Geiseln

Irgendwann einmal hat man genug. Irgendwann einmal ist es einfach zu viel. Irgendwann einmal fügt man sich nicht mehr. Begehrt auf. Ergreift Partei. Wehrt sich. Übt Rache. Nimmt das Heft des Handelns in die Hand.

Bisher war Sylvie Meyer immer diejenige, die sich brav fügte. Alle Arbeiten wurden erledigt. Sie stieg in ihrer Firma auf. Sich beschweren oder gar aufbegehren entsprach nicht ihrem Naturell. Auch als sie ihr Chef bat die Kollegen zu bewerten, sie zu katalogisieren und in ein Rankingmuster zu zwänge, war es für Sylvie nur eine Arbeit, die sie machte. Das war einmal, Vergangenheit, Präteritum. Die Fünfzig hinter sich gelassen, vom Mann verlassen – die neue Sylvie ist eine gefährliche Frau. Nicht für jedermann, doch für die, die sie ausnutzen wollen, sich ihrer habhaft machen wollen, sieht’s nicht rosig aus, wenn sie eine rosige Zukunft haben wollen. Ein geschlagener Hund, beißt irgendwann einmal zurück. Und der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht. Nein, Sylvie lässt sich nicht mehr brechen. Ihr wird klar, dass all die Mühen, die Arbeit, die Eigeninitiative ihr niemals zu einem Dank verhelfen wird.

Sylvie wird lernen, dass lang anhaltender Schmerz selten Konsequenzen hat. Aber ein kurzer Impuls der Gewalt – da ist das Wort, das sie scheinbar nicht kennt, oder hat sie es nur verdrängt? – hat eine lang anhaltende Wirkung. Sie kann sich wieder einmal fügen. Sie kann auch in die Offensive gehen. Sie weiß, dass Frauen den Schmerz besser aushalten als Männer. Sylvie ist eine Frau. Eine starke Frau. Sie erträgt vieles, aber nicht alles.

Nina Bouraoui spielt gekonnt mit dem Begriff Gewalt. Mit den ersten Zeilen lässt sie Sylvie mit dem Begriff Gewalt fremdeln. Sie ist präsent, doch niemals nah. Sylvie will nicht verletzen, sie will ja schließlich auch nicht verletzt werden. Dennoch ist die Gewalt immer da. Auch wenn Sylvie es (bisher) immer verdrängt hat. Deswegen ist sie noch lange nicht schwach. Als sie ihren Chef in ihrer Gewalt hat, spürt sie die ihr verliehene Macht. Verliehen, das ist es! Die Macht, die mit der Gewalt einhergeht, ist nur geliehen. Irgendwann ist sie passé.

Es sind nicht die Gewaltfantasien, die „Geiseln“ zu einem außerordentlichen Buch machen. Es sind vielmehr die Lücken, die der Leser selbst füllen darf, die dem Buch die Größe angedeihen lassen. Ihre Hauptfigur ist größer als sie es sich vorstellen kann. Sylvie sonnt sich nicht im Gefühl des Triumphes über den Mann, der sie jahrelang unterdrückt hat, indem er ihr anscheinend Macht verlieh. Ihre Selbsterkenntnis ist ihr Lohn genug.