Archiv der Kategorie: Literally Britain

Wenn Ewigkeit vergänglich wird

Im Urlaub suchen viel Ruhe und Erholung. Andere suchen die Action, um mit erhöhtem Adrenalinspiegel die Sorgen hinwegzuspülen. So ein erhöhter Adrenalinspiegel wäre auf einem Friedhof durchaus unangebracht. Hier flaniert man. Schaut links und rechts. Atmet tief ein. Lauscht der Stille. Und fürs Auge ist auch meist was dabei. Zum Beispiel wenn man die Gartenfriedhöfe Londons erkundet. Was scheinbar verklärt – „Wenn die Ewigkeit vergänglich wird“ – daherkommt, ist ein Juwel unter den Büchern zu diesem Thema.

Die Fülle an Abbildungen – das reicht von historischen bis aktuellen Fotos über Zeitungsausschnitte bis hin zu Skizzen – bricht wie eine gigantische Welle über den Betrachter herein. Die Autorin Georgia Rauer lässt zwar keine Toten wieder auferstehen, gibt aber den Weg frei, um diese architektonischen Stätten der Ewigen Ruhe wirken zu lassen.

London wuchs vor zweihundert Jahren wie kaum eine andere Stadt. In der Stadt fanden unzählige Menschen Arbeit. Schufteten sich die Buckel krumm … und ja, sie starben auch. Ganz natürlich oder manchmal auch unfreiwillig. Doch wohin mit den leblosen Körpern? Windige Geschäftemacher ließen die Leichen mehr oder weniger verrotten, was oft zu einem bestialischen Gestank führte – Enon Chapel brachte es zu einem zweifelhaften Ruf. Später entstand hier ein Tanztempel, der mit den Worten „Tanz auf den Toten“ warb.

Das viktorianische Zeitalter – und in dieser Zeit entstanden die sieben Gartenfriedhöfe Londons war auch geprägt durch die Trauer der Queen, die nach dem Tod ihres Alberts kategorisch schwarzgekleidet auftrat. Als Stilikone ihrer Zeit, und das war sie nun mal, ob sie es wollte oder nicht, prägte sie auch die Bestattungskultur.

Wer heutzutage diese Friedhöfe besucht, kann sich stundenlang auf ihnen bewegen. Botanisches Meisterwerke auf verwunschenen Pfaden, kleine architektonische Perlen, Ruheoasen. So kennt man London nun wirklich nicht. Dieses Buch ist das gelungene Rüstzeug für diejenigen, die London wirklich einmal anders erleben wollen. Abseits von Trubel, Shopping-Overkill und maßlos überteuerten Restaurantbesuchen. Hier herrschen andere Regeln. Bedächtig setzt man einen Schritt vor den anderen und liest ein wenig in diesem Buch. Von der extrem hohen Kindersterblichkeit, von der Verzweiflung der Menschen, aber auch von seelischem Frieden und erhabener Gediegenheit. Spaziergänge über die viktorianischen Gartenfriedhöfe gehören zu den eindrucksvollsten Erinnerungen in einer der eindrucksvollsten Städte der Welt.

Love letters

Was wäre eigentlich, wenn Virginia Wolf und Vita Sackville-West heute leben würden? Sie würden sich heutzutage auf einem Charity-Event kennenlernen, wo sich die C-Promi-Garde mit der D-Kategorie ablichten lässt, weil sie so mehr Follower generieren würden. Hinter vorgehaltener Hand würde eine Viertelfinalteilnehmerin einer Casting-Show oder ein Teilnehmer bei einem menschenverachtenden Reality-Format mit einem leichten Grinsen das Gerücht verbreiten, dass sie und sie, Virginia und Vita

– die Namen würden schon mal zu den TV-Formaten passen … – etwas miteinander hätten. Eine hektisch sprechende Moderatorin würde aus ihrem „Was ist denn da passiert?“-Monolog eine Sensation ankündigen. Und die beiden selbst? Sie würden elegant, aristokratisch, gelangweilt den bunten Mikrofonen und den kreischenden Zurufen der Fotografen die kalte Schulter zeigen.

Denn sie haben sich, haben einander, haben ihre Gatten, Freunde, Geschäftspartner (oft in Personalunion) und würden trotzdem schwitzen wegen der vermeintlichen Hetzjagd. Doch im Vergleich zu damals – Virginia Wolf und Vita Sackville-West lernten sich 1922 bei einem Dinner kennen – wäre die Hetzjagd nach ein, zwei Wochen vorüber. Bis, ja bis sie sich wieder öffentlich zeigen (vielleicht sogar gemeinsam?!) und das Getuschel von Neuem beginnt.

Was hätten sie dann noch? Ihre Social-Media-Kanäle, in denen sie in wohlgewählten Worten auf die Missstände in der Gesellschaft hinweisen. Vielleicht würden sie die Regenbogenfahne schwenken, was ihre Partner ungewollt in die Regenbogenpresse ziehen würde. Würden die beiden gendern?

Oder würden Virginia Wolf und Vita Sackville-West den abgemagerten Promiklatschreporterinnen und den leicht zu Übergewicht neigenden Promireportern (das ist eine ganz subjektive Einschätzung, aber passt irgendwie ins Bild, oder?!) frontal entgegentreten und Gegenfragen stellen, die jeden Unterton entlarven?

Ach es wäre ein Fest für alle, die die beiden Autorinnen für ihr Tun verehren! Zum Glück waren die Zeiten als die beiden sich ihre Liebe in unzähligen Briefen und Tagebucheinträgen gegenseitig versicherten anders. Geschliffene Worte, erhabene Sehnsucht, feuriges Verlangen und schnippige Bemerkungen ohne dabei bewusst verletzen zu wollen. Dieses Buch ist ein meisterhaftes Beispiel dafür, das Liebe und Zuneigung laut und leise, offen und verborgen, zart und roh zugleich ist – die Außenwelt darf zusehen, aber nicht eingreifen. Zwei unabhängige, starke Frauen, die nicht müde werden in ewiger Verbundenheit getrennt und zusammen jeglichen Konventionen zu trotzen!

Mord auf der Kreuzfahrt

Eine Kreuzfahrt soll es sein, die Clare aus ihrer Schaffenskrise holt. Griechenland und die Insel des Dodekanes. So hat Nigel es sich ausgedacht, so wollen sie es versuchen. Und damals wie heute ist es ein köstliches Vergnügen an der Reling zu stehen und die Ankommenden vorab zu analysieren. Witwen, Witwentröster, seltsame Geschwisterpaare, ein Geistlicher nebst Gemahlin, dessen Bart sich beim Essen bewegt als sein Talar im heftigsten Küstensturm. Und ein Naseweis mit dem Drang alles in ein Notizheft zu schreiben. Nigel und Clare haben sichtlich Spaß bei der Tradition des Leute-Anschauens. Auch wenn ihnen so mancher Gast nicht willkommen erscheint. Man kennt sich aus der englischen Heimat und hegt so manches Vorurteil gegenüber den Anderen. Aber was soll’s: Es ist Urlaub, und die Reise dient einem guten Zweck (dem Clare wieder kreativ werden zu lassen).

Die Ausflüge zu den Tempeln, den Ruinen griechischer Tempel und das dazugehörige Geplänkel mit den Mitreisenden lassen schon dunkle Wolken am Horizont erahnen. Nigel und Clare fasziniert von allem was um sie herum vor sich geht.

Bis … ja, bis sich endlich der Titel dieses Krimis in seiner vollsten Pracht zu erkennen gibt. Frau über Bord, Mord – Nigel Strangeways ist nun gefragt. Denn er ist nicht nur Clares bester Freund, der diese Kreuzfahrt organisiert, um ihr zu helfen. Er ist außerdem Detektiv. Einer von der unermüdlichen Sorte. Einer mit Pfiff!

Es ist die Zeit, in der die steife Etikette an Bord von Dampfern langsam einem legereren Umgang weicht. Noch nicht ganz die Ära der Flipp-Flopp-Träger, die sich wundern, dass der Ouzo in Athen wie der Raki in Istanbul schmeckt. Doch der Umgangston ist ähnlich explizit.

Nicholas Blake nimmt den Leser mit auf eine mörderische Reise, die im Literaturbetrieb längst schon ein eigenes Genre kreiert hat: Kreuzfahrtmorde. Von Dr. Crippen bis Colombo kommt man nicht mehr umhin diese besondere Location für die menschlichen Abgründe zu verwenden. Nigel Strangeways – der Name ist Programm – geht seine eigenen Wege, um den oder die Täter dingfest zu machen. Fast könnte man meinen, dass das eine Familiensache ist. Denn Nicholas Blake ist ein Pseudonym. Er war Hofdichter der Queen und begann aus wirtschaftlichen Gründen Krimis zu schreiben. Sein richtiger Name lautete Cecil Day-Lewis. Und bei dem Familiennamen wird man hellhörig: Er ist der Vater von Daniel Day-Lewis, dem Schauspieler. Der hat seine Karriere – und hier ist die Parallele zum eigensinnigen Meisterdetektiv Strangeways – (vorübergehend) an den Nagel gehängt. Ein außergewöhnlicher Autor mit einer außergewöhnlichen Familiengeschichte und ein außergewöhnlicher Krimi – was will man mehr?!

Clockwork Orange

Alex (15) sitzt mit seinen Freunden in einer Bar. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Als sie aufbrechen, wissen sie noch nicht, was sie erwartet. Ihnen liegt die Welt zu Füßen – im wahrsten Sinne des Wortes. Wie eine Horde marodierender Jugendlicher hinterlassen sie eine blutige Spur der Verwüstung. Mit geschwollenen Worten traktieren sie ihre Opfer, prügeln und vergewaltigen, was das Zeug hält. Bis der lange Arm des Gesetzes Alex, ihren Anführer, in den Würgegriff nimmt. Das Urteil: Gefängnis. Wenn er allerdings an einem Umerziehungsprogramm teilnimmt, wird er begnadigt. Alex nimmt an und erlebt eine echte Horrorshow. Kann man „Clockwork Orange“ wirklich so nüchtern betrachten? Njet!

Denn Alex und seine Droogs, seine Freunde, sind ein Produkt ihrer selbst. Sie sind die erste Generation nach dem Krieg. Sie haben nie kämpfen müssen. Sie wollen die neue Zeit genießen. Aber bitte nur die schönen Seiten! Sie haben keine Wahl, im Sinne von Auswahl. Ihre Opfer sind willkürlich auserkoren ihre Rolle zu spielen. Ihre Opfer sind keine echten Gegner. Meist sind sie so verdutzt, dass sie viel zu spät merken wie ihnen geschieht. Und selbst wenn sie vorausschauend sind, finden Alex, Dim, Pete und Georgie (die wahren Beatles?) einen Weg doch zu ihnen vor- bzw. in sie oder ihre Komfortzone einzudringen. Bei einem ihrer nächtlichen Streifzüge entdecken sie das Manuskript eines Autors, „Clockwork Orange“. Alex ist fasziniert von dem Werk. Und von der Frau des Verfassers. Und von der Idee sich mal so richtig auszutoben. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Auch so könnte man „Clockwork Orange“ beschreiben. Aber dem eigentlichen Faszinosum „Clockwork Orange“ ist man immer noch nicht auf die Spur gekommen.

In den Schestdesiati sitzen Alex und seine Droogs gelangweilt in der Moloko-Bar. In ihrer Mira existieren keine Vorschriften. Sie tun was sie wollen. Viddieren sie etwas, was ihnen gefällt, wird es horrorshow. Bis zum bitteren Ende. Und das kommt in Person des Staates. Mit der Ludovico-Methode sollen Kriminelle eine Aversion gegen Gewalt entwickeln. Alex wird zum Vorzeige-Probanden. Ihm werden im Gefängnis Gewaltszenen vorgeführt. Ihm wird übel, dass er es nicht mehr aushält. Er fleht und winselt nach Gnade. Zur Musik von Ludwig van, der Alex verehrt, wird ihm übel wie er es sich nie vorstellen konnte. Ist Alex nun geheilt? Und was heißt es geheilt zu sein? Den freien Willen zu verlieren?

Als das Buch vor über sechzig Jahre erschien, konnte man anfangs nichts damit anfangen. Gewaltverherrlichend, brutal, unverfilmbar – das waren nur einige Schlagworte, mit denen man versuchte das Buch zu unterdrücken. Es kam anders. Ja, Gewalt spielt eine zentrale Rolle in dem Buch. Und die russischen Begriffe, die Alex und seine Droogs (drug, russisch für Freund), waren sicherlich auch nicht hilfreich im immer kälter werdenden Kalten Krieg eine massenhafte Leserschaft zu erreichen. Doch die Konsequenz, mit der Anthony Burgess – immerhin ein angesehener Autor – seinen Stil durchzieht, mit welcher Vehemenz schlussendlich über den Stoff (Was ist Freiheit? Wie nutzen wir sie? etc.) diskutiert wurde, trugen dazu bei, dass das Buch bis heute unvergleichlich ist. Den Schlusspunkt unter die Diskussion setzt unzweifelhaft Stanley Kubricks Film. Es ist völlig unerheblich der Frage nachzugehen, was den Wunsch diesen Stoff in sich aufzusaugen befriedigt, Film oder Buch? Beides. Denn wer den Filmklassiker gesehen hat, will/muss auch das Buchklassiker lesen.

Es bleibt immer die Frage im Raum stehen, was Freiheit wirklich bedeutet (und dabei muss man die Allwissenden aus den Straßenumfragen und Pseudointellektuellen ausblenden) und wie weit diese eingeschränkt wird. Wenn Opfer zu Tätern werden, ist das niemals ein Fortschritt. Dieses Buch zu lesen und anschließend den Film aufzusaugen, ist mehr als nur ein Anfang. Wofür auch immer … Schlussblende … Ende

Schaurig-schönes Europa

Wenn der Urlaub etwas ganz Besonderes werden soll, dann sind außergewöhnliche Orte das Salz in der Traumsuppe dieser Erinnerungen. Die Bilder, die man sich selbst in diese Erinnerungen pflanzt, müssen einem ganz bestimmten emotionalen Bild entsprechen. Auch wenn sie nur für den Bruchteil einer Sekunde vor dem Auge erscheinen oder für die Dauer eines Spazierganges existieren. Mit allen Sinnen wird dieser Moment für Ewigkeit festgehalten.

So wird man beispielsweise in Craco in der Basilikata im Süden Italiens, nahe der Felsenstadt Matera, auf einen Ort treffen, aus dem das Leben schon vor einem halben Jahrhundert geflohen ist. Oder besser gesagt, es wurde aufgegeben als Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach einem Erdrutsch es als zu gefährlich angesehen wurde hier weiterhin zu leben. Zuvor lebten hier mehr als tausend Jahre Menschen. Heute erinnern nicht einmal mehr Glasscheiben an eine Zivilisation. Dass hier ein Leben möglich war, ist dennoch nicht wegzudiskutieren. Straßen und Gassen existieren noch. Auch die Raumaufteilung der Häuser ist noch klar erkennbar. Umgestürzte Möbel verweisen auf ihre ehemaligen Bewohner. Und dennoch herrscht hier eine gespenstische Ruhe. Ein verlassener Ort, der einem den Schauer über den Rücken jagen kann.

Brodelnd und voller Leben – dennoch nicht minder lost place – ist der Rio Tinto in Andalusien. So ein Rot in einem Fluss hat man noch nie gesehen. Baden ist nicht ratsam. Der Sauerstoffgehalt ist zu gering, der Säuregehalt hingegen um ein Vielfaches zu hoch. Optisch ist der Fluss ein Augenschmaus und trägt sicher dazu bei sich auch noch Jahre später genau an das meiste zu erinnern.

Über glasklares Wasser schwebt man förmlich im Höhlensee von Tapolca, nördlich des Balatons. Auch hier fühlt man sich wie in einer fremden Welt. Prächtige Farbenspiele, gespenstische Ruhe und alles unter der Erde. Das Höhlensystem ist vulkanischen Ursprungs und kann heute recht gemütlich bereist werden.

„Schaurig-schönes Europa“ ist ein Reiseband, der bei jedem Umblättern das Reisefieber steigen lässt. Stimmungsvoll in Szene gesetzt und mit verheißungsvollen Texten gespickt, macht dieses Buch Appetit auf echte Abenteuer.

Der Berg der Träume

Was wissen wir – Leser – schon von der Qual und Pein einen Roman zu schreiben?! Und schon gar nichts davon wie es ist einen wirklich guten, allen Ansprüchen genügenden – vor allem denen des Autors – aufs Papier zu bringen. Wir können ihm allerdings beim Schaffensprozess tief ins Herz blicken. Zumindest, wenn wir Arthurs Machens „Der Berg der Träume“ tief und innig in uns aufsaugen.

Es ist sicherlich kein Leichtes dem Autor, der in diesem Fall der Protagonist des Buches ist, vollends folgen zu können. Wie gesagt: Wenn man selbst nicht Schreibender ist, kann man nur staunend folgen. Die Berge sollen Inspirationsquelle sein. Die Ruhe, die von diesen Erhebungen ausgeht, soll Quell unendlicher Erlösung sein. Das Mysterium der Ruhe, in dem die Sinne so geschärft sind, wie es sonst nirgendwo auf der Welt sein kann.

Als Gegenpol dient das monströse London. Ruhe hier zu finden ist zwecklos. Das will der Autor auch gar nicht. Er weiß, dass Gegensätze immer ein guter Ansatz für Großes sein können. Auch Verzweiflung und Verdammnis sind gute Ratgeber. Mit ihnen gehen zwangsläufig Schmerzen und Qualen einher. Es ist ein Kreuz mit der Kunst, wenn einem nicht alles in den Schoß fällt. Wenn es doch einmal passiert, dann ist es keine richtige Kunst…

Die Werksausgabe mit den wichtigsten Texten von Arthur Machen – dieser Roman stammt aus dem Jahr 1906 – beschließt eine Reihe von Werken, die so teils noch nie ins Deutsche übersetzte bzw. auf Deutsch veröffentlicht wurden. Arthur Machen zerreißt sich einmal mehr für den Leser und sein hehres Ziel mit Literatur nachhaltig zu wirken. Leider geriet er über die Jahre fast in Vergessenheit. Seine Werke waren nur einem exklusiven Zirkel bekannt. Diese sechsteilige Ausgabe setzt dem einen endgültigen Schlussstrich! Vergleiche mit Edgar Allan Poe beispielsweise, der dem gleichen Publikum zu Diensten ist, sind zulässig. Treffen aber bei Weitem nicht den Kern. Machen war ein Autor, der sich seiner selbst bewusst war. Pures Entertainment ist nicht sein Ziel. Poes sicher auch nicht. Aber die Marketingmaschinerie hinter Poe, die bis heute unaufhörlich läuft, ist Machen verwehrt geblieben.

Arthur Machen ist das Juwel der romantisch-schaurigen Geschichten. Bei ihm ist das Weiterlesen, das Zwischen-Den-Zeilen-Lesen unabdingbar. Hat man einmal den Dreh raus, taucht man in eine vollkommene unvollkommene Welt ein.

Der große Pan

Da reden alle von künstlicher Intelligenz und ihren Gefahren, warnen davor, dass Realität und Kreativität nicht mehr voneinander zu trennen sind. Und dann kommt (endlich mal wieder) dieser Roman an die Oberfläche. Ein Schnitt hier, ein Schnitt da, und schon hat der Doktor einem unschuldigen Wesen aus der Gosse neues – ein würdiges – Leben eingehaucht. So war zumindest der Plan. Doch das Treffen mit Pan, den Lausejungen, dem Schelm, dem Gescheiterten hat Folgen, die der Operateur niemals hätte einschätzen können.

Arthur Machen schafft es mit eindringlichen Worten und unbeirrbarer Konsequenz einen lang anhaltenden Schauer über den Rücken zu jagen. Oft muss man absetzen, um es fassen zu können, was da jetzt wirklich passiert. Mystisch, herausfordernd und so ganz und gar nicht romantisch verklärt, zieht er den Leser in einen Sumpf aus wissenschaftlicher Neugier und tiefstem Horror.

Hier ist kein Frankenstein am Werk – auch wenn die Entstehungszeit durchaus diesen Vergleich zulässt. Hier werkelt ein Meister seines Fachs – Arthur Machen – an einer Geschichte, die dem Leser im wieder stutzen lässt. Hat er das jetzt wirklich so geschrieben? Ist das wahr? Mutig! So kann und muss die einzig logische Schlussfolgerung nach dem Genuss von „Der große Pan“ lauten.

Die zweite Geschichte in Band 5 der Werksausgabe heißt „Das innerste Licht“. Man kann sie als eigenständige Geschichte ansehen. Doch erst im Zusammenspiel mit „Der große Pan“ ergibt sich ein weitreichender Kosmos, der jeden auch noch so kleinen Zweifel an der Genialität Arthur Machens hinfort wischt. In Zeiten, in denen oft sinnfreie Kurznachrichten den Ton angeben, sind die ausladenden Gedankenspiele der getriebenen Protagonisten ein fest für alle, denen Sprache noch etwas bedeutet. Lange Sätze, verwundene Gedanken, auf Wissen basierende Konversation – das kann man gar nicht in Emojis fassen. Auch hier gilt wieder: Je weniger man darüber spricht, desto größer ist der Aha-Effekt beim Lesen.

Als Zugabe, die sie Spannung des Phantasiereigens noch einmal in die Höhe treibt, ist diesem Band „Der aufgeweckte Junge“ aus dem Jahr 1936 angefügt. Zum ersten Mal auf Deutsch. Ein knappes halbes Jahrhundert nach Machens Pan entstanden. Auch hier sei nur so viel verraten: Der Lieblingseinstieg von Arthur Machen in eine Geschichte – ein junger Mann, gebildet, weiß nicht so recht, was er mit sich und seinem erworbenen Wissen anfangen soll – führt den Leser einmal mehr in eine Welt, die bei genauerer Betrachtung seit einer gefühlten Ewigkeit stillsteht. Tief im Inneren kann der kühnste Fortschritt nicht wirken, wenn das Blut nicht in Wallung gerät.

Die leuchtende Pyramide

Wie erzeugt man wahren Schauer? Für Arthur Machen ist die Frage scheinbar mit einem Handstreich zu beantworten: Zwei Männer treffen sich im düsteren London. Sie sind alte Freunde, die sich gern der Literatur widmen. Ihr Gespräch kommt auf den Aberglauben der englischen Landbevölkerung, dem Glauben der Waliser an Elfen und ein verschwundenes Mädchen. Machen gibt noch ein Prise Diebesserie hinzu und lässt die beiden Männer sind in den endlosen, dunklen Wäldern außerhalb Londons herumtreiben. Sie sind wahrhaft phantasiereiche Männer, lassen sich gern in ihren Gedanken treiben. Die Großstadt ist ihnen im Innersten zuwider. Zu viel von allem. Vor allem aber zu viele Reize – in jeder Hinsicht und in einer ganz besonders. Einen Ausweg .. einen Ausweg kennen sie nicht.

Die titelgebende Geschichte „Die leuchtende Pyramide“ entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Arthur Machen war auf seinem schöpferischen Höhepunkt. Vaughan, einer der beiden Männer begegnet Augenpaaren, die sich sprunghaft in einer Mauer vermehren. Das kann einem schon den Tag versauern, wenn man zart besaitet ist. Und um sein Hab und Gut fürchtet. Und dann ist da noch diese Geschichte mit dem verschwundenen Mädchen – ach, es ist zum Haareraufen. So herrlich schaurig!

Fünf weitere Geschichten folgen, darunter auch „Die Kinder des Teichs“, zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht. Hier sind Andeutungen und Vermutungen, Stimmen die Triebfeder den Erzählungen von Meyrick – da ist er wieder, der Name ist Machen-Lesern wohl bekannt – weiter zu folgen. Raus aus der Stadt, rein in die weite Natur. Bis alte Freunde auftauchen und von ihren für alle unverständlichem Erscheinungen berichten.

Arthur Machen versteht es vorzüglich dem Leser das Blut in den Adern gefrieren zu lassen, bloß mit der Macht der Phantasie. Hier sind keine blutrünstigen Racheengel unterwegs, die ihre Hauer ins gepeinigte Fleisch des Schuldigen rammen. Hier wird sehr subtil ein perfides Spiel mit den Sinnen getrieben. Alles ist greifbar und dennoch bekommt man die Teufel nicht zu fassen. Es sind die Teufel, die im eigenen Körper, vor allem aber im Kopf ihr Unwesen treiben. Das schlechte Gewissen? Ha, da freut man sich doch, wenn man selbst davon verschont bleibt und sich am Leid der Anderen laben kann. Literarisch gesehen, natürlich!

Der geheime Glanz

Die Schule ist für Ambrose Meyrick kein Zuckerschlecken. Die Gebühren für die Privatschule werden ihm nur dann zur Last gelegt – sprich man erinnert ihn daran, dass er doch ein solch gute Ausbildung genießen darf und deswegen sich jedweder Regel zu beugen hat – wenn er mal wieder aus der Reihe tanzt. Und Meyrick tanzt gern und vor allem oft aus der Spur. Geschichte, Mythologie, Architektur – das interessiert ihn. Sport hingegen weniger. Doch der wird als Teambuilding-Maßnahme angesehen. Die Suche nach dem heiligen Gral, Wissen, ist für ihn eine Tortur sondersgleichen.

Arthur Machen verarbeitet in seinem Roman von 1908, der erst 1922 veröffentlicht wurde, seine Erfahrungen mit dem englischen Schulsystem. Auch ihm lagen Abschweifungen näher als der Fokus auf den geradlinigen Wissensstrang. Das Ergebnis: Arthur Machen gilt als Begründer des mystischen Romans, der Schauergeschichten. Leider ist er – und bestimmt nicht wegen seiner Abschweifungen – ein wenig in Vergessenheit geraten.

Die Werkausgabe aus dem Elfenbein-Verlag verhilft ihm wieder in den Rang aufzusteigen, der ihm zusteht. Allein schon die Aufmachung der sechsbändigen Reihe lässt das Herz eines jeden höher schlagen, der Gänsehaut nicht nur bei Temperaturschwankungen empfindet, sondern beim Lesen sich in eine Welt versetzen lassen kann, die nur der Phantasie entspringt.

Man taucht mit jeder Seite in eine Welt ein, die längst vorüber gezogen scheint. Nur in Ansätzen sind der Wissensdurst und die Bruderschafterei noch heute erkennbar. Doch Machen gibt in „Der geheime Glanz“ denjenigen Mut mit auf den Weg, die sich in der Figur des Ambrose Meyrick selbst erkennen mögen. Ein Träumer ist dieser Meyrick nicht. Ein Phantast vielleicht. Ein Schwärmer auf alle Fälle.

Arthur Machen lässt keine Peitschen knallen oder Pistolen die Nachtstille zerreißen. Detailliert lässt er den Leser am Unheil seiner Protagonisten teilhaben. Jede noch so winzige Kleinigkeit, die der Held erlebt, in sich trägt oder erfahren muss, wächst sich zu einem gigantischen Berg des Unmuts heraus, so dass – wie im Fall des Ambrose Meyrick – diesen nur ein Ausweg als möglich erscheint. In „Der geheime Glanz“ durchaus sehr drastisch, dennoch nachvollziehbar. Wer Empfindungen nicht nur als Signal wahrnimmt und sich in Menschenseelen hineinlesen kann, der kommt an Arthur Machen, und schon gar nicht an „Der geheime Glanz“ vorbei.

Die drei Häscher

Mr. Phillipps und Mr. Dyson – vom literarischen Gott per Zufall zusammengeführt, verbindet die Liebe zu Büchern. Man trifft sich, man streitet ohne jemals Groll aufkommen zu lassen, man steigt in die Tiefen der Phantasie hinab.

Eines Tages klopft Dyson an der Tür von Phillipps. Zu wohlerzogen um mit wahrhaften Gefühle herauszuplatzen, erzählt er ihm, was geschah. Er trödelte – ein Gentleman seines Schlages trödelt nicht, er genießt die Ruhe der Dämmerung der Nacht – also beim Genuss der dämmerigen Abendstimmung vernahm Mr. Dyson ein Geräusch. Er konnte es erst nicht einordnen. Dann bemerkte er wie ein Goldstück an ihm vorbeirollte und dann (fast) von der Kanalisation verschluckt wurde. Fast! Er beugte sich hinunter, um den vermeintlichen Penny an sich zu nehmen. Hier nun bemerkt er den wahren Schatz, den er zwischen den Fingern hält. Eine, ach was, DIE römische Münze. Ein goldener Tiberius. Selten, wenn nicht sogar einzigartig. Was die Geschichte so gruselig macht – es handelt sich um ein Buch von Arthur Machen! – ist die Tatsache, dass Dyson nur durch seine eigene Vorsicht auf den Fund aufmerksam wurde.

Hinter sich hörte er Schritte. Er ging in Deckung, suchte Zuflucht in einer dunklen Ecke, so dass ihn der Schritterzeuger nicht entdeckte. Der Plan ging auf. Ein zweiter Mann folgte. Folgte dem Ersten. Bewaffnet. So viel steht fest. Und Dyson in der dunklen Ecke. Phillipps erfreut sich an dem Abenteuer seines Freundes. Doch mehr auch nicht. Auch weil er die Geschichte um die Goldmünze kennt. Und sein Wissen bereitwillig mit Dyson teilt.

Dyson hat kurz darauf eine wirklich befremdende Begegnung, mit Mr. Wilkins. Ziemlich komischer Kauz, dem Dyson irgendwie helfen muss, meint er. Als Dank erzählt ihm Wilkins eine Geschichte, die so ungeheuerlich ist, dass Dyson fast das Blut in den Adern gefriert. Sie handelt von einer Reise, fast ohne Wiederkehr. Von blutrünstiger Lynchjustiz. Dyson ist erschüttert, aber vor allem fragt er sich, warum der fremde Wilkins ihm so bereitwillig diese Schauergeschichte erzählt hat.

Arthur Machen lässt den Leser ordentlich zappeln bis er endlich ein wenig Licht in seine Geschichte der „Drei Häscher“ bringt. Das sind üble Gesellen, mit denen nicht gut Kirschen essen ist. Und sie sind verschwiegen, fast unsichtbar. Erkennt man sie, ist es eigentlich schon zu spät. Das muss auch Dyson erfahren. Und Phillipps ist auch nicht ganz ausgenommen von der Gefahr seinem geordneten Leben den Rücken zu kehren…