Der Mann, der die Frauen-Europameisterschaft gewann

Achtung, das ist ein Roman! Geschrieben in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts, angesiedelt Ende der Dreißigerjahre des vergangenen. Schon allein die zeitliche Einordnung macht das Thema – und erst recht der Titel – zu einem spannenden Kapitel.

Wer heute die Ergebnislisten von Sportereignissen sich anschaut, wird mit ein paar Klicks die Brisanz der Story erkennen. Wien 1938. Im Hochsprung triumphiert die Ungarin Ibolya Csák mit übersprungenen 1 Meter 64. Doch im Stadion darf sie noch nicht jubeln. Denn jemand anderes ist sechs Zentimeter höher gesprungen: Dora Ratjen. Weltrekord zur damaligen Zeit.

Zeitsprung. Zwanzig Jahre zuvor ist sich Heinrich Ratjen nicht sicher, ob er sich über einen Jungen oder eine Tochter freuen soll. Denn die äußeren Geschlechtsmerkmale sind nicht eindeutig zuzuordnen. Die Hebamme meint aber es sei ein Mädchen. So ist es protokolliert. Und so wächst Dora wie ein Mädchen auf, wird genauso wie zu dieser zeit üblich als Mädchen erzogen.

Wieder ein Zeitsprung zurück ins Jahr 1938. Im Zug gen Norden sitzt eine Person. Die Medaille aus Wien um den Hals gehangen. Weltrekord. Gold bei den Europameisterschaften der Frauen gewonnen. Doch ein mulmiges Gefühl umgibt sie. Viele Passagiere gaffen sie an. So richtig wissen viele nicht warum. Sie müssen einfach gaffen.

Passkontrolle. Die Frau mit der Medaille wird aus dem Abteil geführt. Hier stimmt was nicht. Das haben die Passagiere schon gewusst. Auch die Frau wusste es. Nur anders.

Petr Manteuffel beschränkt sich nicht auf die Faktenwiedergabe. Die ist so spärlich, dass ein Sachbuch mehr einem Heftchen denn einem Buch ähneln würde. Er webt ein dichtes Netz aus falschem Nationalstolz, Verweigerung, Verschwörung, blindem Gehorsam und Ränkespielen. Bekannte Namen treten auf wie Reinhard Heydrich, Statthalter von Prag und prominentes Opfer der Nazis in den eigenen Reihen, selbst Mitglied der Fechtermannschaft. Aber auch involvierte Ärzte – Hitlers Leibarzt, der selbst nicht frei von den Verlockungen der chemischen Industrie war – kommen zu Wort und schreiten zur Tat.

In diesem Netz ist der Leser gefangen. So unrealistisch alles klingen mag, so real war die Geschichte, die schlussendlich kaum wahre Sieger kennt. Was steckte hinter dem ganzen Theater um Dora Ratjen? Nur ein geheimer Plan, um mit aller Macht Gold zu erringen? Ein Sportwettkampf als Experimentierfeld für kommende Ereignisse? Der Roman kann keine Fragen beantworten. Aber er kann Fragen stellen. Und die sind es, die das Weiterlesen derart vorantreiben, dass man nach 160 Seiten erst einmal kräftig durchatmen muss.