Der Kuss

Jetzt wird auch noch dieser sinnliche Moment wissenschaftlich zerrupft?! Jein! Ja, es stimmt, Alain Montandon nimmt den Kuss unter die Lupe. Nein, er wird nicht zerrupft, sondern stilvoll unter die Lupe genommen. Kein erbsenzählender Kinsey-Report, der bei der Fortsetzung des Kusses seine Nase in alles reinstecken musste, sondern die literarische und kulturelle Erkundung kurz unter Augenhöhe. Versprochen! Es wird ein Fest für die Sinne!

Oscula, basia und suavia bezeichnen alle dasselbe, den Kuss. Und zwar den ritualisierten, den freundschaftlichen und den erotischen Kuss. Die Römer verstanden zu küssen. Beziehungsweise ihn einzuordnen (im wahrsten Sinne des Wortes) und zu benennen. Und dann liest man weiter. Der Kuss als Friedensbekundung (unter Staatsoberhäuptern) – man stelle sich vor in welche Orgie es ausartet, wenn wieder einmal ein G-20-Treffen stattfindet, wie in Hamburg. Die Synapsen spielen verrückt, wenn man sich das Begleitprogramm dann ausmalt, Rundgang auf Sankt Pauli etc…

Es gibt Orte auf dieser Welt, an denen das Küssen verboten ist. In Frankreich zum Beispiel. Ja, Frankreich! Dem Land, in dem das Küssen erfunden zu sein scheint. Gilt aber nur auf Bahnübergängen. Alles halb so wild. Wilder, fast schon ernst – das Gesetz wird aber wohl kaum noch angewendet –  ist es in einigen Staaten der USA, in denen ein Kuss nur eine Sekunde dauern darf (Maryland), oder drei (Rhode Island) oder fünf Minuten (Iowa). In Wisconsin muss die Zunge im eigenen Mund bleiben. Also Vorsicht bei der Wahl des Urlaubsziels! Im Pazifik wird noch richtig gebissen, bei den Papua. Die Aborigines teilen sogar den eigenen Schweiß mit den Fremden. Die Eskimo stupsen sich mit der Nase.

Die Untersuchung des Kusses kann also auch lehrreich und manchmal kurios sein bis hin zum Schmunzeln. Es besteht jedoch nicht die Gefahr, dass man nach der Lektüre des Buches zum Fachidioten wird. So wie manche Fachleute ihr Fachgebiet nicht mehr mit Abstand betrachten können, wird es sicher nicht bei jedem Kuss, den man bekommt oder gibt vorkommen, dass man ihn nun analysiert. Vielmehr wird man bewusster dem Gegenüber seine Ehrerbietung bekunden. Nicht jeder, der den Kopf des Anderen in die Hand nimmt und ihm einen innigen Kuss gibt, wird kurze Zeit später („wenn Mama nicht mehr unter uns weilt“) zum Mörder. Das Buch wird einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Bei denen, die viel küssen sowieso. Bei denen, die sich nach mehr Küssen sehnen ganz bestimmt. Und bei denen, die endlich mal geküsst werden wollen, regt es die Sehnsucht zusätzlich an.

Von Mundhygiene über Mundpropaganda bis hin zum Austausch von Flüssigkeiten leitet Alain Montandon den Leser durch die Kulturgeschichte des Kusses. Keine Angst vor dem großen Wort Kulturgeschichte, es war, ist und bleibt immer nur ein Kuss!