Tagebuch eines Überflüssigen

Wenn Tschulkatorin nur wüsste, welch Schnippchen er dem Schicksal noch schlagen wird. Irgendwas um die Dreißig hat ihm der Arzt salbungsvoll gerade mitgeteilt, dass es mit ihm bald zu Ende gehen wird. Der Landbesitzer, den keiner wirklich braucht. Der sein Auskommen hat. Alles vorbei, bevor das Leben richtig begonnen hat. Es ist Ende März im Jahr achtzehnhundertirgendwas. Tschulkatorin, der Mann ohne Vornamen, ohne Zweitnamen, in Russland immer der Name des Vaters mit einem –witsch hintendran, hat nicht mehr viel zu erwarten. Auch niemandem, dem er gegenüber Rechenschaft ablegen muss. Im engeren Sinne ein freier Mensch. Doch er ist nicht glücklich. In der Blüte des Lebens einsehen zu müssen, dass man bald verblüht, dass die Blüte nicht einmal richtig stattgefunden hat, ist hart.

Nun sitzt er da. Aber er lässt den Kopf nicht hängen. Er beginnt Tagebuch zu schreiben. Ob es eine dicke Lebensbeichte wird oder nur ein fast leeres Blatt Papier, kann er nicht wissen. Trotzdem schreibt er. Nur für sich. Wie er meint. Doch an so mancher Stelle, tritt Zorn zu Tage. Spricht er Menschen an. Sie werden ihn nicht erhören.

Tschulkatorin erinnert sich an die gefühlskalte Mutter. Und an den Tag, an dem der geliebte Vater röchelnd verstarb. Und an Lisa! Ja, sie war es. Die große Liebe seines Lebens. Unbeachtet ließ sie ihn sie im Arm halten, entschied sich für einen Anderen. Beim Tanz ließ sie ihn abweisen, entschied sich für einen Anderen. Und Tschulkatorin? Er konnte Lisa nicht vergessen. Kein noch so harter Schlag konnte ihn jemals verletzen. Er war sowieso ein Überflüssiger – in der russischen Literatur ein gern gewählter Charakter.

Schon bald entfaltet sich der Frühling in seiner ganzen Pracht. Die Vögel werden singen, die Knospen sprießen, das Leben wird zurückkehren. Nicht für Tschulkatorin. Der erste April (vielleicht wird es auch der zweite sein, doch der erste klingt für ihn natürlich viel besser) wird der Tag sein, an dem sein Schicksal besiegelt sein wird. Er wird abtreten. Wird es jemand merken? Sei’s drum. Er wird gehen, das weiß er. Draußen scheint die Sonne grell und bricht das Grau des Winters entzwei. Tschulkatorin wird aufbrechen in eine neue Zeit…

Iwan Turgenjew lässt einmal mehr einen Helden scheitern, ihn aber nicht zerbrechen. Tschulkatorin weiß, dass er gehen muss. Es ist weder Erlösung noch Angst, die ihn umtreibt. Er schreibt, um sich sein eigenes Leben vor Augen zu führen. Ob es jemals von jemand anderem gelesen wird, ist ihm gleich. Er wertet nicht, warum auch? Er war und ist ein Mensch, den es gab und gibt. Nicht mehr, nicht weniger. Dieses Tagebuch hingegen ist ein kurzweiliges Erinnerungsstück an einen Menschen, den man schnell vergisst. Aber von einem Autor, der nicht in Vergessenheit geraten darf!