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Die einzige Frau im Raum

Da steht sie nun auf der Bühne – das Publikum ist außer sich. Sie, die Sissy, hatte die Reserviertheit der Wiener mit nicht einmal zwanzig Jahren in Raserei verwandelt. Das bisschen Naserümpfen wegen der überbordenden Blumensträuße – Zuchtrosen edelster Herkunft – macht ihr nichts aus. Dass hinter der Armada floraler Ehrerbietung eine menschliche Tragödie lauert, kommt ihr zwar zur Ohren. Doch wirft die alle Zweifel über Bord. Fritz Mandl ist der Gönner. Er spendet auch noch standing ovations als alle anderen wieder in ihren Sitzen versunken sind. Fritz wird ihr erster Ehemann. Im Jahr 1933 für eine Jüdin schon ein gewisses Wagnis. Zumal Fritz Mandl ein gewissenloser Waffenfabrikant ist, der Italiens und Deutschlands Kriegstreiber nur allzu willfährig unterstützt. Ach ja, die junge Frau lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch Eva rufen. Ein paar Jahre später sieht ihre Welt ganz anders aus: Der Fritz ist ein brutaler Kerl geworden. Er hält Hof, um den Lamettahengsten der Nazis zu schmeicheln. So mancher Großkopferter geht im Haus Mandl ein und aus. Und zwischendrin die Lichterscheinung Eva. Ein bildhübsches Kind. Mehr als nur zurechtgemachte Staffage für den Kaufmann des Todes (in vielerlei Hinsicht). Sie hat auch Köpfchen. Nein, sie hat mehr als das.

Schon kurze Zeit später wird sie es unter Bewies stellen. Fritz und der Naziterror lassen Eva nur eine Chance: Flucht. Flucht nach Amerika. Louis B. Mayer, genau, der Louis B. Mayer verpasst ihr einen neuen Namen. Hedy Lamarr. Und ein neues Image. Die schönste Frau der Welt. Nicht zu unrecht. Doch Hedy, wie sie nun heißt, ist eben nun mal nicht nur ein außergewöhnlich schöner Kleiderständer, sondern eben auch eine Frau mit Kopf und Verstand. Mit dem Komponisten George Antheil entwickelt sie eine Frequenzverschlüsselung für Torpedos. Die sind somit fast nicht mehr zu orten. Leider ist die technische Lösung etwas antiquiert, so dass sie mit ihrer Erfindung nur wenig bis gar keinen Ruhm erntet. Doch ihre Erfindung, ihr Lösungsansatz ist bis heute für jedermann (!) nutzbar. Smartphones würden ohne Hedy Lamaras Zutun heute vielleicht anders funktionieren … oder vielleicht gar nicht existieren?!

Fakt ist, das Hedy Lamarr bis heute immer noch als begabte und außerordentliche ansehnliche Schauspielerin anerkannt ist. Ein gewisser Teil ihrer Bewunderer kennt auch das wissenschaftliche Potential der gebürtigen Wienerin. Doch so anschaulich wie in „Die einzige Frau im Raum“ wurde ihr Leben selten dargestellt. Marie Benedict gelingt es scheinbar spielerisch dem so reichen Leben der Eva/Hedy die Schwere zu nehmen wie niemandem zuvor. Und schwere Entscheidungen hatte die Heldin dieses Buches zuhauf zu treffen: Den Mann, das Land, den Kontinent verlassen. In der Fremde sich ein komplett neues Leben aufbauen. Sich gegen allerlei Avancen zu wehren – Louis B. Mayer war ein Machtmensch und ließ das jedem in seiner Umgebung spüren. Rückschläge musste sie verkraften. Und ihren Träumen immer wieder mit Geduld unterfüttern. Doch sie ließ sich niemals unterkriegen. Das ist wohl die größte Leistung in ihrem langen Leben.

Der spanische Esel

Da versucht man doch nur seiner Leidenschaft zu fröhnen, und einen Film auf die Beine zu stellen. Okay, vorzugaukeln einer Frau mit einer Rasierklinge das Auge zu zerschneiden (wofür man mit Misserfolg bestraft wird), bedarf mehr nur einer halbherzigen Erklärung. Aber beim nächsten Mal wird alles anders. Zumal, wenn man schon einen großzügigen Gönner gefunden hat, der sein Geld für die Realisierung in der Mitte Spaniens zur Verfügung stellt. Man muss ihn nur von seiner Idee – sofern vorhandne – überzeugen. Und ebenso den Ideen des Geldgebers permanent eine Absage erteilen… der Beruf des Filmemachers, des Künstlers, ist eigentlich ganz einfach. Und wenn man Luis Buñuel heißt, sollte das doch kein Problem sein.

Naja, so einfach ist es dann doch nicht! Denn Buñuel war kein einfacher Charakter. Und seiner Ideen waren nicht das, was man massenkonform nennt. Und so sollte es auch wieder kommen. Mitten im Nirgendwo der Extremadura, in Las Hurdes will der eigenwillige Künstler einen Dokumentarfilm drehen. Um ihn herum nur Einöde, nur Elend. Die Menschen sind verwahrlost und als die Vier-Mann-Crew eintrifft, sehen die meisten von ihnen zum ersten Mal ein Auto. Doch dann hat eine zündende Idee – der Esel da, genau der … Buñuels Revolver … da lässt sich doch bestimmt etwas machen… oh je. Der Skandal ist ein weiteres Mal vorprogrammiert.

Sebastian Guhr gibt seiner Phantasie jede Menge Zucker. Er kratzt die harten Fakten der Filmgeschichte zusammen und knetet sie zu einer weiteren Kunstfigur erneut zusammen. Buñuel und seine Entourage werden zum Spielball ihrer eigenen Gedanken. Alles real. Alles surreal. Der Film wurde von den spanischen Faschisten verboten. Und ist ein Klassiker – nicht wegen der Legende, sondern wegen des Themas. Buñuel filmte Menschen, die nichts – absolut gar nicht, nichts zu essen, nur die Kleidung am Leibe, und vor Perspektiven ganz zu schweigen –  besaßen. Und dann die Sache mit dem Esel…

So schwierig Buñuels Filme manchmal zu verdauen sind, so leichtfüßig schafft es der Autor dem Surrealisten Buñuel nahe zu kommen. Mit Akribie recherchiert und mit straffer Feder zu Papier gebracht. Ganz real!

Madame Roland

Schon beim ersten Durchlesen der biographischen Daten am Ende des Buches – man sollte ja niemals eine Buch am Ende beginnen, in diesem Fall ist es aber sogar ratsam – erkennt man, dass Erziehung und frühes Erkennen von Begabungen mehr Einfluss auf das Werden haben als es so manche Experten vermitteln können. Jeanne-Marie Phlipon wird im Frühjahr 1754 als Tochter eines Graveurs in Paris geboren. Schon früh las sie und lernte das Gravurhandwerk. Im Internat nahm sie ein Adeliger unter seine Fittiche und förderte sie, in dem er ihr Bildung angedeihen ließ. Und das war gut so – man stelle sich vor in einem Lebenslauf von heute würde man so seinen Lebensbeginn beschreiben… unmöglich. Kein Personalchef der (westlichen) Welt würde auf so eine Formulierung positiv reagieren. Aber wir sind ja mitten im 18. Jahrhundert in Frankreich. Schon bald wird das Adelsreich bröckeln und eine weltumspannende Revolution das Land und den Kontinent erschüttern.

Jeanne-Marie Roland, so wir sie später einmal heißen, ist sicher nicht die prägendste Gestalt dieser Zeit. Und schon gar nicht stand sie auf den Barrikaden, noch weniger halb entblößt und mit wehender Fahne. Dennoch ist ihr Leben mindestens genauso spannend wie das derer, die noch heute in aller Munde sind. Von ihr stammt beispielsweise die erste Autobiographie aus der Feder einer Frau. Warum also noch ein Buch über diese Person? Man könnte die Autobiographie ja einfach lesen und fertig… Oh contraire mon frère, möchte man voller Ungeduld dem Frevler entgegenschmettern. Ganz im Gegenteil!

Zum Einen ist da die Autorin, Christiane Landgrebe, die schon mit ihren Biographien über Diderot und Germaine des Staël die Strahlkraft der einflussreichen (und fast vergessenen) Namen der Geschichte wieder aufpolierte. Zum Anderen ist es die unverbrüchliche Neugier des Lesers wahre Geschichte(n) aus erster Hand erlesen zu können. Christiane Landgrebe rückt die Zeilen aus Briefen und Überlieferungen ins rechte Licht.

Heutzutage wäre Madame Roland, wie man sie noch heute ehrfurchtsvoll nennt, eine mittelschwer erfolgreiche Influencerin. Sie bewegte sich in Kreisen, die den meisten schwer bis gar nicht zugänglich waren. Jeder Schnappschuss mit dem Adel würde heutzutage sicherlich ein paar Tausend Likes einbringen. Und ein paar revolutionäre Hashtags würde die die gebildete Frau (was heutzutage in manchen Ohren immer noch befremdlich klingen mag) auch zum Nach- und Umdenken beisteuern können. So vergessen Madame Roland heute erscheinen mag, umso erstaunlicher ist wie modern ihre Ansichten für eine Gesellschaft heute noch wirken. Geschichte ist immer schon vorbei. Die Gegenwart mit dem Wissen um die Geschichte gestalten ist deswegen bedeutsamer als man sich eingestehen möchte. Und dieses Buch ist in gewisser Art ein Baustein, um Wissen von damals mit dem Können von heute auf ein solides Fundament stellen zu können.

Sisi – Das geheime Leben der Kaiserin

Nicht noch ein Buch über die Sisi! Oh doch, und dieses Mal fernab von haltlosen Gerüchten und beißendem Spott. Jedoch mit dem bitteren Beigeschmack, dass jeder, der mit Sisi in Verbindung kommt, nicht nur Gutes davonträgt. Romy Schneider als Sissi (mit Doppel-S) erholte sich nur langsam vom Image als ewige Prinzessin. Der echte Gatte, Franz Joseph I. soll sich bei ihr angesteckt haben. Und sie selbst war eigentlich eine Dauerkranke – die Krankenkassen von heute hätten sich geweigert sie überhaupt noch zu versichern (aber sie wäre wohl eh privatversichert…).

Kurz nach der Geburt ihrer Kinder, ein paar Jahre nach Eheschließung im Jahr 1854, begann Sisis Kampf gegen Etikette, gegen das gesellschaftliche Korsett und jedwede Einschränkung. Schwindsucht, Tuberkulose diagnostizierte der Hofarzt. Er verschrieb ihr Reisen. Vor allem ans Meer. Sie selbst folgte den Ratschlägen nur allzu gern. Und am besten wollte sie so weit weg wie möglich von Wien, dem Hof und Franz Joseph und ihren Pflichten. Die kannte sie bereits schon vor dem Ja-Wort.

Sisi war über ihr Krankheitsbild – ihre Krankheitsbilder – nicht unglücklich. Bot man ihr doch nun die Möglichkeit die Welt auf Staatskosten zu beschauen.

Madeira schien ihr weit genug entfernt. Ihr Schwager Maximilian, der in Wien unter anderem das Palmenhaus in Schönbrunn mitverantwortete und ein so scheußliches Ende in „seinem Königreich Mexiko“ fand, empfahl ihr die Insel – die Blumenpracht wurde ihr sicherlich taugen. Tat sie! Ebenso Korfu. Auch wenn die Sonne da gnadenlos brennt. Auf hoher See befand sich ihre Entourage fast vollständig in körperlichem Ausnahmezustand. Nur die Sisi war so lebendig und sah so erfrischend aus wie eh und je.

Man zerriss sich natürlich das Maul über die Abstinenz der Kaiserin. Doch sie hatte ja einen Krankenschein! Und da sind einem – wie heute auch noch – einfach die Hände gebunden. Die Kaiserin ist unabkömmlich, basta.

Autorin Katrin Unterreiner, ehemalige Leiterin der Schloss Schönbrunn Ges.m.b.H. und Sisi-Expertin ersten Ranges, hat hartnäckig recherchiert und so manche Ungereimtheit in der Patientenakte Sisi entdeckt. Und vor allem hat sie das Parallelleben, das geheime Leben der Kaiserin unter die Lupe genommen. Heutzutage wäre es Sisi unmöglich derart lange und unerkannt unterzutauchen. Und das nicht nur, weil beispielsweise heuet Madeira und Korfu von Touristen überrannt werden. Eine Influencerin wie Sisi würde überall auf der Welt heute erkannt werden. Mal schnell mit dem Kurschatten eine Pizza essen? Unmöglich! Sisi wäre die potentielle Kandidatin für einen Selbstmord mit Anklage-Abschiedsbrief. Auch über 125 Jahre nach ihrem unfreiwilligen (!) Tod ist der Mythos Sisi nicht verschwunden. Stilikone, Vorkämpferin, Freiheitsapostel – so vieles wurde ihr angedichtet. Schlussendlich bleiben ihre Schönheit – das hilft immer und bei jedem Kampf (Emanzipation hin oder her) – und ihr unbändiger Wille als Privatperson mit allerlei Privilegien das zu tun, was ihr in den Sinn kam. Die Bewertung dessen muss jeder für sich selbst vornehmen. Dieses Buch ist dabei ein Ratgeber und Faktenlieferant, den man unbedingt zu Rate ziehen sollte.

Kennst Du das Haus

Mittlerweile kennen wir Galsan Tschinag schon. Keine Frage! Im ersten Teil seiner Bio-Trilogie „Kennst Du das Land“ stellte er ein Leipzig (wo er Germanistik studierte) vor, das so heute nur noch in Vorstellungen existiert. In „Kennst Du den Berg“ brach er auf die Welt zu erobern und nun verkleinert er sich und fragt, ob man das Haus kennt. Die Untertitel hingegen weiten sich aus wie eine Galaxie. „Weltweite Reisejahre“ – so der Untertitel – sind seine Erinnerungen an erfolgreiche Zeiten.

Ersteigt ohne Vorwarnung ins Buch ein und reist mit dem Leser Ende der Siebzigerjahre in das gebeutelte Kampuchea. Gerade sich erst des gnadenlosen Pol Pot entledigt, der innerhalb einer erschreckend kurzen Zeit eine umso erschreckendere Zahl seiner Landsleute ermorden ließ, soll er sich als Gewerkschafter an die Arbeit machen. Die Begegnungen mit vollends verschreckten Menschen und Funktionären, deren Gewissen sie bis an ihr Lebensende nicht ruhig schlafen lässt, öffnen ihm die Augen für die Greueltaten der Roten Khmer fernab von Zeitungsberichten und faktenlastigen Reportagen.

Die Achtziger bringen dem engagierten Journalisten gesundheitliche Probleme. Das Herz. Manche Experten prophezeien ihm ein schnelles Ende. Doch sein Wille, der Vergleich mit Goethe – der mehr als doppelt so alt wurde wie Galsan Tschinag als man ihm die Diagnose mitteilte – lassen in ihm ein weiteres Mal den Kampfgeist erwachen.

So wie Jahre später als die Perestroika den gesamten sozialistischen Block ins Wanken geraten lassen. Er schreibt für eine mongolische Zeitung in bisher ungeahnter Offenheit. Aus dem geistigen Anführer wird eine Stimme für die Zukunft. Anders als ehemalige Redakteure heutzutage transformiert er seine Erfahrungen in die neue Zeit, um dem Fortschritt eine Bühne zu bieten, nicht um das Gestern gegen das Heute abzuschotten.

„Kennst Du das Haus“ knüpft wahrlich nahtlos an die Vorgänger an. Galsan Tschinag schreibt seine Erinnerungen auf Deutsch. Eine Reminiszenz an den verehrten Goethe und die deutsche Sprache. Und sein Wortumfang ist derart umfangreich, dass es so manchen Germanisten die Tränen in die Augen schießen lässt. Ein mehr als würdiger Abschluss einer Biographie, die sicher längst noch nicht abgeschlossen ist. Er muss ja schließlich noch sein Vorbild Johann Wolfgang noch übertrumpfen…

Germaine de Staël – Eine moderne Frau zur Zeit Napoleons

So eng können Glück und Unglück zusammenliegen. Die Biographie von Germaine de Staël ist ein wahrer Thriller. Drei Wochen nach Ostern 1766 wurde sie in eine Familie hineingeboren, die es ihr schon im Jugendalter erlaubte sich bilden zu können und in Kreisen natürlich zu verkehren, die kaum privilegierte hätten sein können. Ihr Vater war Banker, später Politiker. Die Werke von Montesquieu waren als 15jährige mehr als nur ein Zeitvertreib. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon eine Komödie geschrieben.

Wer die ersten Seiten der Biographie von Christiane Landgrebe gelesen hat, dem kommen Zweifel an der aktuellen vergleichbar privilegierten Jugend der Gegenwart.

Germaine entwickelt sich zu einer jungen Frau, die die Ideale der Revolution – und schon bald folgt auf das Glück der frühen Jahre das Unglück der neuen Zeit – für sich entdeckt. Doch das Hin und Her dieser Zeit und die arrangierte Ehe mit einem schwedischen Adeligen zehren an ihr. Sie reist und lebt in Europa, sie lernt Schweden, England und Russland (nicht immer freiwillig)  kennen und erkundet Deutschland. Was ihr später hilft ein Standardwerk über die Deutschen zu schreiben. Dieses Buch – „De L’Allemagne“ – wirkt bis heute nach. Die Sicht der Franzosen auf die Deutschen ist in abgeschwächter Form noch heute bemerkbar.

Als Napoleon abermals an die Macht kommt, ist ihm dieses Werk ein Dorn im Auge. Abermals muss Germaine ihre Heimat verlassen. Privat verläuft ihr Leben lang auch nicht alles nach Plan. Ihre erste Tochter stirbt im Alter von zwei Jahren. Die Jüngste heiratet wie ihre Mutter in höchste Kreise. Im Alter von fünfzig Jahren erleidet sie einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie im Sommer 1817 stirbt.

Es ist erstaunlich wie schnell die Geschichte große Persönlichkeiten in Vergessenheit geraten lässt. Nicht minder erstaunlich ist es aber auch, dass selbst mehr als zweihundert Jahre nach ihrem Tod es immer noch möglich ist, derart fundiert über sie berichten zu können. Christiane Landgrebe gelingt es faktenreich und eloquent dieser hinter dicken Schleiern versteckten Frau abermals eine Bedeutung zukommen zu lassen, die ihr auch gerecht wird. Germaine de Staël war einflussreich. Wenn auch nicht in erster Reihe stehend, so war sie es, die in ihrem Salon die Strippenzieher empfing und ihnen in Nichts nachstand. Und dass sie doch nicht komplett in der Versenkung verschwand, beweist einmal mehr, dass Beharrlichkeit sich letzten Endes auszahlt. Das macht Mut! Auch und gerade für die jetzige und die kommenden Generationen.

Jean

Teil Zwei der Trilogie von Frédéric Brun über seine Eltern. Und wer „Perla“ (seine Mutter) gelesen hat und nun den gleichen Tenor erwartet, wird überrascht sein. Denn Perla hat Auschwitz überlebt „dank“ Adolf Mengele ohne ihm auch nur den Hauch von Dankbarkeit schuldig zu sein. Vater Jean sind viele dankbar, und das zurecht und ein Leben lang. Jean Dréjac ist jedem Freund des französischen Chansons ein Begriff. Er ist eine Legende! Er sang, schauspielerte, und textete für alle, die den Chanson zu dem machten, was er war, ist und sein wird. Mit Edith Piaf war er eine Zeit lang liiert. Gilbert Becaud überschlug sich vor Freude über die Ehrung seines Freundes Dréjac. Georges Brassens, Mireille Matthieu, Dalida waren mehr als nur dankbare Abnehmer seiner Kunst.

In Athen erfährt Frédéric Brun vom Tod seines Vaters. Verzweifelt versucht er einen Platz im nächsten Flieger nach Frankreich zu bekommen. Im Fernsehen muss er tatenlos zusehen, wie seelenlose Nachrichten vom Tode des großen Chansoniers verlesen werden.

Er kann es besser! Er hat Fragmente einer Autobiographie. Und er vollendet, was dem Vater nicht gelungen ist. „Jean“ ist eine Liebeserklärung an den berühmten Vater. Normalerweise enden solche Sätze mit „.., der so selten für ihn da war“. Doch diese Familie ist nicht normal. Und das im positiven Sinne! Der Erfolg als Sänger und Texter führten Jean Dréjac (ein Pseudonym aus den drei Vornamen) rund um die Welt. Oft auch hinter den eisernen Vorhang, lange bevor die Rostflecken rissig wurden.

Vater Jean war immer da. Und der Sohnemann auch. Bei Tennisturnieren, bei Konzerten, bei Auftritten, bei Tourneen. Der vermeintlich golden Löffel im Mund war niemals mehr als ein Türöffner. Die Familie war sich ihrer Sonderstellung bewusst. Diese auszunutzen, lag allen mehr als fern. Deswegen ist diese Biographie über den berühmten Vater so umfassend liebens- und lesenswert, dass es keine Ausreden gibt.

Wer „Perla“ liebte, wird „Jean“ verschlingen. Und sich tierisch auf den dritten Teil freuen.

Amazonia

Was haben Alexander von Humboldt, Jules Verne und Klaus Kinski gemeinsam? Ihr Ruhm ist eng mit dem Amazonas verbunden. Der Eine durchstreifte den Dschungel, mit diesen Erkenntnissen konnte der Zweite einen faszinierenden Roman schreiben und der Dritte fühlt e sich hier wie der König der Welt, vor und neben der Kamera. Der Amazonas zieht alle in seinen Bann. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis (endlich!) Patrick Deville auch dem Amazonas-Fieber verfiel.

Einmal mehr nimmt er den Leser mit ins Dickicht der Unwissenheit, um mit der Machete der Neugier und dem Drang nach Abenteuern das Licht der Erkenntnis zu finden. Es wird eine Entdeckungsreise der persönlichen Art. Denn viele der Pflanzen und Tiere, die – meist nur hier – vorkommen, wurden schon einmal entdeckt. Aber eben noch nicht von Patrick Deville.

Vielmehr liegen ihm aber die Begegnungen am Wegesrand am Herzen. So versinkt er in der Geschichte der Stadt Manaus mitten im Herzen Brasiliens, dort, wo der Amazonas in schier unendlicher Breite Siedler dazu brachte sich niederzulassen. Heute eine schwitzige Metropole, die in Sachen Quirligkeit den Hafenstädten am Atlantik und am Pazifik in Nichts nachsteht. Und das obwohl sie tausende Kilometer von jedwedem Meer entfernt ist. Hier steht das dschungeligste Theater der Welt, hier herrscht eine Lebendigkeit, die weder durch extreme Luftfeuchtigkeit noch exorbitante Kriminalität beeinflusst wird.

Immer wieder kommt Patrick Deville mit Menschen zusammen, die das Schicksal hier her verschlagen hat. Botschafter, Glücksritter, Einheimische, die ihre Nachbarschaft noch nie verlassen haben. Sie alle zeichnen dem Autor und somit auch dem Leser ein Bild einer Landschaft, das so farbenfroh ist, dass man geblendet ist von der Pracht der Eindrücke. Von Hernán Cortés über die ersten Siedler bis zu Werner Herzog, der wie kein anderer (Verrückter) dem Dschungel und dem Fluss ein Denkmal setzte, stapft Patrick Deville durch die Geschichte dieser Region, um Behutsam ihre Geschichten aufzudecken. Schon nach wenigen Seiten ist man ein Fan. Fan von dieser einzigartigen Landschaft, die dem Verfall preisgegeben wird. Fan von Patrick Deville – sofern man es nicht schon lange ist, schließlich führen seine Bücher Leser seit Jahren durch das Kambodscha der Roten Khmer, das Mexiko Leo Trotzkis, das Afrika bedeutsamer Forscher und und und – weil er es versteht Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. So eine Forschungsreise macht man am Liebsten mit Patrick Deville!

Mein Meister und Bezwinger

Da sitzt er nun der arme Kerl! Vor dem Untersuchungsrichter. Hat gar nichts getan. Und muss rede und Antwort stehen. Und einen Namen hat er auch nicht. Den braucht er auch nicht! Denn er weiß alles! Er kennt Vasco. Und er kennt Tina. Und Edgar. Aber den will er eigentlich gar nicht kennen. Und er weiß, was der Revolver von Verlaine und das Herz von Voltaire mit der ganzen Misere zu tun haben. Und er kann reden, schwelgen, fabulieren, faszinieren, verwirren.

Sein Gegenüber aber auch. Er wirft nicht die Flinte ins Korn, wenn die Ausführungen mal ausufern. Er kennt die Tricks und Kniffe der Literatur. Der Richter ist nicht minder belesen als sein Zeuge. Nur beim Thema Haiku hat er Nachholbedarf. Meister und Bezwinger? Nein, nein, nein. Der Titel dieses unfassbar eindrucksvollen Buches bezieht sich nicht auf Richter und Zeuge oder gar Richter und Angeklagten. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Verlaine. Und da kommt auch der Revolver ins Spiel. Einst Tatwerkzeug, jetzt Museumsstück.

Vasco und Tina sind knallverliebt. Ineinander. Tina hat jedoch Edgar die Ehe versprochen. Nicht nur, weil sie die Mutter ihrer Zwillinge ist. Und nun ist alles im Umbruch. Der Bibliothekar mit der Liebe zu seltenen – und alten – Schriften und die Schauspielerin, die stundenlang Verlaine und Rimbaud (re)zitieren kann. Das ideale Paar? Das ideale Paar! Mit einer Wucht, die Ketten sprengen kann. Mit einer Gewalt, die Mauer zerbröseln lässt. Aber eben nur zusammen. Vasco sitzt allein in seiner Zelle. Und der Richter will verdammt nun endlich wissen, was da passiert ist!

Doch der Zeuge kann nur Fakten heranschaffen. Die Interpretation muss der Richter sich selbst erarbeiten. Und der Leser? Na der ist der Schlaueste von allen…

François-Henri Désérable schickt alle Beteiligten auf eine wilde Reise durch die Literatur. Die verhängnisvolle Liaison von Verlaine und Rimbaud als Bretter, die die Literaturwelt bedeuten sind die Planken eines wackligen Kahns, der teils schon gekentert ist. Die gischtpeitschende See der Eifersucht und Irrationalität ist glitschig und nicht zu zähmen. Es gibt keinen Bezwinger der Wellen, der sie meisterhaft in ruhige Fahrwasser leiten kann. Eine Dystopie? Ach, mit Analysen sollte man sich beim Lesen nicht beschäftigen. Denn hier werden auf gar wundersame Weise Altes und Neues in ein phantasievolles Korsett gesteckt, das sich im Winde wiegt wie ein zarter Grashalm.

Auch wer nicht zwingend die Tragik hinter dem Herzen Voltaires versteht und die Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud kennt, kommt beim Lesen schnell auf den Geschmack welch Freude es bereiten kann umzublättern.

Thomas Mann – Glanz und Qual

Da ist er wieder, oder immer noch. Der Dauerbrenner der deutschen Weltliteraturszene, dessen Feuer niemals verglüht. Hanjo Kesting hat sich ein Leben lang mit dem Schriftsteller beschäftigt und im vorliegenden Buch eine Charakterisierung des Mannes erstellt, der bis heute Literaten, Literaturkritiker und Fans beschäftigt.

Ein streitbarer Autor war Thomas Mann zeitlebens. Das Kaiserreich war ihm näher als er sich vielleicht selbst eingestehen wollte. Die Demokratie in Deutschland sah er kritisch, weil er ihre Schwachstellen erkannte. Die Diktatur verabscheute er wie kein anderer wortgewaltig und mahnend, dass man es bis in die Nachkriegszeit übelnahm. Sein Exil in der Schweiz war mehr als nur ein Ausweg.

In dieser eigenwilligen (und das im rein positiven Sinne) Biographie zerpflückt Hanjo Kesting das Werk Thomas Manns. Aber nicht, um allwissend umherzuprahlen, warum genau dieser Satz, genau dort, genau so steht, weil er – Kesting – beim Herumströmern den Heiligen Gral des Erfolgsromans gefunden hat. Nein er geht ans Werk wie man es tun sollte. Er betrachtet die zeit, in der die Bücher entstanden. Beschaut sich ganz genau, was Thomas Mann „nebenbei so schrieb“ (und trieb). Er zieht Parallelen und folgert auf unnachahmliche Art und Weise.

Ebenso vermeidet er es den Götterstatus des großen Schriftstellers in den Vordergrund zu schieben. Denn dann müsste er sich dahinter verstecken. Selbstbewusst und unbeirrbar stellt er dem Leser einen Mann (DEN Mann) vor, der in der Welt der Literatur fest auf dem Thron sitzt. Dabei scheut er sich nicht seinem Helden (und nichts anderes muss Thomas Mann für Hanjo Kesting sein, denn nur so entsteht eine Biographie wie diese) auch mal hier und da nachzuahmen. Die gezielte, weil notwendige, Kommatasetzung, stellt ab und an eine Herausforderung dar. Auch Thomas Mann liebte es scheinbar sich in Haupt- und Nebensätzen zu ergehen, die erst Seiten später ein Ganzes ergaben. Studenten riet er beispielsweise den „Zauberberg“ zweimal zu lesen. Denn beim zweiten Mal ist der Fluss ein anderer. Und man solle den „Zauberberg“ in Ruhe lesen. Inder Abgeschiedenheit von Davos, beispielsweise – das rät Hanjo Kesting.

Glanz und Qual – ein gelungener, wenn nicht sogar der einzige wählbare Untertitel des Buches, der einmal mehr dazu verleitet, Thomas Mann (noch einmal) zu lesen. Doch wo anfangen? Bei diesem Buch!