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Seelenfrieden

So intensiv wurde Istanbul noch nie beschrieben! Mümtaz ist Istanbuler. Er ist es mit dem ganzen Herzen. Ein Mensch, den man gern um sich hat, weil er so warmherzig ist. Grüblerisch, sensibel, leidenschaftlich – wo wie Istanbul. Mümtaz ist Istanbul. Er leidet, wenn er leiden muss. Er lacht, wenn er lachen muss.

Und er lächelt als er Nuran trifft. Auch sie lächelt. Und für einen Sommer lang trägt jeder Tag, jede Minute, jeder Sonnenstrahl das Lächeln in sich, das Mümtaz und Nuran füreinander haben. Mümtaz schwärmt Nuran von Kristallen der Melodien vor, und sie auf ihn reflektieren. So blumig, so bildhaft, so farbenprächtig ist das Leben für ihn im Moment. Er ist erfahren genug zu wissen, dass es nicht immer so bleiben wird.

Wir sind in den 30er Jahren in Istanbul. Die Türkei hat sich in der jüngeren Vergangenheit rapide verändert und geöffnet. Mümtaz schwärmt von Wagner und Debussy gleichermaßen wie von einheimischen Musikern. Sanft greift er Nurans Hand und zeigt ihr Istanbul, die die große Stadt nur von Weitem kennt.

Nuran steht als geschiedene Frau immer noch bzw. wieder unter der Fuchtel ihrer Mutter. Frei sein ist anders. Doch Nuran sieht in Mümtaz mehr als nur einen Freund, er ist ihr Geliebter. Auch wenn sie es sich nicht von vornherein eingestehen will.

Die Leidenschaft, die Mümtaz und Nuran füreinander empfinden, ist der Nährboden für Suats Hass. Er will Nuran. Und er will nicht, dass es ein Mümtaz und Nuran gibt. Und er verbeißt sich in den Gedanken, die beiden Liebenden auseinander zu bringen.

Mümtaz, Nuran und Suat sind wie drei Säulen eines Lebens: Freude und Angst, Liebe und Hass, Vergangenheit und Zukunft. Wo Licht ist, ist auch Schatten. So hell die Liebe strahlt, so dunkel sind die Wolken der Verbitterung. Am anderen Ende des Mittelmeeres fallen schon die ersten faschistischen Bomben, während Istanbul aus dem Dunkel der Geschichte ins Hell der Moderne tritt. Kontinentaleuropa ist schon zerrissen – Istanbul und die Türkei versuchen gerade den Spalt zwischen Orient und Okzident zu kitten. Und mittendrin eine Liebesgeschichte, die exemplarisch wie keine andere für diese Zeit steht.

So kaltherzig, so grau, so unwirtlich die aktuelle in so manchen Augen erscheinen mag, so überbordend hoffnungsvoll, bunt und einladend ist Istanbul in den Worten von Ahmet Hamdi Tanpınar. Eine Liebeserklärung an Istanbul und das Leben, gleichzeitig die herzlichste Einladung an den Leser die gelesenen Zeilen hautnah zu erleben.

Der Spaziergänger von Aleppo

Es muss sich zynisch für Niroz Malek anhören, wenn ihm der Ratschlag gegeben wird, mal wieder einen Spaziergang zu unternehmen. Tief einzuatmen, die Lungen zu füllen, Kraft tanken. Niroz Malek wohnt in Aleppo. Niroz Malek LEBT in Aleppo, dem Sinnbild der blinden Zerstörungswut einen perfiden Regimes und seiner oft nicht minder perfiden Gegner. Und zwischendrin die, die einfach nur einen ganz normalen Alltag haben wollen. Und ungestört spazieren gehen wollen.

In Aleppo und in ganz Syrien gibt es mittlerweile eine halbe Generation Menschen, die das Wort Frieden nur vom Hörensagen kennt. Kaum ein Tag, an dem nicht eine Granate einschlägt, das Zischen einer Rakete die Luft durchschneidet oder ein herrischer Gewehrträger mit Nachdruck seine vermeintliche Macht zur Schau stellt. Die Balkons hängen wie Trauerweiden von den durchsiebten Wänden herab. Immer in Sichtweite: Checkpoints. Wer weiter will, ist auf die Launen der bewaffnete Hüter der Kontrollstellen angewiesen. Auf gut Deutsch: Man kann gar nicht so viel kotzen wie man es bei der Lektüre von „Der Spaziergänger von Aleppo“ möchte. Nicht, weil Niroz Malek schlecht schreibt. Nicht, weil er Teil der groß angelegten Lügenoffensive der gleichnamigen Presse ist. Nicht, weil er auf die Tränendrüse drückt. Nein, nein, nein. Sondern, weil Niroz Malek eindrucksvoll und ehrlich beschreibt, wie er trotz der täglichen, stündlichen, minütlichen Repressionen den Mut aufbringt durch sein Aleppo zu spazieren. Mit mehr als einer Träne im Knopfloch! Und einem mehr als flauen Gefühl in der Magengrube.

Und dennoch gibt es hier so etwas wie Alltag. Einen Alltag, den man sich in friedlichen Regionen nicht vorstellen kann, sich ihn nicht vorstellen möchte. Vor dem man aber die Augen nicht verschließen darf! Niroz Malek geht „wie wir auch“ zum Bankautomaten, um Geld abzuheben. Er bleibt stehen, wenn er etwas sieht, das ihn interessiert. Wir ernten vielleicht einen irritierten Blick, wenn wir unvermittelt stehenbleiben. Er wird sofort weggezogen, weil man an dieser Stelle nicht stehenbleiben darf. Es ist Krieg! Er sieht Frauen und Männer, die trotz all dem, was um sie herum passiert, nicht den Kopf in die Trümmer stecken, sondern sich eine Zukunft aufbauen. Wo auch immer diese stattfinden wird.

Jede dieser über fünfzig Geschichten, die weder in Aleppo noch in Syrien bisher veröffentlicht wurden, sondern bisher nur in Frankreich und Schweden – und nun endlich auch in Deutschland, birgt in sich einen Schatz, den es zu entdecken und zu bewahren gilt. Auch wenn es weltweit immer mehr Wirrköpfe gibt, die meinen, dass das Vergessen nun auch endlich mal zur Geltung kommen muss…

„Der Spaziergänger von Aleppo“ ist im Literaturfrühling 2017 das gedruckte Gewissen eines vergessenden Europas für den vergessenen Syrienkonflikt. Schon wieder so ein zynischer Begriff: Konflikt. Nein, für den Syrienkrieg! Niroz Malek LEBT immer noch in Aleppo, seiner Stadt. Einer Stadt, die auf ihren neu gewonnen Namen in der Weltpolitik gern zugunsten einer Friedensphase verzichtet hätte.

Die Alhambra

Die Alhambra

So was wird ja heutzutage überhaupt nicht mehr gebaut! Richtig! Und das ist auch gut so. Denn Exklusivität hebt das Ansehen. Die Alhambra hat dies allerdings nicht nötig. Eine Burganlage, die fast tausend Jahre auf den Mauern hat und seitdem immer wieder erweitert, verändert und verschönert wurde. Das, was wir heute als Alhambra millionenfach besuchen können, ist knapp achthundert Jahre alt. Der Zahn der Zeit nagt zwar an dem einen oder anderen Bereich, doch vom satten Teller-Bei-Seite-Schieben-Und-Zufrieden ist dieses UNESCO-Weltkulturerbe weit entfernt.

Schatten spendende Alleen, erhabene Säulengänge, wuchtige Türme, gigantische Höfe, filigrane Muster, ach die Liste der Sehenswürdigkeiten ließe sich endlos fortsetzen. Sie in Worte zu fassen, ihr gebührend Respekt zu erweisen, ist schwer.

Sabine Lata wählt einen einfachen und sehr beeindruckenden Weg die Alhambra greifbar zu machen. Auge und Mund sind ihre Werkzeuge. Sie fixiert einen Punkt im Raum, richtet ihre Kamera aus und, klick, ist der Moment als Foto festgehalten. Doch dabei belässt sie es nicht. Kenntnis- und detailreich schildert sie die Besonderheiten der Alhambra. Die, oft doppelseitigen, Bilder vermitteln eine unverhoffte Nähe. Man steht umgeben von grazilen Säulen, vor von Löwen umrankten Wasserbecken, unter im höchsten Maße kunstvoll gearbeiteten Bögen oder in verzauberten Gärten. Von draußen drängt kraftvoll das Sonnenlicht durch Fensteröffnungen, offene Dächer und durch geheimnisvolle Ornamente.

Die Nasriden hatten sich hier niedergelassen und wurden erst vor reichlich fünfhundert Jahren wieder vertrieben. Eine Trutzburg sollte hier entstehen. Ist es auch. Bei so viel Glanz und Gloria mag man als Besucher sich nicht die sicherlich oft blutigen Schlachten vorstellen. Denkt man sich die Touristenströme weg – auf den Bildern im Buch klappt das einwandfrei, es ist keine einzige weiße Tennissocke in Sandalen zu sehen – ist hier ein Ort der Ruhe. Und dieses Buch liefert den gedruckten Soundtrack zum Staunen. Wer noch nie die Alhambra besucht hat, könnte fast an seiner Urlaubsplanung zweifeln. Ist ja alles im Buch! Muss man nicht mehr sehen! Stimmt nur zur Hälfte. Denn das Buch liefert Unmengen an Eindrücken, erspart aber nicht die steigende Reisefieberkurve, vielmehr wird das Fernweh noch verstärkt.

Der letzte Granatapfel

Der letzte Granatapfel

Freundschaften pflegen können, Freundschaften ein Leben lang pflegen können, ist nur auf dem Papier heutzutage eine Leichtigkeit. Die sozialen Medien machen es möglich. Aber echte Freundschaften fußen nicht auf Worten und Emoticons, sie werden erst durch Taten zu dem, was sie sind. In einer Welt, die ganze Völkerstämme auf Wanderschaft gehen lassen, Familien schmerzhaft auseinanderreißen, existieren echte Freundschaften oft nur noch in Erinnerungen und bestehen aus Emotionen.

Muzafari Subhdam und Jakobi Snauber waren einst dicke Freunde. Sie teilten alles. Als Heranwachsende auch den Kampf. Als Peschmerga, kurdische Freiheitskämpfer, standen sie Seit an Seit, und stiegen in die Führungsriege auf. Trotz aller Martialität pflegten die beiden eine tiefe Freundschaft.

So beginnt das Buch „Der letzte Granatapfel“ von Bachtyar Ali. Muzafaris Subhdam sitzt im Gefängnis, einem Schloss. Ein Schloss wie es sich die beiden Freunde einst ersehnten. Irgendwo im Nirgendwo, umgeben von der namenlosen Wüste. Jakobi Snauber schickt ihm regelmäßig kleine Briefchen. Einundzwanzig Jahre geht das nun schon so. Gefangen im Ort seiner Träume. Träume, die keine mehr sind. Nach und nach verblassen auch die Erinnerungen an Damals. Damals als Muzafari und Jakobi ein Herz und eine Seele waren. Die Poesie der Worte, die Bachtyar Ali dem ewigen Gefangenen in den Mund legt, wird nur durch die Zahl Einundzwanzig (einundzwanzig Jahre Einöde, einundzwanzig Jahre Gefängnis, einundzwanzig Jahre Sand) mit der Realität verwoben.

Der Autor meint es gut mit dem kurdischen Grafen von Monte Cristo. Er lässt ihn aus der Isolation entkommen. Wieder mit Jakobi Snauber zusammentreffen. Und vielleicht auch mit seinen Kindern… Den nuancenreichen, wortgewaltigen, poetischen Part übernimmt ab hier Mohamadi Glasherz. Das Meer hat ihn an den Strand gespült. Zu zwei Schwestern, deren Namen Weißer Wind und Weißes Königsmeer bedeuten.

Auch Mohamadi ist auf der Suche. Wie Muzafari sucht er sein Paradies. Doch Mohamadi scheint dem Ziel nicht so weit entrückt zu sein…

Wer im unendlichen Heer der Flüchtenden der Erde nur die Gier nach dem scheinbar materiell besseren Leben sieht. Wer ihnen lediglich die Furcht vor Repressalien und Kugelhagel als „Ausrede“ für Flucht zu gesteht, wird mit diesem Buch eine weitere Komponente für Heimweh und Flucht in seine Überlegungen einbeziehen müssen. Flucht ist immer auch ein Weggehen von Heimat. Heimat nicht als Ort, wo man herumstromert und zufrieden den Tag verlebt. Heimat als emotionaler Anker des eigenen Selbst. Die Vertreibung aus dem selbst geschaffenen Paradies ist die schlimmste Folter von allen. Davon berichtet Bachtyar Ali in „Der letzte Granatapfel“. Es sind keine außergewöhnlichen Worte, die dieses Buch zum literarischen Highlight des Sommers 2016 machen. Es ist die gefühlsvolle Zusammenführung selbiger zu einem gefühlvollen Teppich aus Emotionen, Poesie und dem Drang nach Erlösung ohne menschliches Heldentum. Alle handeln konsequent und versichern sich herzensgut und aufrichtig ihrer Liebe. Die Aktualität der realen Geschichte macht die fiktionale Geschichte greifbar und wühlt mit jeder Zeile das Leserherz auf.

Die Ararat-Legende

Die Ararat-Legende

Da steht ein Pferd vor dem Haus! Ahmet staunt nicht schlecht als er am Morgen erwacht. Ein prächtiger Grauschimmel. Mit reich verziertem Sattelzeug. Ein Geschenk des Himmels. Oder der Götter.

Am Fuße des Ararats ist das Leben karg, genauso wie die Landschaft. Die Menschen sind rechtschaffend und traditionsbewusst. Ahmet kann sich nicht lange über den Gaul freuen. Denn der rechtmäßige Besitzer, der Pascha, will ihn zurück. Er lädt Ahmet und die Weisen des Dorfes in den Palast ein, besser gesagt, er lässt sie vorladen. Die „Delegation“ gibt ihm erst einmal einen Einführungskurs in Tradition. Wenn einem hier in dieser Gegend, zu Füßen des Ararat etwas geschenkt wird, gehört es ihm. Zurückholen ist nicht drin. Der Pascha hört es sich an, sein Puls steigt, bis es zur Explosion kommt. Man wisse wohl nicht wer er sei. Ihm gehöre das prächtige Pferd. Und die Dorfbewohner hätten es ihm gestohlen. Augenblicklich sollen sie ihm sagen, wo das Tier sich befände. Seine Wutrede stößt auf taube Ohren. Ahmet wird eingekerkert. Schlimmeres wird ihm angedroht.

Der Pascha hat drei Töchter. Die beiden Ältesten sind wahre Prachtstücke, elegant, gebildet. Sie lieben es in ihrem goldenen Käfig, im Palast zu leben. Die Dritte schlägt ein bisschen aus der Art. Auch hübsch anzusehen, nicht ganz so feingliedrig wie ihre älteren Schwestern. Gülbahar ist eher bodenständig, hat einen Draht zu den Menschen draußen, vor dem Palast. Und auf einen hat sie besonders ein Auge geworfen…

Yaşar Kemal beweist mit der Ararat-Legende seine unglaubliche Fähigkeit mit sanften Worten einen harten Konflikt auszudrücken. Über allem thront der ehrwürdige Viertausender Ararat, ein wahrhaft heiliger Berg, der den Menschen im Tal immer mal wieder den Weg weisen muss. Er ist die Lebenskonstante der Bergbewohner, wer sich ihm in den Weg stellt, bekommt seinen Zorn zu spüren, doch wer sich liebt, wird ihn ihm Zuflucht finden. Und das ist bis heute so!

Der Schüttler von Isfahan

Der Schüttler von Isfahan

Prozentrechnen für Weltreisende: Wie viele Menschen in Ihrer Umgebung kennen Sie, die schon mal in der Schweiz waren? Garantiert mehr als 90 %. Und in Thailand? 70%? Namibia, Niger, Kirgistan? Weniger als ein Viertel? Und jetzt alles zusammen, also von Armenien und Chile über Iran und Usbekistan bis nach Burkina Faso und Grenada. Es tendiert wohl gegen Null. Darf ich vorstellen: Georges Hausemer. Seines Zeichens Weltreisender und eloquenter Geschichtenerzähler. Und Mister Einhundert Prozent!

Heruntergekommene Hotelzimmer, euphorisch begrüßter Kaffeegenuss, enervierende (russische) Flugzeugpassagiere, die ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, unglaubliche Naturphänomene am Ende der Welt, der ganz „normale Wahnsinn“ in ehemaligen Sowjetrepubliken, missverständlicher Smalltalk im Taxi … die Liste der Geschichten ließe sich unendlich fortsetzen.

Die titelgebende und so viele Assoziationen hervorrufende Story ist derart überraschend, dass man selbst sofort die eigenen Urlaubserlebnisse niederschreiben möchte. Denn das, was Georges Hausemer in den vergangenen Jahren passiert ist, kann jedem passieren. Nur halt nicht so oft und schon gar nicht in so vielen Ländern. Und schon gar nicht kann jeder diese Erlebnisse so pointiert niederschreiben.

Reisen bildet – und es schafft Platz im Hirn für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Der Alltag als Besonderheit ist der Boden auf dem die Reisegeschichten des Autors wachsen. Man muss nur hinschauen. Wachen Auges schreitet Georges Hausemer durch die entlegensten Flecke der Erde. Fast scheint es so, als ob er der Typ ist, den man am Abend an der Bar, auf der Terrasse, im Restaurant irgendwo auf der Welt gesehen hat, wie er mit Stift und Papier bewaffnet seine Eindrücke festhielt. Nicht immer streng nach den Regeln wie er selbst in einer Geschichte einräumt. Denn das A und O der Aufzeichnungen sind Daten und Fakten. Manchmal ist das Erlebte so spannend, so neu, so faszinierend, dass man darüber hinaus diese vergisst. Den Ausführungen tut das keinen Abbruch. Die verlorenen Fakten machen die Texte mystischer und den Autor nahbarer.

Die mehrere Dutzend Geschichten vermitteln einen beeindruckenden Überblick über die Verschiedenheit der Lebensentwürfe der Welt. Geht in Deutschland ein Taxi kaputt, geht gleich die Welt unter. In Armenien oder Georgien nimmt man es hin. Man weiß, dass es etwas länger dauern kann. Die Definition von „etwas länger“ ist im Kaukasus auch eine gaaaaanz andere als bei uns. Aus dem kleinen Luxemburg in die Welt hinausgeschleudert, auf einem Blatt Papier um die Welt reisend, mit spitzer Feder vom Erdball die letzten Geheimnisse kratzend. Georges Hausemer ist der Reiseleiter, den sich jeder wünscht. Und sei es nur in Buchform.

Mögen deine Augen leuchten

Mögen Deine Augen leuchten

Es gab eine Zeit, da musste man selbst auf der weltgrößten Reisemesse ITB in Berlin ziemlich gründlich suchen, um auch nur eine sehr kleinen Prospekt mit Informationen über Iran zu bekommen. Man reiste einfach nicht in den Iran. Warum? Krieg, Sanktionen, Drohgebärden. Doch seit einigen Jahren steigt die Anzahl der Aussteller stetig und vor allem gewaltig an. Teheran, Isfahan, Yazd, Persepolis, Shiraz sind die am meisten angepriesenen Reiseziele in dem Land, das so eine reichhaltige Geschichte hat. Bita Schafi-Neya ist im Iran geboren, lebt in Deutschland und verbringt ihre Urlaube regelmäßig in ihrer zweiten Heimat.

Und nun berichtet sie – nach der Lektüre sagt man „endlich“ – über Iran. Doch ihr Buch ist mehr als nur ein Reisebericht mit exklusiven Eindrücken. Sie will und kann die Zusammenhänge der Geschichte, die Verbindungen in die Gegenwart nicht außer Acht lassen. Und so wird jedem Kapitel, jedem Ausflug, jeder neuen Geschichte eine Lektion in älterer und jüngerer Geschichte beigefügt. Als Leser fühlt man sich nicht gleich wie in Tausendundeiner Nacht, vielmehr in einem Land, von dem man einfach nicht viel weiß.

Iran ist ein fortschrittliches Land. Frauenquote? In Deutschland ein heiß umkämpftes Thema, bei dem sich die großen (fortschrittlichen) Konzerne immer noch schwertun. Im Iran Alltag. Allerdings muss man auch zugeben, dass es immer noch sehr schwierig ist überhaupt eine Anstellung zu bekommen. Iran ist auch ein Land der Gegensätze.

Allein schon wegen der blumigen Umschreibungen der Eindrücke lohnt sich dieses Buch zu lesen. Riesige Basare mit klaren Strukturen – eine Gasse pro Handwerk – locken mit ihren Handwerkern und Produkten. Wie in einem fernen Land wandelt Bita Schafi-Neya durch ein Land, das sie besser kennt als die meisten ihrer Kollegen, Freunde und Nachbarn, und das sie immer noch überraschen kann.

Als Leser ist man auf der Sonnenseite des Reiselebens. Eine Reiseleiterin, die ihr Spielfeld kennt. Eine Autorin, deren Schreibstil gefällt. Ein spannungsgeladenes Land, das mit Gastfreundlichkeit und unermesslichem Reichtum auf neue friedliche Eroberer wartet. Was will man mehr? Leuchtende Augen!

Die Fremde im Spiegel

Die Fremde im Spiegel

Es ist dunkel in dem großen Haus. In dem Haus, in dem Hanan wohnt, zusammen mit ihrem Mann und der Dienerin Alia. Dunkel wie die Nacht nur sein kann. Ein Lichtstrahl durchschneidet das Nachtschwarz scharf wie ein Schwerthieb. Leises Wispern. Ohne das Licht kaum wahrnehmbar. Hanan folgt dem Licht. Die offene Tür zum Gemach ihres Gatten steht offen. Nur ein ganz klein wenig, doch genug um den Korridor ausreichend zu erhellen. Da liegt, erschöpft, mit einem Gesicht, das sie so noch nie gesehen hat. Aber sie hat eh nie auf sein Gesicht geachtet, wenn sie sich vereinigten. Um ihn geschlungen liegt Alia. Glücklich sieht anders aus. Doch sie ist da. Das reicht.

Das reicht! Hanan schmeißt Alia aus dem Haus. Schickt sie fort. Ihn den namenlosen, treulosen Gatten straft sie mit Nichtachtung – ihm ist es gleich.. Er wird es überleben. Alia aber? Darum sorgt sich Hanan, doch noch wiegt der Verrat schwerer. Im Spiegel trifft sie eine Frau, die ihr gar nicht ähnlich sieht. Eine Frau, die ihr so fremd ist wie die gerade erlebte Situation. Alia, die schöne Dienerin, die mit ihrer Herrin mehr verbindet als nur das bloße Angestelltenverhältnis.

Das große Haus scheint auf einmal noch größer, kälter, unnahbarer, fremd. Und immer wieder die Frau im Spiegel. Und es bietet Raum zur Erinnerung. Hanan erinnert sich zurück an den Tag als Alia ihr angeboten wurde. Das kleine Mädchen, das völlig regungslos an der Hand des „Barbarenvaters“ wie sie ihn nannte für ein Bündel Geld Hanan und ihrem Mann angeboten wurde. Alia war froh endlich dem elterlichen Heim zu entkommen. Hier gab es weder Kindheit noch Freude. Gewalt und Tyrannei bestimmten ihr bisheriges Leben. Ihre Schwester verstarb noch bevor Alia geboren wurde. Der Vater war schuld. Und Alia bekam bei ihrer Geburt den Name der Schwester. Eine schwere Bürde.

Hanan ist in Gedanken versunken und stellt fest, dass Alia und sie selbst etliche Parallelen aufweisen. Auch Hanan war froh dem Martyrium des Elternhauses entfliehen zu können. Ihre Heirat war Mittel zum Zweck. Wie in so vielen syrischen Familien. Und Alia war ihr immer eine treue Gefährtin. Oder doch nicht? War Alia nicht still und heimlich zur Herrscherin über Haus und Hof geworden? Hanan befreit sich nach und nach aus ihrem Kokon, den sie als ihr Leben angesehen hat…

Samar Yazbek reflektiert in „Die Fremde im Spiegel“ das Leben in Syrien vor dem unendlich scheinenden Krieg. Das Schicksal von Hanan und Alia steht exemplarisch für die Traditionen in einem Land, das die meisten seit Jahrzehnten nur als Kriegsschauplatz wahrnehmen. Alia kam als Dienerin in den Haushalt der Familie, die zur Elite des Landes gehört. Hanan stieg durch die Heirat mit dem alten Krokodil, wie sie ihren Mann nur noch abschätzig nennt, in die Oberschicht auf. Die gibt sich in ihrer Langeweile nur mit sich selbst in verrückten Spielchen ab. Das ist kein Leben für Hanan. Und so macht sie sich auf die Suche nach Alia, einem Leben, einer Zukunft.

Stern von Algier

Stern von Algier

Die Zukunft sieht nicht rosig aus, die Gegenwart ist trist. Doch Moussa lässt sich nicht beirren. Er wird der neue Michael Jackson. In einem Land wie Algerien, irgendwann in den 90er Jahren, ein schönes Ziel. Eine Notwendigkeit. Denn ohne Ziel ist man in diesem Land verlassen.

Kablyischer Chanson nennt sich die Musikrichtung, benannt nach der Gegend, aus der er kommt. An der Wand das große Idol, in der Tasche der Walkman. Sind die Batterien leer, verzichtet Moussa auf vieles. Hauptsache das teil dudelt. Auf dem Schwarzmarkt kosten Batterien oft das Zehnfache des normalen Preises. Aber es gibt dort welche. Musik ist sein Leben, sein Traum.

Und es scheint auch wirklich voranzugehen. Er hat Auftritte, bekommt Zeit in einem Aufnahmestudio, Plakate für Konzerte werden gedruckt. Aber es gibt auch die Schattenseiten. Seine Freundin verlässt ihn, seine Freunde sind ihm fremd geworden. Alles ist ihm fremd. Islamisten stehen an allen Ecken. Das Land steckt in einer Krise. Korruption und Machtverlust bestimmen die Gazetten.

Der große Traum rückt immer weiter in den Hintergrund – Moussa wird immer unzufriedener. Die Aufnahmen geraten nicht so wie er dachte. Als sein Lied im Radio gespielt wird – gebannt hockt er sich vor den Empfänger – erkennt er sein eigenes Lied nicht wieder. Völlig entstellt! Er stellt die Verantwortlichen zu Rede, sie ihn im Regen stehen. Die Wut kocht in ihm hoch. Bis… , ja bis es eskaliert!

Aziz Chouaki schreibt in „Stern von Algier“ von einem Mann, der sein Leben selbst in die Hand genommen hat. Doch auf dem nach oben, in ein besseres, hoffnungsvolles Leben, muss er steinige Treppen überwinden. Immer wieder stolpert er von einem Reinfall in den nächsten. Der trostlose Alltag ist noch zu stemmen. Genug Übung hat Moussa schließlich. Doch, wenn es um seine Träume geht, entwickelt er ungeahnte Kräfte. Leider nicht immer zu seinem Besten. Gitarren statt Knarren könnte der Untertitel sein. Ein frommer Wunsch, der dem Schicksal des jungen Musikers als Leitbild dient, und schlussendlich nicht als Enttäuschung für ihn parat hält.

Der letzte Tag des Präsidenten

Der letzte Tag des Präsidenten

Acht Jahre sind Alwan und Randa nun schon verlobt, ein Paar sind sie schon länger. Sandkastenliebe. Doch den letzten Schritt haben sie noch nicht getan. Nicht aus Scham oder Angst. Es fehlen ihnen einfach die Mittel ihrer Liebe den entscheidenden Schups in Richtung Unendlichkeit zu geben.

Die Zeiten sind hart in Ägypten. Anwar as-Sadat hält das Land im Griff, seine Günstlinge es am Tropf. Das Volk kommt kaum über die Runden. An Feste kaum zu denken. Für die beiden kommt eine Hochzeit mit Abstrichen nicht in Frage. Ihre Liebe steht über allem. Doch übersteht sie nicht die Zeit.

Sie beschließen sich zu trennen. Randa soll einen Mann finden, der ihr das bieten kann, was Alwan nicht im Stande ist zu leisten. Und Alwan ebenso. Schweren Herzens, doch mit dem Gefühl etwas Gutes für den Anderen zu tun, setzen sie ihren Plan in die Tat um.

In den Cafés plaudern die Menschen, hetzen gegen die Zeit, resignieren. Hoffnung, sagt man, ist das Letzte, was stirbt. Hoffnung hat hier schon keiner mehr. Ägypten ist ein totes Land. Die Menschen sind es ebenso. Abwechslung bringt nur die Parade zum Jahrestag. Die Armee stolziert geziert und steif an der hübsch aufgereihten Tribüne mit der Regierungsmannschaft vorbei. Staatsgäste machen teils gute Miene zum bösen Spiel. Der Präsident hat sich in Schale geschmissen. Das Volk schaut am Fernseher zu. Die, die sich keinen leisten können, hängen gebannt am Radio. Manche hören die Signale und verheißen rosige Zeiten. Ewig kann sich der Präsident seine Politik nicht mehr leisten. Vorahnung oder hoffnungsvolle Orakeln?

Dann, der große Knall. Erst akustisch, dann in den Köpfen der Menschen. Der Präsident ist tot, hatte seinen letzten Tag. Wenigstens in schicker Uniform. Hoffnung keimt sofort auf. Auch bei Alwan und Randa…

Literaturpreisträger Nagib Machfus setzt die Hoffnungen vieler seiner Landsleute an diesem Tag, in dieser Zeit ein literarisches Denkmal. Ägyptens starker Mann, der die Macht gnadenlos ausnutzte, sich mit Gleichgesinnten umgab und dem Volk oft mehr als sprichwörtlich die Klinge an den Hals setzte, starb bei einem Attentat. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Fernsehstationen aus aller Welt setzten an diesem 6. Oktober 1981 ihr Fernsehprogramm aus und strahlten die spärlichen Bilder nach dem Attentat aus.

Nagib Machfus war 1988 der erste arabische Schriftsteller, der den Literatur-Nobelpreis erhalten hat. Seine Erzählungen und Romane spielen allesamt in Ägypten, in Kairo, teils in den Straßen seiner Nachbarschaft. Auch er wurde bei einem Attentat religiöser Fanatiker schwer verletzt. 2006 starb er im hohen Alter von 94 Jahren in seinem geliebten Kairo.