Ein wenig Glück

Ein wenig Glück

Ein gefährlicher Titel, ein gefährlicher Plot! Nur allzu leicht gerät dieses Buch in den Geruch einer Schnulze. Frau macht folgenschweren Fehler  – flieht – kommt zurück – hat die Chance dem Sohn alles zu erklären. Als deutsche Fernsehproduktion mit Veronika Ferres in der Hauptrolle. In der Fernsehzeitschrift als solides Drama mit vorhersehbaren Wendungen beschrieben.

Aber das ist alles Spekulation, die mit zwei Worten vom Tisch sind: Claudia Piñeiro! Denn sie ist die Autorin, und ihr Name steht für Qualität. Wer das Buch zum ersten Mal liest, wundert sich. Denn die Geschichte ist nicht gerade neu. Auch benutzt Claudia Piñeiro keine ausgefallen Worte (außer vielleicht Evaluierungsgespräch, aber das ist nur der Aufhänger für eine grandios erzählte Geschichte) oder gewagte Satzkonstruktionen. Nein, alles ganz normal. Das ist das Geheimnis der Autorin. Keine Auffälligkeiten, aber die richtige Dosis an der richtigen Stelle. Dieses Buch lässt keinen kalt!

Mary, wie sie sich mittlerweile nennt, wohnt in Boston. Ihre große Liebe Robert ist verstorben. Auch als Reminiszenz an Robert führt sie im Namen einer Eliteschule Gespräche über eine Partnerschaft in ihrer argentinischen Heimat.

Schon lange vor ihrem Abflug kommen die Geister der Vergangenheit zu ihr zurück. Damals, als sie am Bahnübergang stand, Schranke geschlossen, kein Zug weit und breit. Und sie einfach los fuhr. Mit verheerenden Folgen. Flucht war für sie damals der einzige Ausweg. Die Anfeindungen und die Scham trieben sie davon, weit weg. Sie ließ auch ihren Sohn zurück…

Der lebt noch. Weiß kaum noch was von damals. Damals – das klingt so weit weg und ist doch so nah. So nah, dass es Mary an den Schreibtisch treibt. Doch das Blatt bleibt weiß. Anfangs. Was nun folgt, ist eine literarische Meisterleistung. Statt eine verzweifelte Frau zu skizzieren, die tränenaufgelöst nach Entschuldigungen sucht, lässt Claudia Piñeiro Mary kämpfen.

Wer schon mal in einer ähnlichen Situation war, nimmt „Ein wenig Glück“ als Bibel zur Selbstheilung zur Hand. Garantiert! Die Einfachheit der Mittel und die daraus resultierende Intensität der Worte erschlagen den Leser immer wieder. Stück für Stück legt die Autorin die Ereignisse von damals aufs Tapet. Natürlich hat Mary damals einen Fehler gemacht. Das weiß sie. Das weiß auch der Leser. Anschuldigungen? Keine Spur. Gut so. Denn Mary hat gelitten. Wohl auch genug gelitten. Übermut? Fehlanzeige. Mary ist erwachsen, hat sich mit sich selbst auseinandergesetzt. Robert war ihr immer eine Stütze, brachte ihr mit schlafwandlerischer Sicherheit die richtigen Bücher.

„Ein Wenig Glück“ ist eine Hommage an die Kraft der Bücher. Sie können vielleicht nicht heilen, jedoch Schmerzen lindern. Mary hat das in den vergangenen Jahren immer wieder erfahren dürfen. Und so gibt es nur eine einzige Lösung: Ihre Erinnerungen niederschreiben. Und da kommt der Kunstgriff der Autorin: Hier ist das Buch zu Ende. Was soll man sich nun wünschen? Eine Fortsetzung oder eine Ende á la Michael Haneke, bei dem der Leser selbst aktiv wird? Wie auch immer sich Claudia Piñeiro entscheidet, es wird (oder bleibt) großartig!