Stunde der Flut

D-E-S-I-L-L-U-S-I-O-N-I-E-R-T. So könnte man Charlie Deravin am einfachsten beschreiben. Momentan ist der Polizist aus einem trostlosen Städtchen an der Südküste Australiens vom Dienst suspendiert. Er hatte seinen Vorgesetzten geschupst. Der flog über seinen Schreibtisch und verknackste sich das Handgelenk. Und nun muss Charlie Deravin, der Mann, der keiner Flieg was zu Leide tun kann – konnte – regelmäßig zur Therapie. Das allein ist schon Strafe genug.

Vielleicht ist der „Schupser“ auch das Resultat seiner eigenen Vergangenheit. Sein Vater war auch Polizist, Ermittler bei Schwerbrechen. Die Familie lebte in einer typischen Polizistensiedlung. Wohin man sah standen nur kleine Häuschen, die einmal Ferienhäuser waren, später als Siedlung für diejenigen, die für Recht und Ordnung sorgten, umgestaltet wurden. Hier war man unter sich, raufte (zum Spaß), trank, grillte. Jeder kannte jeden – man passt auf sich auf! Und trotzdem war das Leben hier stickig. So manche Ehe zerbrach. Auch die von Rhys und Rose, Charlies Eltern. Die Mutter nahm sich eine noch schäbigere Bruchbude, um von ihrem Mann getrennt zu sein. Ihr Untermieter machte ihr immer wieder Sorgen. Er benahm sich wie die Axt im Walde. Zahlte die Miete nicht, scherte sich einen Dreck um die kleinsten Hausarbeiten. Charlie und sein Bruder Liam machten ihm damals – vor zwanzig Jahren – eindrücklich klar, dass er hier nicht mehr erwünscht sei. Und Rose war wieder allein.

Das war kurz bevor Rose Deravin verschwand. Seitdem ist Charlie auf der Suche nach den Gründen, und natürlich ist er auch auf der Suche nach dem Täter. Den gibt es bis heute – zwanzig Jahre nach der Tat – nicht. Damals konzentrierte man sich ziemlich schnell auf den Rhys Deravin. Ein knallharter Ermittler, der die Lebenslust irgendwo zwischen Tatortbesichtigung und Täterjagd verloren hatte. Doch man sprach ihn frei. Für Charlie ein Schlag ins Gesicht.

Nun hat er mehr Zeit als ihm lieb ist, um der Vergangenheit die Stirn zu bieten und dem Täter, sofern es ihn gibt, den Atem in den Nacken zu hauchen. Lange fischte Charlie im Trüben, seit Jahren stochert er auf dem Trockenen nur herum. Doch jedoch er gräbt, umso größer sind seine Chancen doch noch auf fruchtbaren Boden zu stoßen, bis die Flut losgetreten wird…

Garry Disher kann es nicht lassen. Mehrere Krimireihen, vom gewieften Kriminellen über den engagierten Polizeibeamten bis hin zum Eigenbrödler, tragen seine Handschrift. Die Geschichte von Charlie Deravin und der Suche nach seiner Mutter ist ein echter Disher. Behutsam beschreibt er die nicht gerade einladende Gegend, in der eigene Regeln gelten. Schon nach wenigen Seiten fühlt man sich heimisch, obwohl kaum ein Handlungsort auf dieser Erde weiter entfernt sein könnte. Es soll ja Leser geben, die Garry Disher noch nicht kennen – jetzt lernen sie ihn auf Anhieb mit seinen besten Seiten kennen.