Mädchen brennen heller

Es beginnt so zärtlich. Purnima wurde nach dem Mond benannt. Ein zärtlicher Name für ein zartes Geschöpf. Doch schon die Antwort des Vaters, warum die Erstgeborene denn diesen Namen bekam, lässt das Unheil in weiter Ferne erahnen: Einer Prophezeiung nach würde dann ein Sohn geboren. Und der ist in der indischen Gesellschaft mehr wert! Da muss man erstmal schlucken. Nicht zum letzten Mal in diesem Buch von Shobha Rao.

Purnima ist die Älteste, muss im Haushalt und bei der Arbeit helfen – Purnimas Familie gehört zur Weberkaste. Und irgendwann, bald, wird sie heiraten. Sie wird verheiratet werden. Denn Heirat bedeutet einen Esser weniger in der Familie. Besonders, wenn der Esser eine Frau, ein Mädchen ist.

Purnimas Mutter ist krank. Krebs. Sie wird bald sterben. Die Hochzeit wird aus allen Gründen, außer menschlichen, notwendiger denn je. Ebenso wird eine Haushaltshilfe benötigt. Diese steht eines Tages in der Gestalt von Savita auf der Schwelle. Nur ein oder zwei Jahre älter als Purnima. Ihr Name bedeutet Sonne. Sonne und Mond- so unzertrennlich miteinander verwoben wie die beiden Mädchen, jungen Frauen. Savita ist die Rettung für Purnima. Sie zeigt ihr wie man sich aufdringlichen jungen Männern – die ja mehr wert sind – erwehren kann. Savita ist der Rettungsanker, den sich Purnima nicht einmal im Schlaf hätte vorstellen, hätte wünschen können.

Doch das Schicksal schlägt einmal mehr erbarmungslos zu. Savita von einem Tag auf den anderen nicht mehr da. Purnimas Leben scheint nun vorgezeichnet zu sein. Nach und nach findet Purnima heraus, was passiert ist. Eine abscheuliche Tat ist Savita widerfahren. So unwirklich, dass es kaum fassbar ist, was Shabha Rao da beschreibt.

Wer immer noch in der romantischen Vorstellung der indischen Gesellschaft lebt, dass hier alles in Harmonie verharrt, wird einen Denkzettel fürs Leben bekommen. Das Kastensystem erlaubt kaum Ausbrüche, geschweige denn Aufstiege. Mädchen stehen im Ehrenranking so weit hinten an, dass sie kaum existent erscheinen. Männer sind, egal welcher Kaste sie angehören, in jedem Belang überlegen. Dass Shabha Rao ihre Heldin Purnima den Ausbruch wagen lässt – Purnima sucht besessen nach Savita, reist durch Indien bis ans andere Ende der Welt – ist eine Revolution in der indischen Literatur. Armut und Missbrauch gehören in Purnimas Kreisen zum Alltag. Die allgegenwärtige Gewalt, das bedrückende Leben in unmenschlichen Verhältnissen sind das Salz in der Suppe dieses erstklassigen Romans. Der Kampf Purnimas gegen diese Regeln machen daraus ein schmerz- und schmackhaftes Mahl.