Lesereise Türkei

Lesereise Türkei

Um Istanbul (touristisch) zu erobern, sollte man gestärkt in den Tag starten. Überhaupt sollte jeder Urlaubstag mit einem „guten Frühstück“ beginnen. Und Christiane Schlötzer beginnt ihre „Lesereise Türkei“ in Istanbul mit einem kahvaltı. Käse, Oliven, Honig sind nur drei Zutaten für einen idealen Start in den Tag. Und genauso gehaltvoll wie das Frühstück – in Istanbul kann sich dieses durchaus auch gern mal fast über den gesamten Tag hinziehen – sind auch die Schilderungen der Autorin. Wer da nicht Appetit auf mehr bekommt, wird im „Übermorgenland“ verhungern…

Wenn „newsweek“ Istanbul als die coolste Stadt der Welt bezeichnet, so findet Christiane Schlötzer sofort und zahlreich Gegenargumente. Eines ist sicher: In Istanbul tut sich was! Kaum eine andere Stadt auf der Welt verändert sich so rasend schnell wie die Zwei-Kontinente-Stadt. Auf der einen Seite der Boom der exklusiven Bars und hippen Lokale, auf der anderen Seite die ursprünglichen Viertel, die man noch (noch!) besichtigen kann. Tarlabaşi ist so ein Viertel. Auf den ersten Blick heruntergekommen, sozialer Vorhof zur Hölle, Ausstiegschancen gleich Null. Wer hier ist, geht nur selten wieder weg. Aber nicht aus nostalgischen Gründen, sondern wegen mangelnder Angebote. Doch dieses Viertel soll bald einem Prunkviertel weichen. Schanzelize. So soll es heißen, die türkische Version von Champs Elysées. Bürotürme so kahl und clean wie überall auf der Welt sollen den Aufstieg und Reichtum der Stadt symbolisieren. Und genau hier trifft die Autorin Menschen, die es mit dem harten Leben in der „coolsten Stadt der Welt“ tagein tagaus aufnehmen. Aus allem, was sie finden, machen sie die eine oder andere Lira. Wohlwollend verzichtet sie dabei aber auf die üblichen Klischees von motivierten Menschen, die von einem besseren Leben träumen. Resigniert haben sie nicht. Aber sie kämpfen jeden Tag für ihr Auskommen und bald schon um ihr Viertel.

Die Türkei wurde oft und auch lange von großen Männern regiert. Einer hat die Türkei in die Moderne geführt: Kemal Atatürk. Seit Anfang des Jahrtausends hat ein anderer Mann die Macht, der sich gern als großer Mann sieht. Recep Tayyip Erdoğan wird geliebt und gehasst. Innen wie außen. Dazwischen gibt es nichts. Die, die im London des Orients genauso viel Geld scheffeln wollen wie an der Themse lieben ihn. Die, die das New York des Orients ausmachen sind in der Mehrheit für ihn. Die, die das (und bisher wird es nicht so genannt) demokratische Istanbul sich wünschen, hassen ihn. Die Unruhen und Eskapaden auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park sind noch nicht verhallt, der Präsident kennt trotzdem kein Erbarmen. Mit aller Macht schützt er sich und sein Gefolge gegen jede Art von Widerstand. Da werden soziale Netzwerke gekappt, Demonstranten niedergeknüppelt, Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht. Als Tourist bekommt man nur in Abständen die Veränderungen mit.

Christiane Schlötzer spricht mit Aktivisten vom Gezi-Park, saugt „den Rest der Türkei“ in sich auf, schlürft Kaffee, spricht mit Opfern eines Grubenunglücks und zeigt die miserablen Sicherheitsvorkehrungen auf, die nicht minder schlecht wie die Lehren aus dem Unglück sind. Auch die Verbindungen Deutschlands zum Gemetzel an den Armeniern, das AKP-Chef Erdoğan immer noch als Völkermord anerkennt, findet Eingang ins Buch.

Die „Lesereise Türkei“ ist kein Buch mit Ratschlägen á la „das müssen Sie gesehen haben“. Es ist vielmehr wie in einem Kaffeehaus: Man sitzt beisammen und unterhält sich. Leise klingen im Hintergrund orientalische (oft auch moderner Türk-Pop) Melodien. Die Autorin lebte lange in Istanbul. Sie weiß wie es ist hier zu leben, kennt die Menschen und ihre Kultur. Und nun auch der Leser. Zumindest besser als zuvor.