Ich und der Andere

Immer wenn ein Jubiläum eines Künstlers ansteht, überschlagen sich alle mit neuen Enthüllungen aus seinem ach so lebhaften Leben. Meist geht es dabei um runde Geburtstage. Bei Jim Morrison, Leadsänger der Doors, beschränkt sich die Erkenntniswelle immer auf den runden Todestag. Am 3. Juli 2021 ist es vierzig Jahre her, dass er leblos in der Badewanne seiner Pariser Wohnung gefunden wurde. Die Umstände seines Todes sind unbekannt, ein Grund mehr Spekulationen immer wieder freien Lauf zu lassen.

In diesem Jahre – dem Jahr des 40. Todestages – wird die Fangemeinde, werden die Bücherregale allerdings um ein Buch bereichert, dass sich nicht dem skandalumwitterten Exzentriker widmet, sondern mit der Kraft der Phantasie dem Lizard King neues Leben einhaucht.

Späte Sechziger Jahre. Der Summer of love ist Schnee von gestern. Überall revoltiert man, es fliegen Pflastersteine, Konventionen werden immer stärker hinterfragt. Die Doors spielen noch nicht vor Massen in riesigen Hallen, die Charts sind noch weit entfernt. Wie immer ist James Douglas Morrison ein Nervenbündel bevor es on stage geht. Das Publikum giert nach der neuen Band, ist euphorisch und unsagbar laut. Und manche Dame im Saal macht dem ikonenhaften Adonis auf der Bühne mehr als nur schöne Augen, eine macht eindeutige Angebote. Und dann ist da dieser Typ. Der passt gar nicht ins Bild der mitgerissenen Zuschauer. Ein stiller Mann. Regungslos lauscht er den Klängen von John, Robby, Ray und Jim. Er macht sich sogar Notizen. Auf einem Rockkonzert! Sehr ungewöhnlich.

Aber was will man erwarten, wenn eine ungewöhnliche Band spielt. Und wenn dann auch noch so eine herausragende Persönlichkeit wie Jim Morrison sich endlich traut mit dem Gesicht zum Publikum zu singen, kann man davon ausgehen, dass ihm, dem fremde Gedanken näher sind als jedweder Mainstream, genau dieser eine Typ auffällt, der so gar nicht ins Bild passen will. Er nennt ihn Hölderlin. Nach dem deutschen Dichter.

Als Jim ein kleiner Junge war, konnte er seinen Vater, einen hochgedienten und dekorierten Offizier nur mit dem Lesen von Büchern beeindrucken. Eines davon war von Hölderlin. Ein Mann, der hundert Jahre vor der Geburt Morrisons starb und dessen Leben vom Tod beeinflusst war wie vom Leben selbst. Die Assoziationen, die Jim Morrison für sich selbst erstellte, sind nur ein Puzzlestück im Leben des brillanten Poeten.

Jim lässt sich auf den Sonderling aus dem Publikum ein. Er spricht mit ihm, lässt sich Ratschläge erteilen, verdankt ihm Songtexte. Zugegeben, nichts davon ist jemals so passiert. Es könnte aber so passiert sein. Jürgen Kaizik taucht tief in die Psyche des wilden Musikers ein. Ihn interessiert nicht (mehr) wann er wo welche Körperpartien bei Konzerten freigelegt hatte. Auch nicht die Exzesse, die Jim Morrison (zusammen mit seinem frühen Ableben im Alter von 27 Jahren – wie zuvor Brian Jones (wird gern in der Aufzählung übersehen), Jimi Hendrix und Janis Joplin) vermeintlich zu einer Legende machten. Jürgen Kaizik gibt Morrison eine Stimme, die der Musiker sicher gern angenommen hätte. „Ich und der Andere“ ist nicht die Kirsche auf dem Kuchen des Jubilars, es ist ein komplett neues Gebäck, das auf einem ganz anderen Tisch serviert wird.