Leichendieb

All das Leid der Welt ist soweit weg für den Erzähler. Terror, Elend, Verwahrlosung, Gewalt – weit weg von seinem Leben. Und außerdem ist Sonntag. Angeln ist zwar weg der Laichzeit nicht erlaubt. Aber raus in die Natur, in die Ruhe – das kann ihm keiner verbieten. Das eine oder andere Bierchen trägt dazu bei sich träge zu fühlen. Sulamita zu Hause kümmert sich um die Kinder. So was grenzt schon fast an Glück.

Und so sitzt er im Grünen, lauscht dem Nichts des Sonntags. Bis ein Brummen, ein Motorengeräusch seine Aufmerksamkeit erregt. Der laute Knall, die Rauchsäule lassen ihn all das erlebte Gute prompt vergessen. Das war’s dann wohl mit der Ruhe am Sonntag! Und nicht nur am Sonntag … Denn nun macht er sich auf dem Weg nachzuschauen. Er watet, er schwimmt zu dem Wrack und sieht die klaffende Wunde am Kopf des Piloten und einzigen Menschen an Bord. Die beruhigenden Worte, dass alles gut werde, helfen nicht viel – der Pilot stirbt in seinen Armen. Ihm schießt durch den Kopf, dass der Mensch an sich nicht gut sei. Denn Gelegenheit macht Diebe. Die Uhr ist nur ein Zubrot im Vergleich zu dem, was sonst noch entdeckt: Ein Päckchen wie aus einem Film. Luftdicht verpackt. Viel Klebeband drumherum, um es vor Feuchtigkeit zu schützen. Ein in zahllosen Filmen geschulter Kennerblick, ein Schnitt, eine Zungenspitze probiert, Taubheitsgefühl: Alles klar – Kokain. Das ist mehr wert als eine goldene Uhr. Wenn man es an den Mann bringen kann. Das trainierte Kaufmannsauge füllt die Päckchen im Kopf schon ab. Ein roter Stern auf jedes Päckchen. Niedriger Preis. Und im Handumdrehen sind ein Kilo und einhundert Gramm reinstes Kokain verkauft. Und sein Neustart in Corumbá läuft so wie er es will. Die Polizei schläft heute Nacht in seinem Arm, in Person von Sulamita. Das sollte also auch nicht das Problem sein. Doch es kommt alles ganz anders. Denn einfach so in einen etablierten Markt einsteigen (und vor allem dann auch wieder „einfach so“ auszusteigen) ist unmöglich – das erzählt ihm seine „Informantin“ bei der Polizei. Und wenn man dann noch ein törichten Fehler begeht, in dem man beim Vater des toten Piloten arbeiten will und ihm anonym den Tod des Sohnes mitteilt … besonders, wenn der Leichnam verschwunden ist … ja, dann … dann sieht man sich mitten in einem Film wieder, in dem man unfreiwillig die Hauptrolle spielt. Jetzt muss er zum Helden werden. Vorerst ist er nur ein Leichendieb.

Patrícia Melo krallt sich mit diesem Buch jeden Leser, der die erste Zeile zum Anlass nimmt weiterzulesen. Immer tiefer schlägt sie ihre Krallen ins Fleisch der Neugier und lässt ihn nicht mehr los. Die Aussicht, dass es bis zur letzten Seite keine Lesepause gibt, spürt man erst, wenn man das Buch wieder zuklappt. Doch Vorsicht! Man wird es vielleicht noch einmal lesen. Und dann schnappt die Falle erneut zu!