Drei Uhr morgens

Kein Fußball, keine Kontaktsportarten, kein Kaffee, kein Alkohol, ja nicht einmal Mineralwasser mit Sprudel – für einen Jungen, der die neunte Klasse besucht nicht das, was man sich als Paradies vorstellt. Doch Antonio muss sich fügen. Schon als er jünger war, nahm er ab und zu die Geräusche, die ihn umgaben extrem nachhaltig wahr. Nun hat er die Diagnose: Epilepsie.

Papa wohnt nicht mehr mit Mama und Antonio zusammen. Doch nach dem letzten Anfall und dem anschließenden Krankenhausaufenthalt legt sich der Erzeuger mächtig ins Zeug. In Marseille soll es einen Arzt geben, Professor Henri Gastaut, der auf dem Gebiet der Epilepsie-Forschung bahnbrechende Erkenntnisse verzeichnen kann. Durch Zufall ist sogar in wenigen Tagen ein Termin bei ihm frei. Zum ersten Mal nach zig Jahren reisen Antonio, Mama und Papa gemeinsam. Ein einmaliges Unternehmen. Die Untersuchungen stören Antonio kaum, sie führen sogar zu einem Ergebnis. Nur eine leichte Epilepsie. In drei Jahren sollen sie wiederkommen. Und Gastaut hat sogar noch mehr gute Nachrichten. Antonio scheint künstlerisch begabt zu sein. So wie van Gogh, Dostojewski und Poe. Und er darf wieder Getränke mit Sprudel zu sich nehmen. Und Fußball spielen.

Die Jahre vergehen. Antonio lebt weiterhin mit Mama zusammen. Papa woanders. Schneller als gedacht, vergehen die drei Jahre. Statt vier sind es nur zwei Tabletten pro Tag. Als der Termin bei Professor Gastaut steht, ist die Krankheit Normalität, die man eh nicht ändern kann. Antonio verzieht das Gesicht als er dieses Mal allein mit Papa nach Marseille reisen soll. Und so einmalig der erste Trip zu Dritt gen Marseille war, so ungewöhnlich ist Professor Gastauts Methode, um festzustellen, ob Antonios Epilepsie bald schon der Vergangenheit angehören wird: Er soll zwei Tage und zwei Nächte wach bleiben – dafür gibt er ihm Tabletten. Die bisherigen Tabletten bleiben in der Verpackung.

Und nun soll der achtzehnjährige Antonio, der sein halbes Leben mit Tabletten und ohne Vater verbracht hat, achtundvierzig Stunden mit dem Mann, der ihm fremd und nah zugleich ist, in einer Stadt am Leben teilhaben, die ihm nicht minder fremd ist?!

Antonio staunt nicht schlecht wie nah sich zwei Menschen sein können, die sich kaum kennen. Ohne Scheu wechseln Fragen und Antworten den Besitzer. Er lernt seinen Vater kennen, erfährt mehr über sich und das Leben im Allgemeinen als er sich je vorstellen konnte. Unter die Restaurantbesuche, Jazzkonzerte (inklusive einer Einlage seines Vaters), nächtlichen Streifzügen durch das finstere Marseille der Achtzigerjahre mischt sich die Normalität. Wenn der Vater mit dem Sohne …

Gianrico Carofiglio lässt zwei Menschen zwei Tage miteinander leben, um für ihr gesamtes folgendes Leben miteinander verbunden zu sein. Der eigentliche Grund – der Krankheit Herr zu werden – tritt allmählich in den Hintergrund bis das unvermeidliche Ende immer näher rückt. Das ist der traurigste Moment beim Lesen.