf mit unendlich dicken Büchern und der begrenzten Aufnahmefähigkeit des Gehirns. An allen Seiten stößt die junge Frau auf unüberwindbare Mauern.

Sarah Moss lässt sich nicht beirren in ihrem Ansinnen dem Leser auf fast fünfhundert Seiten keine Sekunde Ruhe zu gönnen und ihn immer tiefer in die Geschichte hineinzuziehen. So schlaflos Anna die Stunden, Tage, Wochen, Monate mit all dem verbringt, was Alltag für eine berufstätige Mutter scheinbar zu sein hat, so rastlos peitscht sie den Leser von Seite zu Seite, treibt ihn an erst dann Ruhe zu geben, wenn das letzte Puzzleteil sich erhaben ins Bild fügt. Das Kapitelende als Ruhepol kann man in „Schlaflos“ getrost vergessen. Immer weiter zeiht einen die Neugier in die Story hinein. Und an Schlaf ist erst recht nicht zu denken, wenn die letzte Seite gelesen, die letzte Zeile aufgesogen wurde.

Drei daneben

Fangen wir ganz vor an. Beim Titel. Nein, auf dem Bild ist nicht Terry Jones abgebildet, der als marodierende alte Lady eine englische Kleinstadt terrorisiert und Babies aus Kinderwagen klaut.

Es folgt eine ungewöhnlich lange Einführung in das, was auf den folgenden Seiten Herz und Hirn des Lesers aufs Vortrefflichste animieren wird. Nicholas Hytner, Theaterbetreiber und Regisseur wurde wenige Tage nach Beginn des Lockdowns in Großbritannien gebeten die „Talking Heads“ von Alan Bennett für die BBC neu zu inszenieren. Unter den gegebenen Umständen eine willkommene Abwechslung. Unter den gegebenen Umständen auf alle Fälle umsetzbar. Unter den gegebenen Umständen ein probates Mittel, um drohenden Wiederholungsexzessen vorzubeugen. Er gibt darin ein sehr direktes Bild von Produktionsbedingungen der Gegenwart wieder. Als Freund von Alan Bennett könne er ihn auch davon überzeugen selbst wieder tätig zu werden und die Erfolge der „Talking Heads“ (nicht der Band, sondern der BBC-Serie) noch einmal aufleben zu lassen.

Die Texte von Alan Bennett erschüttern nicht von Anfang an den Leser. Es sind Alltagssituationen, die vielleicht nicht jeder selbst durchlebt, aber auf alle Fälle kennt jeder jemanden, der so agiert. Die Fassade muss auffallen. Was dahinter passiert, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Da sitzt eine trauernde Witwe vor dem digitalen Publikum, um ihre Trauerrede auf den verblichenen Gatten zu üben. Nun haben wir in der Covid-Zeit gelernt, dass virtuelle Treffen sich durchaus für peinliche Momente eignen können. Doch in diesem Falle ist peinlich noch ein sehr mildes Urteil…

Alan Bennett versteht es vorzüglich dem Volk aufs Maul zu schauen und seinem Treiben durchaus ein Schmunzeln abzuringen. Das Scheitern als Chance doch noch halbwegs unbeschadet aus der Situation herauszukommen, gibt ihm die Möglichkeit Unzulänglichkeiten aufzudecken und der Peinlichkeit einen Riegel vorzuschieben. Zwischen den Zeilen offenbaren sich die Männer und Frauen, die Alten und die Jungen, die Gebrechlichen und die Starken als Abziehbild einer Gesellschaft, die denen die geblendet werden wollen, das Paradies verspricht. Ein Spielverderber ist Alan Bennett dennoch nicht. Denn diejenigen, die sich selbst treu bleiben, zaubert ein Lächeln ins Gesicht, das jeden Antagonismus der Zeit ad absurdum führt.

Heiteres Wetter zur Hochzeit

Der schönste Tag des Lebens – von wegen! Dolly Thatcham lässt sich von Owen Bingham zur Frau nehmen. Das ist standesgemäß. Seit einem Monat kennen sich die beiden. Er wird bald in den diplomatischen Dienst in Übersee eintreten. Sie wird dann an seiner Seite stehen. Romantik ist was anderes.

Aber so sind nun mal die Zeiten. Und jeder der Beteiligten weiß, was hier gespielt wird. Es war schon immer so, es wird schon klappen. Umso wichtiger ist es jetzt, dass die Zeremonie perfekt ablaufen wird. Perfekt, nicht annähernd perfekt, sondern 100 Prozent. Jeder ist in heller Aufregung. Und wer es nicht ist, stichelt gegen jeden, der es ist. Da nervt der eine Bruder den anderen, weil ihm seine Socken nicht passen. Mama wird sehr böse sein. Doch das brüderliche Machtspielchen scheitert kläglich.

Ach ja, das Brautpaar. Ja … dem geht es so mittelprächtig. Man muss halt tun, was getan werden muss. Nach und nach trudeln die Gäste langsam ein. Unter ihnen auch Joseph. Er und Dolly waren einmal ein paar Wochen im Sommer ein Paar. Jetzt weiß es der Leser – jetzt kommt Schwung in die beschauliche Szenerie. Owen entdeckt plötzlich so was wie Gefühle – Machtansprüche träfe es wohl besser. Und Dolly? Was entdeckt Dolly? Ihre Liebe zu Rum. Flaschenabfüllung, natürlich. Wenn man schon dem puren Leben abschwören muss, dann so ordinär wie möglich. Was halt so in ihren Kreisen als ordinär gilt.

Joseph gerät zwischen die Fronten. Auf der einen Seite das behäbige Getue am großen Tag, an dem man unter seinesgleichen nur die Schokoladenseite zeigt. Auf der anderen Seite die Erinnerung der Ex an die schönen Zeiten. Doch wer jetzt denkt, dass alles im Chaos endet, gar ein Mord geschieht, der hat die Rechnung ohne die ironische Sanftheit in Julia Stracheys Schreibkunst gerechnet. Sie amüsiert sich über ihre Geschichte ohne dabei den Beteiligten die Würde zu nehmen. Fast meint sogar ein bisschen Bedauern in ihren Worten erkennen zu können. Denn Dolly und Owen und Joseph sind Produkte ihrer Zeit. Sie müssen so handeln wie sie es tun, in ihren Augen. Warum also nicht ein bisschen Schabernack mit ihnen treiben?

Es gibt keine Wiederkehr

Ein amerikanischer Pass, ein nicht ganz unbeträchtliches Bündel Ein-Pfund-Noten, Lippenstift – was „die Frau von Welt“ so bei sich hat. Desmond Thane staunt nicht schlecht, was er bei Anna in den Sachen findet. Ein amerikanischer Pass? War sie nicht Engländerin, wie er? Und dann noch einige Papiere in fremder Sprache. Und das ganze Geld. Sie wird es nicht mehr brauchen. Sie ist tot. Durch Desmonds eigene Hände Arbeit. Die bringen sonst nur wohlklingende Sätze auf Zeitungspapier. Jetzt hat er einen Menschen – einen geliebten Menschen? – umgebracht. Jetzt muss er Ruhe bewahren. Jetzt beginnt ein komplett neues Leben!

Das beginnt damit, dass er sich der Pistole entledigen muss, die Anna am Abend zuvor auf ihn richtete und die er an sich nahm. Das wäre geschafft.

An einem anderen Ort treffen sich Tags darauf die Herren A, B, C … bis G. Sie nehmen mit ernster Miene und besorgter Stirnfalte den Tod von Anna ins Sitzungsprotokoll auf. Mr. Foster trägt seinen Ermittlungsbericht vor. Er fand ein Telegramm in Anna Aschekasten. Sie wolle sich mit einem D.T. treffen. Foster weiß auch schon, das die Initialen zu einem Journalisten Desmond Thane gehören. Und er weiß erschreckend viel über diesen Thane – mehr als der Leser zu diesem Zeitpunkt. Verheiratet, geht viel in Nachtclubs – solches Zeug halt. Man beschließt Thane zu einer Befragung „einzuladen“, um sich gegebenenfalls später von ihm zu verabsch…, nein, das trifft es nicht ganz, sich seiner zu entledigen. Ja, so hat man es vor. Dem Vorschlag wird von den Herren B bis G zugestimmt.

Was wird hier eigentlich gespielt? Es ist Krieg. Die Nazis überziehen den Kontinent nicht nur mit Bombenteppichen, sondern sorgen für ein Klima des Misstrauens. An jeder Ecke Europas lauern Gefahren, Spione und Doppelagenten leben wir die Made im Speck. Thane hat sich mit Anna eingelassen. Sie ist attraktiv und weiß wie man einen Mann für sich einnimmt. Doch sie hat ein Geheimnis. Sie gehört zu einer Organisation, die im Hinter- vor allem aber im Untergrund agiert. Wofür, wogegen – das ist nicht ganz klar. Ist ja eine Geheimorganisation! Und Thane muss nun zusehen, dass er einerseits brav seine Arbeit verrichtet – die Miete zahlt sich nicht von allein. Und andererseits hat er ja nun ein neues Leben. Eines, in dem er sich permanent umsehen muss. Denn wer ihm folgt, verfolgt ein Ziel. Und das kann tödlich sein…

John Mair gelang mit seinem Erstling das Paradebeispiel für einen Politthriller. Der Erste überhaupt. Desmond Thane ist kein typischer Held, der in der einen Hand einen Cocktail hält, mit der anderen die Welt von den Schurken befreit und immer noch eine Hand freihat, um die holde Maid in eine strahlende Zukunft zu begleiten. Desmond Thane hängt in den Seilen. Er hat gut zu tun, ist aber bei Weitem kein journalistisches Trüffelschein, das einen Scoop nach dem anderen abliefert. Aber er hat Instinkte. Die helfen ihm die Situation – wenn auch reichlich spät – einschätzen zu können. Leider gab es nie eine Fortsetzung, John Mair überlebte einen Absturz seines Trainingsfluges nicht.

Am Rande der Glückseligkeit

Am Strand zu sein, bedeutet den ersten Schritt in die Unendlichkeit zu sehen. Ihn zu tun, ist eine andere Sache. Sich im warmen Weich des Sandes der Karibik die Alltagssorgen aus den Poren zu rubbeln, ist eine sehr nüchterne Sichtweise auf die Unverstellbarkeit der Gedanken.

Bettina Baltschev sieht den Strand als Ruheort, als Sehnsuchtsort, als Ort, an dem Dichter wie Arbeiter fliehen, um ganz und gar bei sich sein zu dürfen. Acht ausgewählte Strände fügt die Autorin zu einem Gesamtbild zusammen und verblüfft, was alles unter dem Begriff Strand an Gütern angespült wird.

Der Strand bildet immer den Übergang vom festen Boden unter den Füßen in eine wacklige, schwerer zu kontrollierende Position. Seien es die Betonburgen an der belgischen Nordseeküste, die den Blick automatisch gen Meer richten lassen, weil es in der entgegengesetzten Richtung nur Grau zu sehen gibt. Oder sei es der geschichtsträchtige Utah-Beach in der Normandie, der eine weitere Wende im Schicksal der Welt einleitete. Oder sei es der Strand von Lesbos, an dem immer so lange Geschichte geschrieben wird bis die erste Welt der dritten Welt die Würde zurückgibt. Zwischendrin verbuddelt Bettina Baltschev die wortintensiven Glücksmomente von Truman Capote bei seinem Ischia-Besuch. Zu einer Zeit als Deutsch als zweite Amtssprache auf der Insel durchaus eine Berechtigung hatte.

Wer bei dem Untertitel „Über den Strand“ leutselige, kitschverkrustete Geschichten von Lagerfeuer unter Palmen, bis zum Anschlag romantische Ausflüge im untergehenden Sonnenlicht erwartet, wird sich im Handumdrehen vom literarischen Ausflugsangebot der Texte eines Besseren belehren lassen. Englands Vorzeige Badeparadies Brighton wird als logische Schlussfolgerung des Dranges nach dem Meer, der Ferne und des Strandes in seiner Entwicklung so dargestellt, dass selbst hoffnungslose Romantiker gestehen müssen, dass auch dies eine Art Sehnsucht ist, die man mit Brighton ruhigen Gewissens verbinden kann.

Dass Hiddensee unbestritten nur auf eine Art zu sehen ist – als Künstlerkolonie, die schon sehr früh als erhaltenswert anerkannt wurde – wird in keiner Zeile des Kapitels über die Ostseeinsel angezweifelt. Wer den Strand sucht, findet unweigerlich den „Rand der Glückseligkeit“ – ob „in echt“ oder in diesem Buch sei dahingestellt. Beide führen zum Ziel.