Die Sekte der Engel

Palizzolo, Sizilien, 1901. Siebentausend Einwohner werden von einer Handvoll Barone und Grundbesitzer regiert. Und einem Mafioso, dessen Namen aber keiner aussprechen will. Ach, was soll’s, is ja nur Fiktion: Sein Name ist zù Carmineddru. Man lebt so vor sich hin, regelt in erlauchtem Kreis, was zu regeln ist. Nur Matteo Teresi, der Anwalt, passt nicht so recht ins Stadtbild. Seine aufwieglerischen Schriften in seiner von ihm verlegten Zeitschrift stören das Gleichgewicht in den Gemeinden. Allen Pfarrern, allen ehrenwerten Leuten ist er ein Dorn im Auge. Dem kleinen Mann hingegen ist er ein Segen. Ein Segen, den sie von höherer Stelle niemals zu erhoffen wagten, gingen sie auch alle noch so fromm und regelmäßig in die Kirche.

Nun begab es sich zu dieser Zeit – ach ja, so ganz erfunden ist die Geschichte gar nicht, Andrea Camilleri bedient sich ein weiteres Mal in der Geschichte seiner sizilianischen Heimat – dass ein wenig Aufruhr Palizzolo ergriff. Die Cholera verbreitet sich schlagartig. Viele verlassen ihre eigenen vier Wände. Bis sich herausstellt, dass eigentlich gar nichts passiert ist, um eine derartige Stadtflucht auszulösen. Aus Respekt und aus Berufsethik hat der Doktor, der plötzlich mehrere gleichlautende Diagnosen stellen musste, den Mund gehalten über die wahren Gründe seiner Hausbesuche. Auch gegenüber den Familien, die wiederum aus Unwissenheit das Gerücht eines Choleraausbruchs in die kleine Welt Palizzolos setzten. Der wahre Grund ist eigentlich ein erfreulicher. Gleich mehrere junge Damen sind schwanger. Und das seit zwei Monaten. Alle zur gleichen Zeit schwanger geworden. Alle jungen Damen schweigen sich über die Vaterschaft aus. Da stimmt was nicht! Doch was?

Montagnet, eine Ermittler aus dem Norden, einer nicht minder verlassenen Gegend wie Palizzolo, trifft auf eine Horde Verdächtiger und schweigsamer Wissender. Auf Mörder und Ermordete. Auf Vergewaltiger und Vergewaltigte. Alle schweigen und versuchen nur die Ordnung im Ort wieder herzustellen. Und dann noch der Aufwiegler Teresi, der seine politischen Ambitionen verfolgt und dabei in ein Wespennest sticht, das weder der Leser noch der Ermittler sich vorzustellen wagen. Denn die wahren Schuldigen dienen …

Andrea Camilleri lässt kein gutes Haar an den Beteiligten. Sie handeln alle unter einem anderen Vorwand. Eigene Interessen weisen alle weit von sich. Doch tief im Inneren – allerdings nicht tief genug, dass man es nicht doch noch erkennen kann – tut sich ein Höllenschlund auf. Bei aller Abscheu schafft es Camilleri dennoch, dass dem Leser nicht schlecht wird. Das liegt zum Einen an der exakten Faktenlage, zum Anderen an der ihm eigenen Art zu schreiben.