Die schiere Wahrheit – Glauser und Simenon schreiben einen Kriminalroman

Es ging ein Aufschrei durch die Kinolandschaft als 1995 endlich zwei Ikonen des method acting endlich in einer gemeinsamen Szene die Leinwand erschütterten. In „Heat“ saßen sich Robert De Niro und Al Pacino in einem Restaurant gegenüber und zollten sich gegenseitig Respekt, nicht ohne dem Andern zu drohen, dass, wenn man ihn fängt das Spiel ein für allemal aus ist.

Zwei Publikumslieblinge im Wechselspiel der Gefühle – das gab es schon immer: Marlon Brando und Martin Sheen in „Apocalypse Now“, Mick Jagger und David Bowie singend beim „Dancing in the street“ und nun das Kribbeln beim Lesen dieses (leider fiktiven) Buches, in dem Friedrich Glauser zusammen mit Georges Simenon einen Kriminalroman schreiben. Nicht DEN Kriminalroman, auch nicht den ultimativen, sondern einfach nur einen Krimi, der dem Wesen des Genres das letzte Geheimnis entlockt. Jeder Gangster, und sei er auch noch so ausgebufft, streckt die Waffen, wenn er als Gegner Inspector Maigret und Wachtmeister Studer im Nacken spürt. Diese beiden Haudegen revolutionierten den Kriminalroman. Sie zogen Millionen (nicht nur ein paar, sondern viele Millionen!) Leser in eine Welt, die so fremd ist, die Spannung erzeugt, die bei aller Ferne so nahbar gezeichnet wurde.

Gleich zu Beginn der Schock. Maigret wird nicht in Erscheinung treten. Er ist in Rente und genießt sie mit seiner Frau. Stattdessen trifft an der Atlantikküste Amélie Morel auf Wachtmeister Studer, der die Berge hinter sich ließ und nun die Weite des Meeres als Horizont begreift. Amélie Morel ist Krankenschwster – solche Fähigkeiten sind unerlässlich, wie Simenon meint. Und Amélie Morel ist unnachgiebig, mit dem Biss eines Terriers.

Simenon und Glauser lernen sich durch Doktor Schöni kennen. Glauser kennt Simenon, Simenon kennt Glauser nicht. Sie sind sich sympathisch. Und ehe sie sich versehen, sind sie mitten im kreativen Schaffungsprozess. Denn – und schon ist man mittendrin – Simenon hat ein Leiche am Strand aufgedeckt. Glauser kramt tief in der Vita des Toten und findet einen Amerikaner, der Schweizer Wurzeln hat. Da muss unbedingt Wachtmeister Studer her. Befehl ist Befehl, und schon ist der störrische Kriminalist, der sich im Leben niemals als solcher bezeichnen würde, vor Ort. Amélie Morel, Krankenschwester mit einem klitzekleinen Vermögen auf Strandurlaub, darf nun dem weltberühmten Maigret vertreten. Bei einem Roman dieser Größenordnung wird nicht weiter auf die Handlung eingegangen, das zerstört die Vorfreude. Nur so viel: Simenon und Glauser oder Glauser und Simenon tüfteln wie überspannte Kinder bei einer Party an ihrer gemeinsamen Geschichte. Was ist Wahrheit? Wie konnte das passieren? Gibt es die einzig wahre Wahrheit? Das sind die Fragen, die sich beiden so unterschiedlichen Männer stellen. Ihre Figuren sind Segen und Fluch gleichermaßen. Sie bieten ihnen Raum sich auszudrücken, andererseits sind die Autoren fest im Korsett der Erwartungen eingeschnürt. Ist dieser gemeinsame Roman der Schlüssel in die schriftstellerische Freiheit?

Glauser und Simenon sind sich nie begegnet. Es hätte aber sein können. Der Eine war schon zu Lebzeiten das Lieblingskind der Leser und der Kritik mit akuter Neigung zum Pfeiferauchen. Der Andere ein verkanntes Genie mit veritablen Drogenproblem. Ursula Hasler darf man als Expertin für beide Romanschreiber bezeichnen. Stil und Vorgehensweise, Denkart und Kombinationsgabe der beiden unterschiedlichen Ermittler sind ihr in Fleisch und Blut – und vor allem in die Schreibfeder – übergegangen, dass man meint hier die Sensation des Krimi-Jahrhunderts vorzufinden. Legt man diesen Roman ohne jegliche Info einem versierten Krimipublikum vor, wüsste die Leserschaft nicht auf Anhieb zu sagen wer den Roman geschrieben hat. Glauser oder Maigret? Und das will doch jeder Krimileser: Selbst recherchieren und dem Täter auf die Spur kommen. Und wer meint nach der Lektüre von Dutzenden von Romanen aus den Federn von Simenon und Glauser zu wissen wie man einen Täter enttarnt und fängt, der wird am Ende eines Besseren belehrt. Versprochen!