Mutters Stimmbruch

„Die alten Zähne wurden schlecht, und man begann sie auszureißen. Die neuen kamen gerade recht, mit ihnen ins Gras zu beißen.“ Heisa, was war das lustig, als man frisch gebadet im Schlafanzug bei der Oma auf der Couch saß und gebannt der großen Samstagabend-Fernsehshow folgte. Hihi, Zahnausfall, dachte man. Bis es einen selbst betraf.

Betroffen ist auch die Tochter, die ihrer Mutter beim Stimmenverlust anfangs tatenlos zusehen muss. Auch hier sind die Zähne die Quelle des Verlusts. Waren sie zu Beginn noch Quell der Hoffnung – mit jedem Milchzahnverlust erlernte die Mutter eine neue Sprache (allerdings nur bei Eckzähnen) – steht heute der Wegfall der Beißkraft für einen Schritt des Älterwerdens. Irgendwie ist der Schwung verloren gegangen.

Alles um Mutter herum ist Herbst. Es regnet durchs Dach, der Garten ist braun und grau und unansehnlich. Die Motivationsschübe sind noch nicht ganz verklungen, doch die Abstände werden größer. Dafür werden die Ausschläge expressiver. Es muss sich was ändern.

Der Umzug ist der einzige Ausweg, wenn es diesen überhaupt gibt. Verzögerungstaktik oder Umwälzung? Ewiger Herbst oder neuerlicher Herbstbeginn mit strahlendem Sonnenschein und partieller Lichtkraft? Es ist mehr als einen Versuch wert…

Katharina Mevissen treibt ihre sonderbaren Gedanken (und das ist in diesem Fall nur positiv gemeint) dem Leser mitten ins Hirn. Voller Anspielungen und Mehrfachdeutungen bedient sie sich dem Klischeebild der alternden Mutter. Wenn etwas fehlt – in diesem Fall erst ein Zahn, dann noch einer, immer öfter sogar die Stimme – geht auch der Nimbus Mutter verloren.

Immer wieder schafft Katharine Mevissen den Twist nicht ins Kitschige oder gar Lächerliche zu verfallen. Mutter ist ein ernstes Thema. Doch nicht nur das: Mutter ist Mutter. Das gibt es keine Grauzone. Nicht einmal eine Parallelwelt. „Mutters Stimmbruch“ ist nicht mehr und nicht weniger als eine liebevolle Auseinandersetzung mit dem Älterwerden des wichtigsten Menschen. Tragik und Komik liegen oft beieinander. Hier hupfen sie Händchen haltend durchs Leben. Und der Leser darf dabei zusehen. Und lauschen. Und sich in der Geschichte festbeißen…