Archiv für den Monat: März 2016

Lion Feuchtwanger

Lion Feuchtwanger

Lion Feuchtwanger zu fassen, ist leicht. Seine Bücher verkaufen sich noch immer, wurden in dutzende Sprachen übersetzt. Er selbst sah sich nicht im Zwiespalt zwischen religiösen Traditionen und Weltoffenheit. Genau das war sein Antrieb. Wer die Werke Lion Feuchtwangers liest, bekommt einen Einblick in sein Leben und den Lauf er Welt.

Er war streitbar – etwa als er eine Lobeshymne auf das stalinistische System schrieb – doch immer annehmbar. Jüdische Geschichte ohne Dogmen nahezubringen – sein eigenes Leben war immer Bestandteil seiner Romane. Lion Feuchtwangers Vater war streng gläubiger Jude. Ein breites bairisch gehörte aber genauso zum guten Ton wie die Einhaltung der Regeln. Schon früh lernte der junge Lion, dass Tradition und Fortschritt einhergehen. Schulisch tat er sich besonders durch seine poetische Ader hervor. Die Abkapselung vom Elternhaus war schwierig und langwierig. Er wohnte bei seinen Eltern um die Ecke und nahm vor allem seine Mahlzeiten bei ihnen ein.

Die aufkommende Naziherrschaft zwingt auch ihn zu flüchten. Da ist er schon ein erfolgreicher Autor, der vielen Revanchisten und Rassisten ein Dorn im Auge ist. Er flieht dorthin, wo es viele seiner Leidensgenossen zog: An die Riviera und später, als auch im sonnigen Süden nicht mehr sicher war, nach Kalifornien. Bert Brecht, Heinrich und Thomas Mann gehörten zum Kreis der Exilanten, die sich regelmäßig trafen und über das Schicksal ihrer Heimat diskutierten.

Wilhelm von Sternburg hat mit seiner Biographie das Leben und Werk Lion Feuchtwangers wieder ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gerückt. Im Sog von allerlei seichter Literatur, die es zugegeben immer gab, aber nur selten zuvor so offen propagiert wurde, erscheint Feuchtwangers Werk wie ein Strahl in dunkler Nacht. Die große Geschichte, die von großen Männern gemacht werden, lernt man aus Geschichtsbüchern. Die wahre Geschichte lernt man von denen, die sie erlebten und „im Kleinen“ gestalteten. Lion Feuchtwanger hat ihnen eine Stimme und Wilhelm von Sternburg hat diesen Stimmen ein Gesicht gegeben. Lion Feuchtwanger hat die Geschichte erlebbar gemacht, in dem er historische Fakten wortgewandt aufs Papier brachte. Sein Biograf bedient sich desselben Stilmittels. Immer wieder lässt er Zitate aus Büchern einfließen, die es dem Leser erlauben Werk und Leben in einzigartiger Form wieder und wieder zu erleben. Eine Weltreise durch die Vergangenheit!

Der letzte Tag des Präsidenten

Der letzte Tag des Präsidenten

Acht Jahre sind Alwan und Randa nun schon verlobt, ein Paar sind sie schon länger. Sandkastenliebe. Doch den letzten Schritt haben sie noch nicht getan. Nicht aus Scham oder Angst. Es fehlen ihnen einfach die Mittel ihrer Liebe den entscheidenden Schups in Richtung Unendlichkeit zu geben.

Die Zeiten sind hart in Ägypten. Anwar as-Sadat hält das Land im Griff, seine Günstlinge es am Tropf. Das Volk kommt kaum über die Runden. An Feste kaum zu denken. Für die beiden kommt eine Hochzeit mit Abstrichen nicht in Frage. Ihre Liebe steht über allem. Doch übersteht sie nicht die Zeit.

Sie beschließen sich zu trennen. Randa soll einen Mann finden, der ihr das bieten kann, was Alwan nicht im Stande ist zu leisten. Und Alwan ebenso. Schweren Herzens, doch mit dem Gefühl etwas Gutes für den Anderen zu tun, setzen sie ihren Plan in die Tat um.

In den Cafés plaudern die Menschen, hetzen gegen die Zeit, resignieren. Hoffnung, sagt man, ist das Letzte, was stirbt. Hoffnung hat hier schon keiner mehr. Ägypten ist ein totes Land. Die Menschen sind es ebenso. Abwechslung bringt nur die Parade zum Jahrestag. Die Armee stolziert geziert und steif an der hübsch aufgereihten Tribüne mit der Regierungsmannschaft vorbei. Staatsgäste machen teils gute Miene zum bösen Spiel. Der Präsident hat sich in Schale geschmissen. Das Volk schaut am Fernseher zu. Die, die sich keinen leisten können, hängen gebannt am Radio. Manche hören die Signale und verheißen rosige Zeiten. Ewig kann sich der Präsident seine Politik nicht mehr leisten. Vorahnung oder hoffnungsvolle Orakeln?

Dann, der große Knall. Erst akustisch, dann in den Köpfen der Menschen. Der Präsident ist tot, hatte seinen letzten Tag. Wenigstens in schicker Uniform. Hoffnung keimt sofort auf. Auch bei Alwan und Randa…

Literaturpreisträger Nagib Machfus setzt die Hoffnungen vieler seiner Landsleute an diesem Tag, in dieser Zeit ein literarisches Denkmal. Ägyptens starker Mann, der die Macht gnadenlos ausnutzte, sich mit Gleichgesinnten umgab und dem Volk oft mehr als sprichwörtlich die Klinge an den Hals setzte, starb bei einem Attentat. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Fernsehstationen aus aller Welt setzten an diesem 6. Oktober 1981 ihr Fernsehprogramm aus und strahlten die spärlichen Bilder nach dem Attentat aus.

Nagib Machfus war 1988 der erste arabische Schriftsteller, der den Literatur-Nobelpreis erhalten hat. Seine Erzählungen und Romane spielen allesamt in Ägypten, in Kairo, teils in den Straßen seiner Nachbarschaft. Auch er wurde bei einem Attentat religiöser Fanatiker schwer verletzt. 2006 starb er im hohen Alter von 94 Jahren in seinem geliebten Kairo.

Der Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte

Ein Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte

Auch 2016 werden wieder zahlreiche Jubiläen begangen. In Frankreich gedenkt man der Toten der Schlacht um Verdun. William Shakespeares Todestag jährt sich zum 400. Mal. Doch es gibt Jubiläen, die kaum Beachtung finden. Zum Beispiel kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der Sommer vor neunzig Jahren am Cap d’Antibes der Letzte ohne touristisches Tohuwabohu war. Ein Jubiläum, das die Tourismusmanager vor Ort gern vergessen, und lieber in elf Jahren den Startschuss des Gegenteils feiern wollen und werden.

Und genau in diesem letzten ruhigen Sommer lassen sich einige illustre Gäste nieder, genauer in Juan-les-Pins. Das Ehepaar Gerald und Sara Murphy, die mit ihrem Geld in Frankreich sehr gut leben können, laden Ernest Hemingway, Pablo Picasso sowie F. Scott und Zelda Fitzgerald ein, um einen unbeschwerten Sommer zu verbringen. Alle kommen mit Sack und Pack und Kind und Kegel. Die Fitzgeralds lebten in New York in Saus und Braus. Mal wie The Who zerstörten sie Hotelzimmer, dann badeten sie wie Anita Ekberg in Brunnen. Berüchtigt waren sie. Und Scott war auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Sein Gatsby verkaufte sich, das Broadway-Stück war bei Wind und Wetter ausverkauft und die Filmrechte wechselten schon bald den Besitzer. Hier sollte nun der Nachfolger, der nächste groß Wurf gelingen. „Zärtlich ist die Nacht“ soll hier entstehen. Doch die Rivalität zu Hemingway und das allzu ausschweifende Leben lassen einfach keine Zeilen auf der Schreibmaschine entstehen.

Die großen Gönner, die Murphys, fühlen sich auch mehr zu Hemingway hingezogen. Auch der bärtige Prachtkerl wirft mehr als ein Auge auf Sara statt auf seine Frau Hadley. Und sein Nachwuchs leidet jämmerlich an Keuchhusten. Urlaubs-, Sommerstimmung sieht anders aus.

Alle Villen am Cap sind belegt. Hier wird getrunken, fürstlich gespeist, intrigiert, geschmollt, gebadet. Nur künstlerisch tätig sind die Wenigsten.

Erst acht Jahre später soll F. Scott Fitzgerald seinen Roman fertig haben. Seine Ehe ist kaputt, Zelda verfällt immer mehr den Depressionen, Scott dem Alkohol. Die Auszeit an der Côte d’Azur sollte einen Wendepunkt darstellen. Was sie in gewisser Weise auch war. Doch nicht wie es sich die Protagonisten vorstellten. Was den Ruhm und Lebensstandard steigern sollte, Fitzgerald machte nie einen Hehl aus seiner Intention zu schreiben, um gut leben zu können, wird zum Desaster. Zelda ist eifersüchtig auf Scotts Erfolg. Scott ist eifersüchtig auf Ernest, weil er die Murphys in seinen Bann zieht. Ernests Beziehung zu Hadley geht den Bach runter. Und auch die Murphys haben einen harten Schicksalsschlag zu verarbeiten.

Emily Waltons Buch ist eine echte Urlaubslektüre. Nur wenige können und wollen sich eine ausgiebige Auszeit an einer der schönsten (und teuersten) Meeresgegenden gönnen. Heute regieren hier Zehensandalen und Partygeschrei. Damals herrschte künstlerisches Chaos. Dieser Sommer ist die Ouvertüre auf den Abgesang der Goldenen Zwanziger. Trotz aller gegebenen Umstände, um Großes zu schaffen, wurde der Sommer 1926 für die Gruppe zur Zerreißprobe und zur Zäsur in ihrer aller Leben. Ein nostalgisches Stück, das zum Träumen einlädt.

Allein, unbesiegt

Allein, unbesiegt

Charles und Kérim waren einst unzertrennlich. Echte Freunde eben. Das war vor sieben Jahren. Charles zog es hinaus in die Welt. In den Krieg. Irgendwo, wo irgendwer gegen irgendwen um irgendwas kämpfte. Kameradschaft wird hier großgeschrieben. Doch Charles passt nicht so recht rein. Er kämpft seinen eigene Krieg. Den gegen die Gedanken, die Angst, die Vergangenheit. Lethargisch lebt er in den Tag. Aber er lebt.

Dann erreicht ihn die Nachricht, dass Kérim im Sterben liegt. Vorbei die trostlosen, sinnfreien Tage. Nach langer Zeit packt ihn der Mut und er seine Sachen. Er reist zurück, nach Frankreich, nach C. (Loïc Merle lässt offen, wo die Stadt liegt, was aber keinen Anlass zur Sorge oder zu weiteren Gedanken geben sollte). Da liegt er nun, der Freund, Kérim. Ein Schatten seiner selbst. Aber immer noch scharfzüngig wie einst. Leukämie lautete die Diagnose, unheilbar das Urteil. Was tun? Der Freund, der einem so fremd geworden ist, auch und besonders menschlich – sieben Jahre sind eine lange Zeit – hat so gar nichts mehr von dem, was einmal war. Charles kommt ins Grübeln, denkt nach, erinnert sich. Die Kindheit, die Mutter, die Abenteuer. Keine Memoiren, die zum Schmunzeln anregen. Vielmehr zum Nachdenken.

Charles beschließt, sofern man das kalkulieren oder gar berechnen kann, Kérim wieder als Freund zu gewinnen. Was anfangs auch gelingt. Doch das Piepen der Geräte, die sterile Atmosphäre und die komischen Typen, die immer dann kommen, wenn er sich entfernt, lassen kaum Raum für freundschaftliche Gefühle. Wer sind die? Stehen wie eine Bruderschaft verschwörerisch beisammen. Brabbeln seltsames Zeug und sind ebenso schnell wie lautlos wieder verschwunden sobald ein Fremder in die Nähe Kérims kommt.

Charles kommt aus dem Grübeln nicht heraus. Gerade eben noch im Krieg, allein mit sich und seinen Gedanken. Und nun dort, wo er sich eigentlich geborgen fühlen sollte. Bei seinem Freund Kérim, der mehr als alle Anderen seine Hilfe zu benötigen scheint. Auch die Armee braucht Charles wieder. Wenn er nicht bald erscheint, gilt er als Deserteur. Ausbruch? Abhauen? Flucht? Ohne Geld! Kérim könnte und wolle ihm helfen.

Und dann ist da noch Lilly, oder Cat wie sie jetzt heißt. Schwanger. Von ihm, Charles. Ach, ohne Gefühle könnte alles so einfach sein. So versucht er seinem Gefühlschaos Herr zu werden. Rational dosiert er die Zutaten für den Gedankensalat. Was bleibt ist ein Menü voller Widersprüche, voller Geschmacksexplosionen, garniert mit einer gehörigen Portion Zweifeln und Selbstaufgabe. Hin und Her gerissen vom Gefühlstaumel seiner Heimat strauchelt Charles lediglich, zu Fall bringen lässt er sich nicht.

Woza Sisi

Woza Sisi

„Woza Sisi“ – eine Aufforderung! Nicht nur für südafrikanische Friseurinnen, sondern auch für den Leser sich dem schwarzen Kontinent zu nähern. Denn er ist eigentlich bunt. So bunt wie die in diesem Buch portraitierten Frauen. Sie alle sind Vorreiterinnen, erfolgreiche Autorinnen und Geschäftsfrauen. Sie engagieren sich sozial, schaffen Arbeitsplätze und fördern die afrikanische Identität. Kein anderer Kontinent schafft es, dass sich die zahlreichen Völker in der Summe letztendlich als Bewohner eines Kontinents fühlen. Da verschwinden klammheimlich nationale Identitäten, wenn es darum geht Afrika zu repräsentieren.

Mo Abudu ist so eine Frau. Sie ist Medienunternehmerin. Ihr gehört der erste Afrika umspannende Fernsehsender Ebony TV. Der Vergleich mit Oprah Winfrey schmeichelt ihr, wird ihr aber nicht gerecht. Denn in den USA gab es bereits ein starkes TV-Netzwerk. In Nigeria, wo Mo Abudu lebt und wirkt, wurde es erst durch sie zu einer prägenden Branche. Voller Bewunderung interviewt Autorin Margit Maximilian die erfolgreiche Unternehmerin und stellt sogleich das Besondere an diesem Medienimperium dar: Qualitätsfernsehen aus Nigeria für ganz Afrika, das weltweit ausgestrahlt wird. Aus einem Land, das sich Nollywood nennt und jährlich mehr Filme produziert als die großen Konkurrenten Bollywood und Hollywood zusammen.

Es war eine umfangrieche Reise, die die Autorin unternommen hat, um die starken Frauen Afrikas zu treffen und zum Gespräch zu bitten. Von Johannesburg in Südafrika über Nairobi und Bamako bis nach Dakar. Immer wieder wurden Pläne durcheinandergewürfelt und Termine neu vereinbart. Das ist das Afrika, das wir kennen. Chaotisch und hoffnungslos. Die im Buch vorgestellten Frauen beweisen das Gegenteil. Denn ohne Disziplin nützt das beste Geschäftskonzept nichts. Nirgendwo auf der Welt. Diese Frauen durchbrachen bestehende – meist männlich dominierte oder kolonial entstandene – Strukturen und setzten ihren Kopf durch. Sie taten dies nicht, um berühmt zu werden, das wurden sie, weil sie anders, weil sie stark, weil sie durchsetzungsfähig und beharrlich waren und es noch immer sind. In einer europäischen oder amerikanischen Castingshow würden sie auf dem Thron sitzen und die Kandidaten beurteilen. Niemals wären sie auf die Idee zu kommen sich anzubieten oder zu verkaufen. Das ist wahre Größe und echte Stärke. Und deswegen gebührt ihnen der größte Respekt und der Autorin der gebührende Dank.

Wer also in Zukunft vom schwarzen Kontinent spricht, erfasst nur einen Bruchteil der schillernden Persönlichkeit Afrikas.

Die Gehörlosen

Die Gehörlosen

Clara geht’s gut. Ihr Vater ist reich, sie studiert und wird einmal sein Vermögen erben. Und damit auch noch was übrig ist, wenn es soweit ist, legt der Alte das Geld in Aktien an. Clara ist wohlbehütet aufgewachsen. Und sie ist der Liebling im Haus. Ihr Vater will wegen der permanenten Gefahren, dass Clara noch einen Leibwächter bekommt.

Cayo ist der Auserwählte und soll von nun an Clara beschützen. Cayo ist ein exzellenter Schütze, da macht ihm niemand was vor. Den Rest wird er schon noch lernen. Clara zu beschützen – das nennt man wohl Traumjob. Denn Clara ist nicht nur sehr nett, sondern auch aufregend schön. Und sie erlaubt ihm in der großen Stadt zu leben. Bisher war sein Leben karg und ohne Perspektive. Jetzt ist er auf dem Weg ein Mann zu werden…

Das Leben, welches er hinter sich ließ, ist für Andrés das einzige, was er kennt. Er gehört zur indigenen Bevölkerung, hat wenig Aussichten auf Besserung. Zudem ist er mit Taubheit geplagt. Er wächst bei seiner Großmutter auf, die mit ihm in der traditionellen Zeichensprache kommuniziert. Er verschwindet genau zu der Zeit als auch Clara wie vom Erdboden verschwunden ist. Zufall oder Kalkül?

Alles ergibt auf einmal einen Sinn, oder scheint es zumindest. Die anonymen Anrufe bei Don Claudio, dem Vater Claras. Javier, Claras Freund, der in Genf weilt und ihr schmachtende Briefe schreibt – am Ende des Kapitels ist er gar nicht mehr so galant, und die scheinbare Zukunft der beiden Verliebten unsicher. Auch taucht Ingancio auf, der Bruder der Verschwundenen. Und es gibt Lösegeldforderungen.

Guatemala ist ein gefährliches Land. Noch immer treiben einst legitimierte Guerilla-Einheiten ihr Unwesen im Land. Mord, Folter, Vergewaltigung ist Begleiter im Alltag. Vor diesem Hintergrund siedelt Rodrigo Rey Rosa „Die Gehörlosen“ in seiner Heimat an. Wortgewaltig und bildhaft schreibt er vom erbarmungslosen Kampf eines naiven Jünglings auf der Suche nach seiner Chefin. Clara ist für ihn nicht allein nur Arbeitgeberin. Ein bisschen ist auch verknallt in sie. Und: Sie ist der Beginn eines völlig neuen Lebens.

Bis zum Schluss hat der Leser zu wage Ahnungen, was wirklich vorgefallen ist. Ist Javier Liebhaber oder machthungriger Ganove? Ist Claras soziales Engagement Einigen ein Dorn im Auge? Hört denn niemand wie sehr Guatemala leidet? Rodrigo Rey Rosa legt die Puzzleteilchen auf den Tisch, nicht für jedermann sichtbar. Wie in einer Parallelwelt setzt man ein Teil ans andere. Doch so recht will das Bild nicht stimmen. Irgendetwas stimmt nicht, etwas fehlt. Ein grandioser Roman mit teils unsichtbaren Facetten, der den Leser an der Gurgel packt und ihn würgt. Bis es am Ende aus allen Beteiligten herausplatzt: Die Wahrheit, die keiner hören will und manche nicht hören können.

Norderney

Norderney

Es klingt fast schon wie eine Verneinung des Urlaubsziels: Der Norden, nee! Alles, nur das nicht! Norder-Jaa muss es eigentlich heißen! Und Dieter Katz liefert auf einhundertsechzig Seiten immer wieder Argumente die Insel zu besuchen. Ob nun als Pauschalbesucher für zwei Wochen und Immer-Wieder-Gast für ein paar Tage, der auf eigene Faust das Inselleben hautnah spüren will. Alle vereint der Gedanke sich hier zu erholen, Einzigartiges zu erleben und die Leserecherche mit diesem Buch.

Nicht einmal sechstausend Einwohner auf knapp 26 Quadratkilometer. Klingt nicht groß, ist es auch nicht. Klingt nicht so, als ob man hier wochenlang immer wieder etwas Spannendes erleben kann. Falsch! Es geht ja schon auf der Umschlagseite los. „Wussten Sie schon…“ nennt sich die Rubrik, die jedes Buch des Michael-Müller-Verlages stimmungsvoll einläutet. Von Seehunden und Kegelrobben ist da die Rede, Bienenbelegstellen und vom Tee-Pro-Kopf-Verbrauch der Ostfriesen.

Noch nicht abwechslungsreich genug? Wellness (unter anderem gibt es auf Norderney Thalasso-Kurwege), Strandsauna und eine Trinkkurhalle laden zum Verweilen und Erholen ein genauso wie Minigolf, Angeln oder über vierzehn Kilometer feinster Sandstrand. Als Mitbringsel eignen sich zahlreiche Artikel aus dem orangen Gold der Insel, dem Sanddorn. Ob nun als Marmelade oder Likör, als Tee oder Fruchtsaft – wer mit Sanddorn zuhause seine Lieben beglückt, wird Beifall ernten.

Apropos Beifall. Ab und zu muss man das Buch doch beiseitelegen. Immer dann, wenn man innerlich in die Hände klatscht und sich freut, dass man dieses Buch gefunden hat. Es ist erstaunlich, dass so eine klein Insel nicht in Füllhorn der Abwechslung umbenannt wird. Und Dieter Katz kann sich feiern lassen, jedes einzelne Element, jeden Diamanten der Erholung und Entspannung gefunden, detailliert niedergeschrieben und handhabbar veröffentlicht zu haben.

Wer Norderney bisher noch nicht kannte, bekommt in diesem Buch mehr als nur einen groben Überblick über die Insel. Es ist schon fast so informativ und erkenntnisreich wie vor Ort zu sein. Wer Norderney schon einmal besucht, wird sich wundern, was alles verpasst hat. Denn wenn das geflügelte Wort vom Geheimtipp auf einen Inselreiseband zutrifft, dann hier.

Als Zugabe zum Buch bzw. als hervorhebenswertes Extra gibt es zwölf Seiten „Norderney mit Kindern“. Und dann wird aus dem stillen Norder-Nee ein fröhlich schallendes Norder-Jaaaaaa…..

Alessandro und Assunta

Alessandro und Assunta

Eine echte Eisenbahnerdynastie, die Familie Asor Rosa. Nur Alberto schlägt ein wenig aus der Art, er ist Autor. Und nun schreibt er die Familiengeschichte nieder. Und so ganz nebenbei auch die Geschichte Italiens, zumindest einen Teil davon.

Alessandros Verwandte wandern teilweise aus. Nach Amerika. Aus Enrico wird Henry, und bleibt es. Er selbst gehört in die Reihe seiner Familie, die sich bei aller Verbunden- und Zerrissenheit, die durch einen einzigen Punkt für Immer und Ewig miteinander verwoben sind: Das A am Anfang des Namens. Alessandro. Es scheint fast logisch, dass er sich Assunta zur Frau nimmt. Sie stammt aus der Gegend um Ancona (!). Dort war Alessandro einst stationiert. Damals, als er im Krieg kämpfen musste. Beziehungsweise kommandieren. Beides behagte ihm nur theoretisch, praktisch widersprach es seiner Natur.

Nachdem die Kanonen ruhen, trifft er endlich Assunta. Die Frau, die sein Leben bereichern wird. Er findet rasch eine Anstellung bei der Staatlichen Bahngesellschaft und engagiert sich bei den Sozialisten und der Gewerkschaft. Als die Faschisten die Macht übernehmen, ahnen er und seine Frau die drohende Gefahr. Doch auch dieses düstere Kapitel übersteht die Familie.

Wer denkt, die weibliche Hauptfigur bewegt sich zwischen Carbonara und „Dio mio“ irrt. Vielmehr jongliert Alberto Asor-Rosa zwischen Palindrom und liebevoll erzählter Familiengeschichte. Alessandro und Assunta sind seine Eltern. Einfache Menschen mit Träumen, erfülltem Leben und den ganz normalen Sorgen. Der Autor kleidet seine Familiengeschichte in ein außergewöhnliches Gewand: Das des Jahres. Jeder Monat ein Abschnitt des Lebens und der Familie und der Zufälle. Nach dem Dezember kommt nichts mehr. Außer Bilanz zu ziehen.

Weniger emotional als rational folgt Alberto Asor Rosa den Spuren seiner Familie. Das Buch kann man auf verschiedene Arten lesen. Zum Einen eine Familiengeschichte, die fast ein ganzes Jahrhundert umspannt. Zum Anderen die Geschichte Italiens anhand der Asor Rosas. Beide Sichtweisen sind auf ihre Weise spannend und interessant zu lesen. Keine Gefühlsduselei, keine überflüssigen und abgedroschenen Floskeln, vielmehr eine Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit.

So leicht so schwer

So leicht so schwer

Man kann nie früh genug beginnen: Zu lernen, zu lesen, sich zu freuen. Am besten fängt man mit Tieren und Physik an. Das kennt jeder, jeder begegnet ihnen tagtäglich. Ein Elefant steht auf einer Wippe. Allein. Dong! Er ist schwer, und deshalb steht er mehr oder weniger auf dem Boden. Wippen ist das noch lange nicht. Ein Pinguin als Ausgleichsgewicht? Haut nicht hin! Noch ein Affe und ein Strauß? Immer noch nichts! Erst als eine Giraffe und ein Nilpferd sich dazugesellen, könnte es klappen. Bis … ja bis … nö, wird nicht verraten!

Natürlich ist „So leicht so schwer“ kein Physikbuch oder gar ein Lehrbuch. Es ist – und so soll es auch sein – ein hingebungsvoll gestaltetes Kinderbuch für den (Lern-) Nachwuchs ab zwei Jahren. Die Farben sind beruhigend, die Konturen der Tiere klar zu erkennen. Und natürlich ist es auch lustig. Wer schon mal auf dem Spielplatz war, wird von nun an die Wippe noch mehr lieben! Genauso wie dieses Buch!

Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien

Gebrauchsanweisung für Prag

Oh Du wunderbares Prag! Deine Architektur, Deine Gassen, Deine Boulevards … Deine Touri-Fallen. Prag steckt voller Überraschungen. Wer’s nicht kennt, wird’s nicht glauben. Prag gehört zu den europäischen Hauptstädten, die man nie vergessen wird und immer wieder besucht. Weltoffenheit und längst vergessener Charme treffen hier auf kalkulierte Gastfreundschaft und echte Lebenslust.

Martin Beckers erster Besuch in der Goldenen Stadt wird ihm ewig in Erinnerung bleiben, seine Liebe zu Land und Leuten wird in diesem Buch nur allzu deutlich und beim Leser lange anhalten. Denn seit dem sinngebenden ersten Besuch, der, der so lange in Erinnerung bleibt, dass er das erste Kapitel bestimmt, ist Prag im Speziellen und Tschechien in Allgemeinen zu einer zweiten Heimat geworden. Er bezeichnet sich zwar als ungeprüften Touristenführer, doch die Prüfung zu Selbigem würde er mit Bravour bestehen. Nicht nur weil er sich exzellent auskennt, sondern weil er es versteht die Menschen zu charakterisieren und sich bei seinen Beschreibungen der Stadt und des Landes nicht nur auf die Aneinanderreihung der zahlreichen Sehenswürdigkeiten beschränkt.

Ebenso hat er wenig Berührungsängste mit den geltenden Klischees: Seine Ausführungen zum Bierkonsum und der ausgeprägten Kneipenkultur gehören zum Ehrlichsten und Offensten in Sachen geselligem Beisammenseins. Wer in Zukunft über tschechische Braukunst, Verzehrlust und Gerstensaftkommunardentum schreiben will, muss sich mit Martin Becker messen lassen.

Was viele Leser nicht unbedingt auf dem Schirm haben, ist die Tatsache, dass auch Tschechien ein Staat ist, der aus drei Nationalitäten zusammengesetzt wurde: Böhmen, Mähren und Schlesier. Die Sticheleien – und mehr sind es letztendlich glücklicherweise nicht – zeigen sich vor allem, wenn Böhmen und Mähren aufeinandertreffen bzw. wie es einmal Martin Becker ging, man meint, dass es gar keine Unterschiede gibt. In Brno (Mähren) eckte er ziemlich an als er die Sehnsucht der Brünner nach Prag mit denen der Leipziger nach Berlin verglich. Schlussendlich ging alles gut und der Applaus nach der Lesung war ihm sicher. Doch diese kleine Anekdote zeigt deutlich die Befindlichkeiten im Land.

Tschechien und Prag sind immer eine Reise wert. So phrasenhaft dieser Ausspruch klingt, so wahr ist er und so sehr zeigt er die Notwendigkeit nach einem Buch wie diesem. Als Zusatzlektüre zu einem Reiseband gehört die „Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien“ ebenso ins Reisegepäck wie Neugier und Weltoffenheit.