Geschichte eines Weißen

Wer mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren ist, kann sich im engmaschigen Elfenbeinturm leicht die Kauleiste ruinieren. Philippe Soupault wurde mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. Und trotzdem ist er früh angeeckt und hat sich so manches Mal gehörig die Zähne dabei verschoben.

1897 war es. Mitten im Fin de Siècle. Da wurde Philippe Soupault in Chaville bei Paris geboren. In seiner Ahnengalerie befinden sich große Männer, wie der Gründer von Renault, den er vortrefflich in „Ein großer Mann“ beschrieb. Die Bourgeoisie war sein Heimathafen. Doch Häfen haben eben auch die Angewohnheit, dass man hier nicht nur vor Anker gehen kann, sondern auch ablegen. Entdecker wollte er werden. Die weißen Flecke von den Landkarten mit Farbe füllen. Doch in Jugendjahren wurde es erst einmal Bad Ems. In Deutschland, beim Erbfeind.

Der Krieg brachte einen weiteren entscheidenden Einschnitt ins Leben des Mannes, der in diesem Buch mit dreißig Jahren zum ersten Mal Rückschau hält. Die Familie flieht aufs Land. Die verzerrten Fratzen der Soldaten sieht er nicht nur sprich- sondern wortwörtlich an sich vorbeiziehen.

Rene Deschamps ist sein Cousin. Es ist nicht das Blut, das sie verbindet, es ist ihre Leidenschaft für das Neue, das Unerwartete, das Verquere, das zwischen ihnen ein unzertrennbares Band bildet. Nur der Tod kann sie entzweien, was er auch tut. Doch die Begegnung mit Deschamps ist der Startschuss für Soupault. Kunst und ihre Auswirkungen auf sich selbst und andere gehören fortan zum Alltag. Der Bourgeoisie entkommen und sich selbst entwickeln, sich formen, neue Ideen entwerfen und umsetzen. Wenn Soupault zu diesem Zeitpunkt wüsste, dass er noch nicht einmal ein Drittel seines Lebens gelebt hat, wie hätte dann „Geschichte eines Weißen“ ausgesehen?

Mit dreißig Jahren beginnen die ersten Zipperlein, sagt der Volksmund. Bei Philippe Soupault zwickt und zwackt es im Gehirn. Er ist frei von den Zwängen der Familie. Seine Schriften werden dank der Fürsprache von Guillaume Apollinaire veröffentlicht, und nicht von eifrigen Händen dem Feuer übergeben.

Es ist erstaunlich wie aktuell dieses Buch, das nun schon seit fast einem Jahrhundert existiert, dank dem Wunderhorn-Verlag seit 1990 auch auf Deutsch, immer noch ist. Die Bourgeoisie in Frankreich ist schonungslos auf dem Weg an die Spitze. Nur heißt sie nun Elite. Keiner aus dem Umkreis von Präsident Macron ist dem System Eliteschulen entgangen. Seilschaften verbinden die einstigen Hoffnungsträger bei ihrer Abschottung gegen Unten. Kurz ist der Text, aber umso eindrucksvoller und aktueller. Wie würde Philippe Soupault seiner Heimat der Jetztzeit begegnen? Viermal so alt wie damals, als die Surrealisten ihn verbannten, obwohl er ihr erstes Werk zusammen mit André Breton schuf? Politisch korrekt vielleicht? Niemals! Anklagend? Vielleicht! Kämpferisch? Entlarvend? Bien sûr!