Jeder geht für sich allein

Momoko war immer die brave Frau an der Seite ihres Mannes. Der ist mittlerweile nicht mehr bei ihr. Auch die Kinder haben das Haus schon längst verlassen. Momoko ist 74. Einmal im Leben hat sie den Ausbruch gewagt. Damals, vor einem halben Jahrhundert, als sie das elterliche Dorf im Nordosten Japans verließ. Raus aus dem Trott. Die Einöde hinter sich lassen. Der Perspektivlosigkeit die Stirn bieten. Rein in ein neues Leben voller Aufregung und Abenteuer.

Es wurde Tokio. Die Metropole bereitete sich auf die Olympischen Spiele vor. Das war 1964. Doch so aufregend war es dann doch nicht. Die Träume machten dem Alltag Platz. Die Kinder wurden geboren. Ihr Mann brachte das Geld nach Hause. Die Mitte war von nun an ihr Zentrum. Das Haus mitten im Viertel. Nicht zu weit oben auf dem Berg, nicht unten im Tal. Links und rechts Nachbarn mit denen sich kaum trifft.

Heute sind der Postbote und der Zeitungsausträger fast schon die einzigen Kontakte, die sie pflegt. Die Mäuse in ihrem Haus werden immer agiler seit ihr Hund, der sie lange Jahre begleitete, verstorben ist. Sie stören nicht. Die Geräusche, die sie machen, vernimmt Momoko. Mehr aber auch nicht.

Doch seit einiger Zeit scheint ihr die Erinnerung immer öfter ein Schnippchen zu schlagen. Oder vielmehr sich in den Vordergrund zu drängen. Mit ihm einher geht der Dialekt ihrer Kindheit. Ein Zeichen von Rückbesinnung. Bisher hat sie sich in Büchern Wissen angeeignet, das sie in einem Heft niederschrieb. Es war ihre Flucht aus der Einsamkeit.

Momoko ist keineswegs verrückt wie man vermuten möchte als sie Stimmen vernimmt. Sie weiß, dass sie es ist, die zu ihr spricht. Doch immer wieder, immer öfter sprechen diese Stimmen im Dialekt ihrer Heimatregion mit ihr. Sie bringen Momoko dazu sich zu erinnern. Wie es war als sie in die Hauptstadt kam. Wie es war Mutter zu werden. Wie es war an der Seite ihres Mannes zu stehen. Sie zwingen sie aber auch darüber nachzudenken, was fehlt.

Chisako Wakatake geht mit dem Leser und ihrer Momoko einen Stück des Weges gemeinsam. Der Dialekt Momokos ist in der deutschen Übersetzung – und man muss ihn ebenso übersetzen wie das Hochjapanisch ins Hochdeutsch – eher dem Dialekt des Erzgebirges und des Vogtlandes ähnlich. Es dauert ein paar Seiten bis man sich an die raschen Wechsel in der Sprachfarbe gewöhnt hat. Aber dann ergießt sich ein Schwall voller Poesie und Nostalgie über den Leser. Momoko ist keine Rebellin. Sie ist eine ganz normale Frau, die den Regentropfen auf der Fensterscheibe mehr abgewinnen kann als so manch anderer. Sie lebt zurückgezogen allein mit ihren Gedanken. Das Sprachgefühl und die penible Übersetzung machen diesen kleinen Roman zu einem großen Stück Literatur.