Licht aus dem Osten

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Dass Naturwissenschaften ständigen Veränderungen unterliegen, leuchtet jedem ein. Neue Forschungserkenntnisse erleichtern unseren Alltag. In den Geisteswissenschaften ist ein Fortschritt nicht sofort greifbar. Es gibt Schriften, Bauten oder andere Zeugnisse der Vergangenheit, die „man nur noch entschlüsseln muss“. Aber ansonsten ist doch alles klar. Sollte man meinen. Doch warum gibt es dann so viele Sichtweisen auf das, was war?

Die Welt kann in so viele Kategorien eingeteilt werden, wie es Wissenschaftler gibt. Orient und Okzident. Gut und Böse, Arm und Reich, Ost und West, Modern und Unmodern etc. Moment! Ost und West? Wer zieht denn die Grenze? Wo beginnt der Osten, wo der Westen? Und wieso zieht man diese Grenze überhaupt? Und die alles entscheidende Frage: Wer hat recht?

Auch Peter Frankopan kann diese Frage nicht beantworten. So viel steht fest. Aber, was er kann und vor allem auch tut, ist die Sichtweise auf unsere Geschichte, unser Weltbild zu erweitern. Denn so schmerzlich diese Erfahrung für so manchen Krakeeler auch sein mag: Auch im Osten wurde Geschichte geschrieben. Noch lange bevor der Westen (in letzter Zeit wird ja gern der Zusatz „so genannt“ wieder verwendet, so wie es mal die „so genannte DDR“ gab…) sich mit Ruhm bekleckern konnte, wurde im Osten schon geklotzt. Das Persische Reich sicherte sich seinen Einfluss in dem es sich den eroberten Gebieten in gewissen Teilen des kulturellen Lebens anpasste. Die Perser gingen nicht automatisch davon aus, dass ihre Weltanschauung die einzig Wahre ist. Multikulti ist eben doch keine Erfindung aus dem Kreuzberg der 70er und 80er Jahre. Und schon gar keine aus dem (so genannten) Westen.

Es ist erstaunlich wie viele Ahas schon nach nicht einmal zehn Prozent des Buches aufpoppen. Wie selbstverständlich pflügt der Autor durch die Jahrhunderte ohne dabei den Leser von der Hand zu lassen. Dynastien, Religionswechsel, Herrschernamen, verschwundene Reiche – alles fügt sich zu einem großen Ganzen zusammen. Wie eine bewegliche Grafik in den so genannten (und hier ist der Zusatz angebracht) wissenschaftlichen Sendungen im Vorabendprogramm.

Zitate und Schriften von Gelehrten von Hier und Da bereichern die Argumentation Peter Frankopans. Ins Stocken gerät nur der Leser. Im Angesicht der aktuellen Diskussion, ob der tolerante Westen den intoleranten Osten auf- oder wenigstens annehmen könnte, wird durch die Eroberungspolitik der Perser vor tausenden von Jahren obsolet. Die verstanden die eroberten Gebiete als fruchtbaren Boden ihre eigene Kultur anzureichern. Das Neue wurde erstmal beäugt, auf Brauchbarkeit untersucht und oft (öfter als heutzutage – egal welche Sichtweise man bevorzugt) integriert. Ein stetiger Lernprozess war die Folge.

Der Westen als Nabel der Welt, ist nur eine Sichtweise auf unsere Wurzeln. Wenn man im Westen aufgewachsen ist, ein verständlicher Standpunkt. Doch der weitaus größere Teil der Menschheit ist eben nicht mit den Errungenschaften von Otto I, Leonardo da Vinci, James Watt und Gustave Eiffel (zugegeben eine mehr als willkürliche Aufzählung) aufgewachsen. Sind diese Menschen nun dazu verdonnert sich anzupassen oder sollten man ihren Wurzeln auch Gehör schenken? Das ist keine Frage, die mit Ja oder Nein beantwortet werden soll. Es ist eine rhetorische Frage. Natürlich sollte – man muss, schließlich hat man eine aufgeklärte, humanistische Erziehung genossen – sie anhören und Schnittpunkte finden.

Geschichte ist niemals abgeschlossen. Jede Zeit hat ihre Interpretatoren der Vergangenheit. Das ist hier wie da der Lauf der Zeit – schon mal eine erste Gemeinsamkeit. Und nur weil andernorts die Kultur rein äußerlich anders gelebt und gesehen wird, ist sie nicht gleichzeitig zu verteufeln. Was im Urlaub als Folklore gesehen wird, ist doch zuhause nichts Schlechtes, oder?! Peter Frankopan gelingt es mit einfachen Worten Zusammenhänge darzustellen, eigene Sichtweisen zu ergänzen oder im Einzelfall zu kippen, und den Blick wieder einmal gen Osten zu richten. Doch dieses Mal nicht aus folkloristischen Gründen. Er ist der Geschichtslehrer, den man sich nicht geträumt hat zu ergattern. Denn er schafft es, ohne den Nabel der Erkenntnis zu verschieben, neue Denkweisen anzuregen.