Archiv für den Monat: April 2015

Das kleine Buch der Sprache

Das kleine Buch der Sprache

Es ist der erste echte Höhepunkt der Eltern: Das Kind spricht. Mama. Papa. Auto. Yippie. Jetzt geht’s los! Doch was da als Wort verkleidet die Außenwelt verzückt, sind Geräusche. Keine bewusst gewählten und geformten Artikulationen. Erklären Sie das mal der stolzen Mama, oder dem Papa, der bis über beide Ohren grinsend den Sprössling vor sich herträgt. Wen Sprache eine lineare Entwicklung wäre, würden wir täglich bis zu unserem zehnten Geburtstag weniger als eine Handvoll Wörter lernen. Babies lernen das, was sie hören. Der Rhythmus und die Melodie bestimmen die ersten Laute und Worte. Dudu, dada und ähnlich geartetes Verwandtengeschwätz haben da weniger Einfluss als gedacht. Ansonsten würden The Police immer noch touren, („De Do Do Do De Da Da Da“ wäre der Titel mit der längsten Chartplatzierung).

Sprache ist das primäre Unterscheidungsmerkmal der Kulturen. Jede Sprache hat ihre eigene Sprachmelodie. Wie oft hört man, dass das Italienische so melodisch klingt. Das Deutsche hingegen klingt für viel hart oder kratzig. Ein Vorteil in einer multikulturellen Gesellschaft ist das Wissen um die eigene Kultur. Denn wenn Andere ihre Eindrücke über das ihnen Fremde wiedergeben, lernt man so einiges.

Die Sprache hat auch eine mechanische Komponente. Nein, keine Roboter, Verstrebungen oder Seilzüge. Seilzüge ist vielleicht do gar nicht so verkehrt. Um einen Laut zu bilden, die Grundlage eines Wortes, was die Grundlage eines Satzes ist, der wiederum die Basis der Sprache ist … muss im menschlichen Körper was geschehen. Die Stimmlippen (Stimmbänder), die Lippen, der Kiefer und die Lunge sind unerlässliche Werkzeuge der verbalen Kommunikation. Je öfter die Stimmlippen schwingen, desto höher die Stimmlage. Umgekehrt genauso.

David Crystal beschreibt in seinem Buch das, was uns täglich umgibt. Von den ersten Lauten über die körperlichen Voraussetzungen bis hin zur Herausbildung von Slang und der Entwicklung der Sprache und ihrer Arten. Ohne abzuschweifen dringt er in die Tiefen der Wissenschaft vor, um kurzweilig und teils auch amüsant der allgegenwärtigen Sprache aufs Maul zu schauen.

Mein Paris

Mein Paris

Einmal Paris so richtig genießen, ganz tief eintauchen, es so sehen wie kein Anderer. Das wär’s! Für die meisten reicht es dann für Eiffelturm (meist dann auch noch nur mit einem F), Champs Elysees und vielleicht noch Sacre Cœur. Den Rest kennt man von der Schlussetappe der Tour de France. Doch wenn man schon mal da ist, in Paris, dann wäre es doch schön einen Reiseführer zu haben, der eben mehr als nur die Touristenhighlights zu bieten hat. Am besten Einen, der sich hier auskennt, hier geboren ist, hier lebte, und am besten Deutscher ist. Denn die Unterschiede sind trotz aller Nähe immer noch da – was allsonntägig auf arte in der Sendung „Karambolage“ zu erfahren ist. Verdichtet man seinen Wunsch derartig, bleibt nur einer übrig: Ulrich Wickert.

Beschwingt wie ein Chanson der jungen Françoise Hardy schlendert der Journalist durch Paris. Faktenreich, exakt und zackig wie ein Militärmarsch parliert er in Geschichte. Einzelne Kapitel sind zweigeteilt: Zuerst das Vergnügen, dann die Arbeit. Erst ein Spaziergang, dann die historischen Exkurse.

Und so schlendert man lesend durch die Stadt der Liebe. Vorbei und mittenrein. Notre Dame, Arc de Triomphe, Champs Elysees, Place de la Concorde – alles bekannte Namen. Und doch zeigen sich beim Lesen Wissenslücken auf. Die schließt Ulrich Wickert gekonnt. Wie kaum ein anderer Schreiber versteht er es sein enormes Wissen ohne den Zeigefinger zu heben dies zu vermitteln. So wird ein Stadtbummel en passant zu einer Lektion in Geschichte, Geographie und französischer Kultur. Paris wird nie mehr nur ein Reiseziel sein. Paris ist von nun an Liebe.

Die Boulevards, übrigens ein Wort deutschen Ursprungs, einst Bollwerke, werden zu Flaniermeilen der Liebe. Die Wasserspeier an Notre Dame sind nun mehr als nur eine Zierde. Der Arc de Triomphe erstrahlt in neuem Lichte. Alles, weil man die Geschichten herum nun kennt.

Ulrich Wickert nimmt sich zuerst die großen Sehenswürdigkeiten der Stadt vor, um dann den Leser auf eine Kulturreise ins Herz der Franzosen mitzunehmen. „Essen als schöne Kunst betrachtet“ nennt er das beeindruckendste Kapitel. Wer zu diesem Abschnitt vorgedrungen ist, hat schon viel über Paris gelernt. Aber alles Bisherige war zum Greifen nah. Konnte man betrachten, erklimmen, berühren. Doch Frankreich, Paris ohne die cuisine ist eben nicht mehr als eine Reportage: Schön anzusehen, appetitanregend, doch immer sehnsuchtsvoll. Weil nicht erlebt. Mit einem Feinschmecker wie Wickert sich durch Paris zu fressen, ein formidables Erlebnis. Als amuse-gueule serviert Ulrich Wickert immer wieder kleine Anekdoten, wie die von der Fotografin Gisèle Freund, der sogar Francois Mitterand gehorchte. Oder von Restaurantbesitzer Rene Lafon, der Hemingway und Dali, Sartre und Picasso zu seinen Gästen zählte.

Nach so viel Wissen, so eloquent dargebracht, fehlt nur noch eine entscheidende Reiseinfo: Das Wetter.

Herr Huang in Deutschland

Herr Huang in Deutschland

Wer sich eingehend und langfristig mit einer Sache beschäftigt, läuft Gefahr „betriebsblind“ zu werden. Und das ist etwas, was man jedem Volk vorwerfen kann. Man denke nur an die Probleme zwischen Deutschland und Griechenland. Wer von außen auf sich selbst schaut, entdeckt so manches, was ihm bisher verborgen blieb. Insofern ist „Herr Huang in Deutschland“ eines der deutschesten Bücher überhaupt.

Huang Nubo gibt es wirklich. Also kein Roman! Er ist ein erfolgreicher Unternehmer aus China, der es sich in den Kopf gesetzt hat alle UNESCO-Weltkulturerbestätten zu besuchen. Und das sind Hunderte. Deutschland kann vierzig Stück aufweisen. Und hier beginnt auch die Weltreise des Herrn Huang.

Wer kann sie alle aufzählen? Kaum einer! Aachener Dom, Kloster Maulbronn, Wörlitzer Park. Man kennt sie, aber, dass sie Weltkulturerbe sind, weiß niemand. Eine der Tatsachen, die Herrn Huang sofort auffallen. So effizient die Deutschen sind, so achtlos gehen sie in den Köpfen mit ihrem kulturellen Erbe um. Huang Nubo freut sich, dass so viele Stätten so gut erhalten sind und werden.

Knapp vier Wochen nimmt Huang Nubo Zeit, um Deutschland kulturell zu erkunden. Die Denkmale sind die Ziele, die Menschen herum der Weg. Asiatische Gelassenheit und kindliche Neugier sind seine ständigen Reisebegleiter. Die werden allerdings schon beim ersten Kontakt mit der deutschen Obrigkeit, beim Zoll, auf eine harte Probe gestellt. Kein Blickkontakt gleich gründliche Kontrolle. Huang Nubo nimmt in seinem Reisetagebuch kein Blatt vor den Mund. Erfrischend!

Ein Chinese auf Weltreise zum Kulturerbe lautet der Untertitel des Buches. Huang Nubo ist schon weit gereist, bevor im Jahr 2013 aufbrach. Er war unter anderem dreimal auf dem Mount Everest. Weitsicht ist sein Metier. In vier Wochen eine ganze Nation kennenzulernen ist unmöglich. Aber Herr Huang hat in dieser Zeit einen tiefergehenden Einblick gewonnen als so mancher Eingeborener. Ständig zieht der Weltbürger Vergleiche zu seiner Heimat. Schließlich ist Deutschland auch erst vor historisch kurzer Zeit zusammengewachsen. China, Hongkong und Taiwan stecken da noch in den Kinderschuhen. Huang Nubo bereist Deutschland, führt Tagebuch und dem Leser sein eigenes Land vor Augen. Ehrlich, ungeschminkt und unterhaltsam.

Roter Lavendel

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Côte d’Azur und Provence – zwei Regionen, die immer noch zum Träumen einladen. Ralf Nestmeyer weiß das, weil seine Reisebücher ein unverzichtbares Utensil bei Reisen im Süden Frankreichs sind. Mit „Roter Lavendel“ verlässt er die Sachebene und lässt seiner Phantasie freien Lauf. Lavendel und Provence – das passt. Und wie! Eigentlich soll der Erzähler, ein Fotograf, einen Kalender über das urtypische provenzalische Gewächs realisieren. Ein dankbarer Auftrag, denn er kennt die Provence, hat Freunde dort. Ohne groß nachzudenken, nimmt er den Auftrag an.

Ausgangspunkt ist die wohl schönste Stadt Frankreichs, Avignon mit dem wuchtigen Palais du Pape und den pittoresken Gassen. Wer einmal hier durch die Gassen mit ihren bunten Läden gewandelt ist oder einmal seine Blick vom Turm des Palais‘ über die Rhône schweifen ließ, ist sich sicher, dass es kaum schönere Plätze gibt. Doch für den Erzähler bekommt diese Aussicht einen mysteriösen Anstrich.

Ein älterer Mann, den er aus dem Zug kennt, bittet ihn ein Paket mit für ihn wichtigen Papieren aufzubewahren. Da sich die beiden auf Anhieb sympathisch waren, gibt es keine Frage. Doch als er die Papiere in der Mappe Michel Perras, so der Name des älteren Herren, zurückgeben will, ist der verschwunden. Abgereist. Aus Neugier – die beiden haben sich bereits über die harte Kindheit Perras‘ unterhalten – blättert der Fotograf ein wenig in der Kladde. Darin sind einige Briefe eines Deutschen, der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Südfrankreich interniert war und fliehen konnte. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Perras und den Briefen? Das eigentliche Fotoprojekt rückt immer weiter in den Hintergrund.

Die Zeilen ziehen den Erzähler immer weiter in eines der düstersten Kapitel deutsch-französischer Geschichte. In der in den Briefen erwähnten Ziegelei Les Milles erhält die Geschichte der Briefe neuen Schwung. Dort ist auch ein Gedenkzentrum eingerichtet, in der ein Mann arbeitet dessen Tochter für den Erzähler zu unschätzbarem Wert wird…

Ralf Nestmeyer ist „im Nebenberuf“ Historiker. So erklärt sich auch das enorme Fachwissen, das er hier und da gekonnt einfließen lässt. Schriftsteller wie Thomas Mann und Joseph Roth, der Maler Max Ernst und viele unbenannte deutsche Exilanten fanden im Süden Frankreichs ein Zeitlang eine neue friedvolle Heimat. Als die Nazis mit dem Vichy-Regime eine Übereinkunft trafen, dass Deutsche an Deutschland ausgeliefert werden, waren auch ihre Tage im Sonnenlicht gezählt. Siebzig Jahre nach Kriegsende sind immer noch nicht alle Schicksale belegt und erzählt. Davon handelt auch „Roter Lavendel“. Mit dem Unterschied, dass dieses Buch den Spagat zwischen Historie und Urlaubssehnsucht schafft.

Götter am Nil – Ägyptische Mythologie für Einsteiger

Götter am Nil

Ägyptische Gottheiten? Wer kennt sie schon? Amun wie in TutenchAMUN. Aton wie in EchnATON. Aus so manchem Historienschinken kennen viele noch RA, den Sonnengott. Der heißt eigentlich Re. Und da beginnt das Dilemma.

Garry J. Shaw hat sich den Mythen und Göttern am Nil angenommen und ein wenig Ordnung geschaffen. Keine leichte Aufgabe, wie er einleitend selbst zugibt. Und doch wird „Götter am Nil – Ägyptische Mythologie für Einsteiger“ schnell zum Lesebuch. Mit überzeugender Einfachheit nehmen Mythen Gestalt an, werden Zusammenhänge klar und so mancher Gott bekommt ein Zuhause.

Mythen, die Gestalt annehmen – so stellt sich auch die Erschaffung der Welt am Nil dar. Nun heißt der Übeltäter. Er ist es, der der Welt auf die Welt half. An dieser Stelle kann nicht auf jede einzelne Gottheit eingegangen werden – Garry J. Shaw kann das außerdem viel besser. Beim Lesen erstaunt immer wieder wie viele Namen doch bekannt sind, immer wieder in unserem Leben auftauchen. Neben den bereits erwähnten Amun und Aton sticht bei Filmfans besonders der Name Seth hervor. Seth Geckos Name setzt sich aus der Gottheit Seth und dem raffgierigen Gordon Gecko aus „Wallstreet“ zusammen. Seth, dieser Name ist Programm.

Osiris – Gott des Jenseits, bekannt aus Cinemascope-Blockbusters in Technicolor. Meist kein gutes Zeichen, wenn Osiris erscheint. Er wird ermordet. Von Seth. Auch bei den ägyptischen Göttern ist ein Kommen und Gehen. Priester und Pharaonen nahmen sich ihrer an, nutzten ihren Ruf, um die eigene Macht zu stärken. Dabei wurde in der Moderne viel Schindluder mit den Göttern getrieben. Jedem, der ich eingehender mit der Materie beschäftigt, graust es bei Anschauen der cineastischen Machwerke.

Garry J. Shaw bringt nicht nur Ordnung ins Gewühl um die Vorherrschaft der Götter am Nil. Der holt unbekanntere Gottheiten aus der Versenkung und erlaubt ihnen mitzuspielen im Konzert der Großen. Mit Geduld und Akribie forscht er im Dickicht der Mythen. Ein Lesebuch mit Lehrcharakter.

Das Beste vom Bodensee – Küche und Lebensart

Das Beste vom Bodensee

Regional soll man kochen. Saisonal soll man kochen. Dann lebt man gesund. Doch da fehlt doch noch was! Klar, die richtige Umgebung! Am besten eine in der man viel fischen kann. Und eine mit großen Anbauflächen für Obst und Gemüse. Auch die Zutaten für Flüssignahrung sollte man hier finden. Wein und Bier, so dass jeder zufrieden ist. Ist gar nicht so einfach dieses Paradies zu finden…

Am Bodensee wird man fündig. Auf Reichenau ziehen sich endlose vor Farbenpracht strotzende Felder gen Kloster. Lollo rosso und lollo bianco. Wie am Reißbrett entworfen scheinen sie ein Muster in die gesegnete Erde zu malen. Dreimal pro Jahr kann geerntet werden. Dank des Wasserreichtum und der Qualität des selbigen.

Der Fischreichtum nimmt zwar stetig ab, doch es ist noch genügend da, um die Teller der Gäste und Einheimischen reichlich zu füllen. Für pochierte Felchenfilets oder Trüsche im Ganzen gebacken.

Auf den Weiden haben es die Kühe gut. Saftiges Gras erlaubt ihnen gehaltvolle Milch zu geben. Die wird zu leckerem Käse verarbeitet, den man als Thurgauer Käseterrine serviert. Oder zu Räßkäse, einem scharfen und würzigen Käse.

Christiane Leesker hat mit diesem Buch der Küche des Bodensees ein Denkmal gesetzt. Vanessa Jansen hat es stimmungsvoll den würdigen Rahmen verliehen. Nur wenige Kochbücher dürfen Superlative wie „das Beste“ verwenden, weil einem schon beim ersten bloßen Durchblättern das Wasser im Mund zusammenläuft. „Das Beste vom Bodensee – Küche und Lebensart“ gehört definitiv dazu.

Kurze Geschichten aus der Geschichte und der Tradition lockern dieses liebevoll gestaltete Buch auf. So wird nicht nur der Appetit, sondern auch die Reiselust geweckt.

Die Auslöschung der Mary Shelley

Die Auslöschung der Mary Shelley

Ein martialischer Titel: Auslöschung. Hat was Endgültiges. Mary Shelley – ja, der Name wurde nicht zufällig gewählt – ist Biologin. Eine hervorragende Biologin. So gut, dass sie an einem Computer arbeitet, der es erlaubt jeden und alles komplett zu überwachen. Aus aktuellem Anlass im Namen der NSA, der National Security Agency. Doch Mary Shelley hat auch ein Gewissen. Sie weiß, dass der Computer eine neue Zeitrechnung einleiten wird.

Und diese Zeitrechnung will sie beeinflussen. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zögert sie die Fertigstellung hinaus. Doch sie verfolgt auch eigene Ziele. Idealistisch wie sie ist, will sie ihr „Monster“ zur Kriminalitätsbekämpfung umprogrammieren. Das Übel bei den Wurzeln packen.

Marc Buhls Mary Shelley ist die moderne Jean d’Arc des digitalen Zeitalters. Ihre Religion ist eine friedvolle Welt. Ohne Heiland, ohne Dogmen. Doch sie hat die Rechnung ohne ihr Monster gemacht. Denn der Computer tut das, was er will, was er denkt. Und das ist nicht immer in ihrem Sinne. Der Computer sollte der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, doch jetzt ist „Victor“ – wie er bezeichnenderweise heißt – auf seinem eigenen Siegeszug durch das globale Netz. Und wo könnte der Thriller anders enden als im Death Valley …

„Die Auslöschung der Mary Shelley“ ist erst der Auftakt zur großen digitalen Verbrecherjagd. Jeder Leser hat – sofern er in sozialen Netzwerken organisiert und verknüpft ist – die Möglichkeit an dem Monster mitzuwirken. Näheres dazu gibt es auf der Verlagshomepage: blinkbooks.berlin.

Die endlose Stadt

Die endlose Stadt

Wo nichts ist, war nie was. Wo was war, sieht man. Was es war, versucht Holle mit der Kamera einzufangen. Sie ist Fotografin und lebt in Istanbul. Hier hat sie auch Celal kennengelernt, was sie nicht davon abhält – wie kann sich nicht erklären warum – Dr. Christoph Wanka interessant zu finden. Anziehend findet sie ihn nicht. Denn er lebt in einer anderen Welt. Vorstand. Die Kunst ist für ihn nicht Lebenselixier (wie bei Holle), sondern Gegenstand seines Status. Nicht aus Schwäche, nicht aus Resignation, sondern aus der Tatsache heraus, dass es in ihre Konzept passt, willigt sie ein, dass Wanka nach langem Drängen ihr einen Aufenthalt in Mumbai spendiert. Beide Städte sind vergleichbar und auch wieder nicht. Annähernd die gleiche Einwohnerzahl ist Istanbul mehr als achtmal so groß wie der indische Moloch. Wo eben noch etwas war, ist hier schon wieder etwas anderes. Anders als in Istanbul sind die Zeichen des Dagewesenen schnell verblasst. Holle verlässt Mumbai wieder Richtung Istanbul. Ihre Wohnung in Mumbai übernimmt Theresa. Sie ist Journalistin. Auch eine Künstlerin, aber eine, die im Korsett der Fakten und Deadlines gefangen ist.

Auch Theresa begegnet Dr. Wanka. Im Film wäre die Rolle des Wanka eine Nebenrolle: Was im Englischen als „supporting role“ bezeichnet wird. Eine Titulierung, die dem Charakter näher kommt. Die Namensähnlichkeit mit Willy Wonka aus „Charlie und die Schokoladenfabrik“ ist beabsichtigt oder nicht. Im Film ist er die Antriebsfeder, in „Die endlose Stadt“ ist Wanka / Wonka Vehikel des Fortschritts. Beide Frauen begegnen ihm, ändern ihr Leben, folgen ihm und sagen sich von ihm los.

Istanbul und Mumbai sind der Ulla Lenzes Nährboden für die Schicksale zweier Frauen. Welche der beiden Städte die „endlose Stadt“ ist, bleibt dem Leser überlassen.  Der Roman ist keine leichte Kost für „mal eben zwischendurch“. Dafür sind die Charaktere zu ausgefeilt, zu komplex, zu streitbar. Die Abkehr vom Materialismus und der Zwang, sich mit der Bezahlung der Arbeit einen Lebensentwurf leisten zu müssen, wirft zahlreiche Konflikte auf. Ob lokal oder global, ist einerlei. Die Beschäftigung mit den Problemen lässt viele scheitern. Die Protagonistinnen sind sich noch nicht sicher, ob sie scheitern oder weitersuchen.

Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Benjamin ist der vierte Sohn einer Familie aus Akure im Westen Nigerias. Der Vater wird in den Norden des Landes geschickt, womit das geordnete Leben der Familie ein plötzliches Ende findet. Denn der Vater war die Richtschnur des Idylls. Sein Wort war Gesetz. Die Kinder müssen nun sehen wie das Geld in die Kasse kommt. Sie werden Fischer. Dabei sollten sie nach den Vorstellungen des Vaters Anwälte, Doktoren, Ingenieure werden.

Alle zwei Wochen kommt der Vater aus dem Norden zu seiner Familie. Die Firma hat ihn dahin versetzt – er fügte sich seinem Schicksal. Zuhause fordert er von seiner Frau zu berichten wie sich die Dinge entwickeln. Seine Frau kommt seiner Bitte oft und gern ach. Als der Vater erfährt welcher Tätigkeit seine Zöglinge nachgehen, ist er erbost. Statt ihre Nasen in die Bücher zu stecken und eine angesehene Karriere machen zu können, gehen sie einem Vergnügen nach. Und dann auch noch am Omi-Ala, dem dunklen Fluss. Dort ist es verboten zu fischen.

Dieser Fluss, Omi-Ala, ist auch der Ort, an dem die Brüder einen selbsternannten Propheten treffen. Ein übler Geselle. Er mordet. Er verkündet Unheil. Ein Unheil, das die Blutsbande der Brüder entzweien soll. Was auch gelingt…

Chiogozie Obioma zeichnet mit seinem ersten Roman ein düsteres Bild Nigerias in den 90er Jahren. Sani Abacha war noch an der Macht. Ein Diktator, dessen Erlässe bis heute nachwirken. Unter anderem war er für den international viel beachteten Mord an dem Journalisten und Umweltaktivisten Ken-Saro Wiwa verantwortlich. Diese Zeit hat der Autor (geboren 1986)  als Kind miterleben müssen.

Mythos und Zukunftsängste sind die beherrschenden Themen in dem beeindruckenden Erstling von Chiogozie Obioma. Nigeria als zerrissener Staat, der in Teilen von ungeheurem Terror heimgesucht wird, als Land, in dem Korruption allgegenwärtig ist, als Heimstätte so vieler reichhaltiger Kulturen – hier erfährt der Leser mehr als die düsteren Nachrichten. „Der dunkle Fluss“ führt in seinen Wassern die DNS der Gewalt. Was auch die einst fröhlichen Kinder hart am eigenen Leib erfahren müssen. Zwischen  Kopfschütteln und faszinierender Folklore ist der Leser hin- und hergerissen.

Auf See

Auf See

Mit dreiundvierzig Jahren das Zeitliche zu segnen, ist wahrlich nicht erstrebenswert. Ein dahinsiechender Patient, der in geistiger Umnachtung stirbt, muss, um zufrieden abtreten zu können, einiges erlebt haben. Guy de Maupassant war sicherlich nicht zufrieden als er 1893 zu jung in einer psychiatrischen Klinik bei Paris starb. Aber er hat viel erlebt und es niedergeschrieben. So wie diese Geschichte einer zehntägigen Schifffahrt von Antibes nach Saint Tropez.

Nicht nur die Sicht auf die Dinge des Lebens – de Maupassant war zu diesem Zeitpunkt (1887) schon noch (!) bei bester Gesundheit, auch die Beschreibungen des Gesehenen machen „Auf See“ zu einem unverzichtbaren Werk, das sich am besten an den Stränden der Côte d’Azur genießen lässt.

Vorbei an den schneebedeckten Wogen aus Granit, wie er poetisch die Alpen nennt, schippern er und zwei Begleiter südwestlich an der azurblauen Küste entlang. Beim Anblick von so viel Erhabenheit schwelgen viele in Erinnerungen. Guy de Maupassant auch. Er denkt an Paganini. Der sollte nach seinem Tod von seinem Sohn nach Genua gebracht werden. Wegen der Cholera verwehrte man ihm aber in allen Häfen die Anlandung. Er Jahre später wurde der Leichnam von einer kleinen Insel nach Parma gebracht. So düstere Gedanken in solch farbenfroher Umgebung. Im Anhang erfährt der Leser, dass diese Geschichte komplett erfunden ist.

In Cannes lockert sich die Stimmung des Autors. Er lästert im Stile einer Klatschbase über die hier versammelten Fürsten, für die es nur eines zu geben scheint: Sich im Kreise Ihresgleichen sonnen zu können.

Im Leben Guy de Maupassants geht es auf und ab. Wie das Schiff, auf dem er sich befindet, geht es mit ihm Auf und Ab. Manchmal merkt er gar nicht mehr, dass er überhaupt schreibt. Je öfter er an Land geht desto näher ist er an den Menschen. Zwischen Mistral und wogender See philosophiert er über die Mentalität der Franzosen.

Auf See ist Guy de Maupassant ganz er selbst, nicht immer bei sich, doch stets der wortgewaltige Schriftsteller. „Auf See“ ist keine bloße Reisebeschreibung, das war nie sein Ding. Dennoch gelingt es ihm die Schönheit der Côte d’Azur in kraftvolle Worte zu kleiden und den Leser in Urlaubsstimmung hineingleiten zu lassen.

Der Anhang des Buches gibt Aufschluss über die Intentionen der Reise und die Quellen der soeben gelesenen Zeilen. Guy de Maupassant war ein Lebemann mit allen Konsequenzen. Dieses Buch gehört in die Hand an den Stränden der Côte, mit allen Konsequenzen.