Die Narayama-Lieder

„Es ist ein Brauch von Alters her, wer siebzig ist, geht auf den Berg“, naja, ganz so salopp sollte man diesen Brauch nicht nehmen. Und schon gar nicht dieses kleine Büchlein. Denn es birgt einen kleinen Schatz in sich. Den einer wunderbaren Legende.

Orin ist mittlerweile 69 Lied, vor zwanzig Jahren hat sie ihren Mann verloren. Ihr Sohn Tatsuhei und ihre vier Enkel sind ihr Lebenselixier. Dass auch Tatsuhei schon Witwer ist, betrübt die Frau. Mehr noch als die ewigen Sticheleien ihres ältesten Enkels. Bald schon steht Orins siebzigster Geburtstag an. Ein bedeutsames Datum in den Bergen Japans, wo Orin und ihre Familie leben. Denn dann ist der Tag gekommen, an dem sie die Reise zum Narayama antritt … und niemals zurückkehren wird. Ganz nüchtern betrachtet, werden die Alten auf dem Berg ausgesetzt und man erinnert sich nicht mehr an sie. Die Dorfgemeinschaft reguliert so ihr Überleben.

Aber sind wirklich die reinen Fakten. Shichiro Fukazawa macht daraus eine rührende Geschichte. Orin ist beseelt von dem Gedanken ihrem Sohn eine Frau an die Seite stellen zu können. In dem anderen Dorf – hier oben gibt es keine Namen für Dörfer – gibt es eine Frau, deren Mann erst vor Kurzem gestorben ist. Die auferlegte Trauerzeit von neunundvierzig Tagen muss überstanden werden, dann lädt man die Frau zu sich ins Haus. Und wenn man sich einig geworden ist, bleibt sie. Das Leben kann so einfach sein! Muss es auch! In der Dorfgemeinschaft herrschen strenge Regeln. Es gibt kein Geld, jeder weiß, was der Andere im Speicher hat, und man haushalten können mit dem, was man hat. Die Winter sind lang, hart und unnachgiebig. Völlerei ist unangemessen und führt unweigerlich zu Engpässen. Um die Dorfgemeinschaft herum sind nur Berge. Die so genannte Zivilisation ist geographisch wie gedanklich unendlich weit weg. Nur wenn das Narayama-Fest ansteht, kommen alle zusammen. Die Vorbereitungen schweißen zusammen. Der Abschluss des Festes ist bitter. Denn wieder wird jemand die Gemeinschaft verlassen…

Shichiro Fukazawa schildert in poetischen Bildern eine fremde Kultur. Eine Kultur, die funktioniert. Das darf man nicht vergessen. Zusammenleben heißt Sicherheit. Und die steht über allem. Da bleibt wenig Raum zur Selbstverwirklichung wie man sie in den Städten versteht. Wenn die Lieder der Legende von Narayama erklingen, weiß Orin, dass es bald schon so weit ist, die Reise anzutreten. Es bleibt ihr nicht viel Zeit, um ihren Sohn in Sicherheit zu wissen. Und wir Leser dürfen diese intensive Zeit hautnah miterleben.