Die Stadt der Anderen

Die Pappe unterm Gesäß, das Gold vor Augen. So lebt eine Gruppe von Menschen in der brasilianischen Metropole São Paolo. Ihre Heimat ist die Praça da Matriz. Wer hier lebt, lebt schon lange nicht mehr. Elend, Armut, Dreck umgibt sie wie die Anderen der Reichtum. Nächtliche Streifzüge über die Mauer in die andere Welt gehören zum Alltag der Kampf ums Überleben. Chilves, Jéssica, Dido mit seinem Hundewelpen und Iraquitan, der Schriftsteller sowie Farol Baixo, den alle nur den Lügner nennen, weil er so manche Geschichte auf Lager hat, sind die Vergessenen der Stadt.

Ihren Lebensmut, den Drang zu (Über-) leben, haben sie aber noch lange nicht aufgegeben. Denn das Leben ist jeden Tag ein Abenteuer, das bewältigt wird. Mit allen Mitteln.

Während Iraquitan seine Gedanken in Worte fasst, gehen Chilves und Jéssica auf Beutezug. Dido erfreut sich, wenn es seinen vierbeinigen Freunden gut geht. Was oft als „sie sind trotzdem glücklich“ verklärt wird – was einen unfassbaren Zynismus darstellt – ist das pure Leben.

Patricia Melo umkreist nicht den Ort des Elends. Sie blickt erst recht nicht auf ihn und seine Bewohner herab. Sie sticht ins Herz dieser Kommune, die keine Barrikaden errichtet, sondern sie niederreißt. Und wenn die Barrikaden doch Bestand haben, dann sind sie Aussichtspunkte auf das, was nie erreicht werden kann. Zumindest nicht auf legalem Weg.

Der soziale Abstieg ist an der Praça da Matriz nicht mehr vorhanden. Es gibt keinen Weg nach Unten, nur den nach vorn gerichteten Blick.

Polizeigewalt und Willkür stehen auf der Habenseite. Genauso wie die gezielten Hilfsaktionen von Organisationen, die hier aktive Hilfe leisten. Mal ein Zelt als Unterkunft, mal ein offenes Ohr – Hilfe gibt es. Doch sie sind nur Tropfen auf dem heißen Pflasters der Stadt.

„Die Stadt der Anderen“ bewegt immer mehr, je öfter man die Seiten umblättert. Ohne falsche Anteilnahme findet man sich in einer Umgebung wieder, in der das eigene Leben (des Lesers) hinter dem Vorhang der Realität verschwindet. Patricia Melo wurde in São Paolo geboren. Ihre Recherchen zu diesem Buch brachten sie mit Menschen zusammen, denen das Schicksal derer, die am Rande der Gesellschaft leben müssen, nicht egal ist. Sie erhalten ein Gesicht und eine Stimme. Und sie haben Sehnsüchte!

Eine Abenteuertour auf dem Bodensatz der Gesellschaft wirbelt viel Staub auf. Das Staubgewand ist nur blickdicht, wenn man die Augen verschließt. Patricia Melos sanfter Handkuss wirbelt diesen Wirbelwind noch einmal kräftig durcheinander. Hier ist Bewegung drin! Immer wieder liest man verblüfft wie viel Hoffnung in dieser scheinbar hoffnungslosen Stadt der Anderen aufkeimt.