Gestapelte Frauen

Diese eine Ohrfeige. Nur dieses eine Mal. Von wegen nur. Nur eine Ohrfeige – das ist es, was die junge Anwältin, die diese Geschichte erzählt zu neuen Ufern aufbrechen lässt. Nur eine Ohrfeige? Ohrfeige ja, aber „nur“? Es ist nicht nur eine Ohrfeige, es ist eine Ohrfeige. Amir hat sie ihr verpasst. Vielleicht nicht die stärkste Gewalttätigkeit, die ihr angetan wurde. Rein physisch. Aber die Auswirkungen sind noch nicht abzusehen. Sie will weg. Weit weg. So weit weg wie nur irgendwie möglich. Cruzeiro do Sul. Das ist der Ort, der am weitesten von São Paulo, ihrem Heimatort entfernt ist. Kein schöner Ort. Schon gar kein ruhiger Ort. Als Frau, in der Gegenwart … die Hölle wäre wahrscheinlich noch ein feuchtwarmes Plätzchen gegen diese Stadt im Nordwesten Brasiliens an der Grenze zu Peru. Ein nicht einmal wenig schmeichelhafter Ruf (vielmehr ein grauenvoller Ruf) eilt ihr voraus. Hier ist der Ort mit den meisten ermordeten Frauen.

Machismo, Hoffnungslosigkeit, Dummheit und Brutalität gehen hier einstimmig Hand in Hand. Und sofern es die Täter – Männer – betrifft, lässt es sich hier ganz gut aushalten. Das klingt hart, ist es auch. Patricía Melo nimmt in „Gestapelte Frauen“ kein Klischee aufs Korn, sie nimmt die steinharte Realität zum Anlass den Opfern der Realität in ihrem Roman eine Stimme zu geben.

Diese Anwältin, die vor der Ohrfeige von Amir geflüchtet ist – sie weiß, dass es wohl nicht bei dieser einen Ohrfeige geblieben wäre – und nimmt als Prozessbeobachterin an den Gerichtsverhandlungen teil. Ihre Kollegin Carla ist auch dabei. Sie recherchiert zur Gewalt an Frauen für ein Forschungsprojekt ihrer Kanzlei. Doch schon bald wird sie zum Objekt ihrer eigenen Forschung…

Die junge Anwältin taucht immer tiefer in die Geschichten der Opfer ein, die ihren Peinigern, ihren Mördern wenig bis gar nichts entgegenzusetzen hatten. Immer weiter zieht es sie in den Sumpf der Hoffnungslosigkeit. Sogar soweit, dass sie den Seelen der Verstorbenen näherkommt als so mancher Ermittler. In diesem Zustand zwischen den Welten geht sie weiter und weiter. Bis sie selbst ins Geschehen eingreift.

Zwischen den fiktiven Kapiteln streut Patricía Melo originale Meldungen über Morde an Frauen ein. In kurzen knappen Sätzen wird die Abscheulichkeit und Stringenz der Morde schnörkellos dargestellt. Starker Tobak für zartbesaitete Leser. Diese Meldungen sind unabdinglich für den Fortgang der Geschichte. Zwar ist jeder Fall ein Einzelfall mit einem Einzelschicksal verbunden. Dennoch scheint hinter diesen Taten ein System dafür verantwortlich zu sein. Diesem System hat die Autorin ihre Wortgewalt entgegenzusetzen. Einige Abschnitte werden viele vor den Kopf stoßen. Viele Gedanken werden in den Köpfen hängenbleiben. Wohl gemerkt nicht das ganze Land Brasilien steht hier am Pranger. Frauen und Männer bestehen zwar aus dem gleichen Gen-Material, aber da hören die Gemeinsamkeiten in den Augen mancher auch schon auf. Die Krone der Schöpfung erhebt mit aller Macht und Ungeduld Ansprüche, die man sich nicht erkämpfen kann. Dennoch werden sie eingefordert. Ohne Rücksicht auf Verluste. Die Direktheit der Worte erschreckt anfangs und überzeugt dann bis zur letzten Seite.