Dear Germany

Deutschland muss eine führende Rolle in Europa übernehmen. Gerade wegen seiner Geschichte, und besonders wegen der Verarbeitung dieser Geschichte. Der erste Teil dieser These ruft sicherlich die falschen Krakeeler auf den Plan. Die Erweiterung der These regt durchaus zum Nachdenken an. Und jetzt kommt’s: Die These kommt nicht etwa aus einem Hinterzimmer reaktionärer Sturköpfe, sondern von Lord Stephen Green. Er war von 2011 bis 2013 Handelsminister unter James Cameron und heute Politikberater, Zuvor war er Vorstandsvorsitzender bei HSBC, der größten Privatbank der Welt.

Lord Green liebt Deutschland, seine Sprache und seine Musik. Ein wenig gebauchpinselt kommt man sich vor, wenn man die ersten Seiten liest. Er führt dem Leser die Vorzüge der eigenen Kultur vor Augen – was man selbst als selbstverständlich hinnimmt, ist in seinen Augen das Besondere. In einem Land, das weniger demokratisch gefestigt ist, würden seine Thesen verbannt oder gar verbrannt werden. Der Autor wäre Anfeindungen ausgesetzt sein.

Margret Thatcher war es, die in den (deutschen) Wendejahren vor einem wiedererstarkten Deutschland warnte. Ihr war es suspekt und fremd, dass Deutschland wieder als eine Nation auftritt. Das Gleichgewicht, dass knapp ein halbes Jahrhundert die Geschicke in den Händen hielt (das Dreigestirn aus London, Paris und Bonn) hatte seine Aufgaben noch nicht vollends erledigt und nun sollte Deutschland nicht mehr nur eine Eckpunkt sein, sondern Eckpfeiler, um den sich Vieles drehen sollte und wird.

Lord Stephen Green macht dem – typisch deutschen – Zögerern Mut aus der Deckung zu kommen. Seit reichlich zehn Jahren, seit der Fußball-WM in Deutschland, ist es wieder en vogue stolz auf Deutschland zu sein. Das Stigma des falsch gelebten Nationalismus war auf einmal wie weggeblasen. Man schwenkte voller Freude wieder Schwarz-Rot-Gold, malte sich das freudestrahlende Gesicht in diesen Farben dicht und rief zaghaft, aber unüberhörbar den Namen des eigenen Landes. In Großbritannien ist der Union Jack mittlerweile zur Modemarke, zum unerlässlichen Accessoire geworden. Kaum eine Marke kommt ohne die Mixtur aus Georgs- und Andreaskreuz aus. Nun auch die deutsche Nation – Lord Green fasst den Begriff Nation weiter als die bloße geografische Ausdehnung Deutschlands. Doch blieb immer noch ein bitterer Beigeschmack bei dem Begriff Stolz. Zu viel Porzellan wurde in der Vergangenheit in Bezug auf den Stolz zerschlagen.

Und nun kommt ein Brite daher und sagt den Deutschen, dass Stolz nicht unbedingt mit Ablehnung und Hass gleichzusetzen ist, sondern wie jede Medaille zwei Seiten hat. Fahne hissen ist das Eine. Verantwortung zu übernehmen das Andere. Zu oft hören die falschen Leute auf die falschen Propheten – im Wahlkampf tönen die Fanfaren des Angriffs oft lauter als die der Veränderer. „Dear Germany“ ist ein Buch, das ernst genommen werden muss. Es einfach zu überfliegen und nur die die Parolen fehlzuinterpretieren, wäre Öl ins Feuer der alternativlosen Kritiker zu gießen. Und es wäre ein Affront gegen Lord Green und seine Ideen. Hat sich das Staunen über diese Gedanken eines Engländers über die Rolle Deutschlands in Europa erst einmal gelegt, ist der Weg frei diese Gedanken zu überdenken. Manches muss man mehrmals lesen, um den wahren Beweggrund zu erkennen. Doch wie so oft im Leben, lohnt sich die Wiederholung, denn nicht alles ist beim ersten Mal offensichtlich. Nur eines darf man nicht: Dieses Buch ins Gegenteil verkehren. „Dear Germany“ ist keine Nationalismusfibel, die gegen etwas ist. Dieses Buch regt zum Nachdenken an.